Verfahrensgang
OLG München (Beschluss vom 02.06.2006; Aktenzeichen 18 U 2358/06) |
LG München I (Urteil vom 18.01.2006; Aktenzeichen 9 O 14979/05) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 2. Juni 2006 – 18 U 2358/06 – und das Endurteil des Landgerichts München I vom 18. Januar 2006 – 9 O 14979/05 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht München I zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
1. a) Der Beschwerdeführer hält aus religiöser Überzeugung Abtreibungen für verwerflich. Er pflegt Protestaktionen gegen Frauenärzte zu veranstalten, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, indem er sich in der Nähe der jeweiligen Arztpraxis auf der Straße aufstellt, um durch Plakate und Flugblätter auf seine Haltung zur Abtreibungsfrage aufmerksam zu machen. Hierbei spricht er auch Passanten und Passantinnen, insbesondere solche, die er für mögliche Patientinnen des Frauenarztes hält, an und versucht sie zu einer Überprüfung ihrer Haltung zur Frage der Abtreibung zu bewegen. Mehrere dieser Aktionen waren bereits Gegenstand von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (vgl. nur BVerfGK 8, 89).
Im vorliegenden Fall hatte sich der Beschwerdeführer im Mai 2003 und erneut im April 2004 jeweils an einem Tag vor der Praxis des Münchener Frauenarztes Dr. M. (im Folgenden: Kläger) aufgestellt, der nach den Feststellungen der Gerichte seinerzeit im Rahmen seiner Berufsausübung Schwangerschaftsabbrüche vornahm und hierauf auch im Internet hinwies. Dabei verteilte der Beschwerdeführer Flugblätter, auf denen darauf hingewiesen wurde, der Kläger führe „rechtswidrige Abtreibungen durch, die aber der deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt”. Auch im Internet machte der Beschwerdeführer auf einer von ihm betriebenen Homepage den Kläger als Abtreibungsmediziner namhaft.
b) Nach erfolglosem vorgerichtlichem Unterlassungsverlangen nahm der Kläger den Beschwerdeführer bei dem Landgericht auf Unterlassung vergleichbarer Aktionen in Anspruch.
Mit dem hier angegriffenen Urteil vom 18. Januar 2006 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer antragsgemäß, es zu unterlassen, öffentlich, insbesondere durch Einträge im Internet, durch Plakate oder Flugblätter darauf hinzuweisen, dass der namentlich oder in anderer Weise identifizierbar bezeichnete Kläger Abtreibungen vornehme oder dass in seiner Praxis Abtreibungen vorgenommen würden, und des Weiteren es zu unterlassen, Patientinnen des Klägers oder Passanten in einem Umkreis von einem Kilometer zu dessen jeweiligen Praxisräumen anzusprechen und wörtlich oder sinngemäß auf in der Praxis – insbesondere durch den Kläger – vorgenommene Abtreibungen hinzuweisen.
Mit seinen Demonstrationen im Mai 2003 und April 2004 habe der Beschwerdeführer rechtswidrig in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers eingegriffen mit der Folge, dass diesem der geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus § 823 Abs. 1, § 1004 BGB zustehe. Betroffen sei das berufliche Umfeld des Klägers, mithin die Sozialsphäre. Hier stehe ihm zwar kein so weitgehender Schutz zu wie bei Eingriffen in die Privatsphäre, doch seien bei schwerwiegenden Auswirkungen auf die Persönlichkeit, etwa bei Stigmatisierung oder sozialer Ausgrenzung auch Eingriffe in die Sozialsphäre unzulässig. So liege es hier. Indem der Beschwerdeführer Passanten, insbesondere mögliche Patientinnen des Klägers in unmittelbarer Nähe zu dessen Praxis in Gespräche über das Thema Abtreibung verwickle, um sie zu irritieren und von dem Besuch der Praxis abzuhalten, würdige er die berufliche Tätigkeit des Klägers insgesamt herab, obwohl diese legal sei. Überdies wähle er den Kläger willkürlich aus einer Vielzahl von Abtreibungsmedizinern aus und dränge ihn als Privatperson in eine von ihm nicht gewollte und nicht herausgeforderte Öffentlichkeit. Der Beschwerdeführer könne sich auch nicht darauf berufen, dass der Kläger selbst im Internet darauf hingewiesen habe, dass in seiner Praxis Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen würden. Durch diese bloße Information nehme der Kläger noch nicht zur Bewertung von Abtreibungen öffentlich Stellung oder beteilige sich an einer öffentlichen Diskussion hierüber.
Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers sei auch nicht durch das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Meinungsfreiheit gerechtfertigt. Der Beschwerdeführer habe die Tatsachenbehauptung, der Kläger führe rechtswidrige, aber erlaubte Abtreibungen durch, mit einer moralischen Bewertung des deutschen Abtreibungsrechts verbunden. Dass er dies gerade in Form einer Demonstration vor der Praxis des Klägers getan habe, falle zwar in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Allerdings rechtfertige dieses Grundrecht nur verhältnismäßige Maßnahmen. Die Beeinträchtigung Dritter durch eine Meinungsäußerung müsse zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein. Vorliegend habe der Beschwerdeführer zwar klargestellt, dass die vom Kläger vorgenommenen Abtreibungen nicht illegal seien. Jedoch greife er aus dem Tätigkeitsspektrum des Klägers einen Aspekt heraus und weise auf diesen isolierten Punkt öffentlich hin. Dadurch präsentiere er den Kläger als Repräsentanten der kritisierten Abtreibungspraxis, ohne dass dieser durch eigene Handlungen hierzu Anlass gegeben habe. Wegen der hierdurch erzeugten Prangerwirkung müsse die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers hinter das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers zurücktreten.
Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei auch deswegen unverhältnismäßig, weil der Beschwerdeführer das gesetzgeberische Schutzkonzept, das hinter den §§ 218 ff. StGB stehe, zu unterlaufen suche. Der Gesetzgeber habe erkannt, dass allein durch Repression Schwangerschaftsabbrüche nicht zu verhindern seien, und setze daher besonders auf das vertrauensvolle Zusammenwirken der Ärzte und Beratungsstellen mit den betroffenen Frauen. Hierfür sei indes unerlässlich, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin nicht durch das Dazwischentreten eines außenstehenden Dritten belastet werde. Da das Verhalten des Beschwerdeführers diese Vertrauensbasis störe, sei es selbst bei Beachtung des Umstandes, dass eine Wirkungssteigerung einer Meinungsäußerung grundsätzlich auch durch eine personalisierte Darstellung bewirkt werden dürfe, vorliegend nicht durch Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt.
Ebenso wenig könne der Beschwerdeführer sich auf Art. 4 GG berufen, denn die dort genannten Grundrechte gäben dem Einzelnen keinen Anspruch darauf, dass seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen und ihrer Anwendung gemacht werde.
c) Gegen das Urteil des Landgerichts wandte sich der Beschwerdeführer mit der Berufung. Mit Beschluss vom 10. Mai 2006 wies das Oberlandesgericht darauf hin, dass eine Zurückweisung des Rechtsmittels gem. § 522 Abs. 2 ZPO beabsichtigt sei. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers müsse es Frauen, die sich nach der entsprechenden Beratung zu einem gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch entschlossen hätten, ermöglicht werden, medizinische Hilfe durch einen Arzt ihres Vertrauens ohne weiteres Hinzutreten eines Dritten und die hiermit verbundenen psychischen Belastungen in Anspruch zu nehmen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten in die einem möglichen Schwangerschaftsabbruch vorausgehende Beratung im Interesse eines möglichst wirksamen Schutzes des ungeborenen Lebens auch Ärzte eingebunden sein, weshalb auch dieser Teil der Tätigkeit des Klägers den Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG genieße. Der Beschwerdeführer wolle die Patientinnen des Klägers durch sein Auftreten veranlassen, diesen nicht aufzusuchen, und das Arzt-Patienten-Verhältnis bewusst stören, um Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern, auch wenn diese legal seien. Dies stelle einen unverhältnismäßigen und damit unzulässigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers dar. Das Verhalten des Beschwerdeführers tangiere die konkrete Ausgestaltung der Sozialsphäre des Klägers, auf die es sich erheblich auswirke. Dass der Beschwerdeführer das gesetzgeberische Konzept zum Schutz des ungeborenen Lebens für falsch und änderungsbedürftig halte, rechtfertige nicht, den Kläger persönlich in der gegebenen Weise anzugreifen.
Auch unter Berücksichtigung der dem Beschwerdeführer zustehenden Meinungsfreiheit sei es ihm aufgrund des damit verbundenen Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf freie Berufsausübung des Klägers verwehrt, diesen namentlich in irgendeiner Weise zu benennen. Der Kläger sei nicht durch Veröffentlichungen oder sonstige Verhaltensweisen als besonderer Befürworter von Abtreibungen in die Öffentlichkeit getreten. Der Beschwerdeführer habe ihn aus einer Vielzahl von anderen Ärzten ausgewählt und als Privatperson in die Öffentlichkeit gedrängt. Selbst wenn das Leistungsangebot auf der Homepage des Klägers Schwangerschaftsabbrüche mit umfasse, werde damit lediglich über das Behandlungsangebot der Praxis des Klägers informiert, ohne dass hierin ein persönlicher Beitrag des Klägers zur öffentlichen Abtreibungsdiskussion zu sehen sei.
Der Beschwerdeführer werde (durch das Unterlassungsurteil) auch nicht unzulässig aus der Diskussion über Abtreibung ausgeschlossen. Ihm bleibe vielmehr das Recht, sich in der Öffentlichkeit auch deutlich und drastisch zu äußern, um die aus seiner Sicht größte Verbreitung und stärkste Wirkung seiner Meinungsäußerung zu erreichen, solange er nicht wie hier in unverhältnismäßiger Weise in die Rechte anderer eingreife.
d) Mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 2. Juni 2006 wies das Oberlandesgericht die Berufung sowie den hierfür gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe schließlich ankündigungsgemäß nach § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Zur Begründung verwies es im Wesentlichen auf den soeben wiedergegebenen Hinweisbeschluss.
2. Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Entscheidungen in seinen Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 GG verletzt. Als engagiertem Christen sei es ihm darum zu tun, sich mit verschiedenen Aktionen gegen die Durchführung von Abtreibungen zu wenden, auch wenn diese der geltenden Rechtslage entsprächen. Hierbei wolle er sich nicht auf eine abstrakte oder theoretische Argumentation beschränken, sondern bemühe sich darum, das Geschehen der Abtreibung für den jeweiligen Ort seiner Meinungsäußerung zu konkretisieren. Die angegriffenen Entscheidungen seien schon deshalb mit seinen Grundrechten nicht vereinbar, weil sie ihm völlig unabhängig von Kontext, Intention und inhaltlicher Bewertung jeden Hinweis auf die berufliche Tätigkeit des Klägers untersagten. Im Übrigen handele es sich bei der untersagten Äußerung um eine zutreffende Tatsachenbehauptung, die den Kläger allenfalls in seiner Sozialsphäre berühre. Auch eine unzulässige Prangerwirkung oder Stigmatisierung des Klägers liege nicht vor. Insoweit sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich, ob dem Betroffenen ein strafrechtlich relevantes Verhalten oder ein lediglich auf moralischer Ebene verbleibender Vorwurf gemacht werde. Im vorliegenden Fall werde dem Kläger aber gerade kein strafrechtlich relevantes Verhalten angelastet.
3. Gelegenheit zur Stellungnahme hatten der Bundesgerichtshof, das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie der Kläger des Ausgangsverfahrens. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen bereits entschieden. Dies gilt namentlich für das Verhältnis des Grundrechts auf Meinungsfreiheit zu dem ebenfalls grundrechtlich geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht des von einer Äußerung Betroffenen (vgl. nur BVerfGE 97, 391 ≪399 ff.≫; 99, 185 ≪196 ff.≫; BVerfGK 8, 107).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist zwar nur teilweise zulässig (a); im Umfang ihrer Zulässigkeit ist sie allerdings auch im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet (b).
a) Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 4 GG rügt, genügen seine Ausführungen nicht den sich aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ergebenden Begründungsanforderungen. Sie lassen nicht einmal ansatzweise erkennen, inwieweit die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in der Freiheit seines Glaubens betreffen oder an der Ausübung seiner Religion hindern. Namentlich legt der Beschwerdeführer nicht schlüssig dar, dass gerade die Wiederholung der durch die angegriffenen Entscheidungen untersagten Äußerungen und Verhaltensweisen der unmittelbaren Umsetzung einer religiösen Grundhaltung der Beschwerdeführer geschuldet sei.
b) Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer allerdings in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Die dem Beschwerdeführer durch die angegriffenen Entscheidungen verbotenen Hinweise darauf, dass der Kläger Abtreibungen durchführe und in seiner Praxis Abtreibungen durchgeführt würden, fallen in den Schutzbereich dieses Grundrechts. Dem steht nicht entgegen, dass es sich hierbei um Tatsachenbehauptungen handelt, denn auch derartige Äußerungen genießen den Schutz der Meinungsfreiheit, soweit sie geeignet sind, zur Meinungsbildung beizutragen (vgl. BVerfGE 85, 1 ≪15 f.≫; 90, 241 ≪247≫; stRspr), was hier ersichtlich der Fall ist.
Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährt, sondern steht gemäß Art. 5 Abs. 2 GG insbesondere unter der Schranke der allgemeinen Gesetze, zu denen auch die hier angewendeten Vorschriften der §§ 823, 1004 BGB gehören. Jedoch haben die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Normen des einfachen Rechts die wertsetzende Bedeutung des beeinträchtigten Grundrechts zu berücksichtigen. Diesem Erfordernis werden die angegriffenen Entscheidungen nicht in hinreichendem Maße gerecht. Die Gerichte haben zwar nicht verkannt, dass die streitgegenständlichen Äußerungen dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, und sind auch in eine Abwägung zwischen diesem Grundrecht des Beschwerdeführers und den auf Seiten des Klägers zu berücksichtigenden grundrechtlich geschützten Interessen eingetreten. Die hierbei maßgeblichen Erwägungen der Gerichte werden aber der Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit nicht hinreichend gerecht.
Im Ausgangspunkt zutreffend haben die angegriffenen Entscheidungen zwar angenommen, dass die dem Beschwerdeführer untersagten Äußerungen wahre Tatsachenbehauptungen sind, die den Kläger zudem weder in seiner besonders geschützten Intim – noch in seiner Privatsphäre treffen, sondern lediglich Vorgänge aus seiner Sozialsphäre benennen. Derartige Äußerungen müssen allerdings grundsätzlich hingenommen werden, denn das Persönlichkeitsrecht verleiht seinem Träger keinen Anspruch darauf, nur so in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es ihm genehm ist (vgl. BVerfGE 97, 391 ≪403≫). Zu den hinzunehmenden Folgen der eigenen Entscheidungen und Verhaltensweisen gehören deshalb auch solche Beeinträchtigungen des Einzelnen, die sich aus nachteiligen Reaktionen Dritter auf die Offenlegung solcher wahrer Tatsachen ergeben, solange sie sich im Rahmen der üblichen Grenzen seiner Entfaltungschancen halten (vgl. BVerfGE 97, 391 ≪404≫). Die Schwelle zur Persönlichkeitsrechtsverletzung wird bei der Mitteilung wahrer Tatsachen über die Sozialsphäre des Betroffenen regelmäßig erst überschritten, wo sie einen Persönlichkeitsschaden befürchten lässt, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht (vgl. BVerfGE 97, 391 ≪403 ff.≫; 99, 185 ≪196 f.≫). Eine derart schwerwiegende Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers zeigen die angegriffenen Entscheidungen aber nicht in einer verfassungsrechtlich tragfähigen Weise auf. Ihre Erwägung, dass der Kläger gegen seinen Willen in der Öffentlichkeit als ein auch Schwangerschaftsabbrüche durchführender Arzt präsentiert worden sei und hierdurch eine unzulässige Anprangerung und Stigmatisierung des Klägers bewirkt werde, begegnet zwar keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfGE 97, 391 ≪406 f.≫; BVerfGK 8, 107 ≪115≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Februar 2010 – 1 BvR 2477/08 –, www.bverfg.de). Jedoch darf bei der Würdigung einer möglichen Prangerwirkung nicht aus dem Blick geraten, dass die Wahl einer personalisierten Darstellungsweise und der hiermit regelmäßig verbundenen Wirkungssteigerung gerade Teil der grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit des Äußernden ist. Es bleibt daher im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, welches Gewicht den durch die Anprangerung ausgelösten Rechtsbeeinträchtigungen im Verhältnis zu der Einbuße an Meinungsfreiheit zukommt, die ein Verbot der personalisierten Darstellungsweise mit sich bringen würde (vgl. BVerfGK 8, 107 ≪115≫).
Eine nach diesem Maßstab ausreichend schwere Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Interessen des Klägers durch die streitgegenständliche Äußerung zeigen die angegriffenen Entscheidungen indes nicht auf und begründen daher nicht tragfähig, dass dieser sie trotz ihrer unstreitigen Wahrheit ausnahmsweise nicht hinnehmen müsste. Namentlich lassen sie nicht erkennen, dass dem Kläger ein umfassender Verlust an sozialer Achtung drohe, wenn seine Bereitschaft zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen zum Gegenstand einer öffentlichen Erörterung gemacht wird. Hiergegen spricht, dass dem Kläger nach dem festgestellten Sachverhalt nicht etwa eine strafrechtlich relevante oder auch nur überhaupt gesetzlich verbotene, sondern lediglich eine aus Sicht des Beschwerdeführers moralisch verwerfliche Tätigkeit vorgehalten wurde, auf die zudem der Kläger selbst ebenfalls öffentlich hinwies. Darüber hinaus haben die Gerichte auch nicht hinreichend gewürdigt, dass der Beschwerdeführer mit dem Thema der Schwangerschaftsabbrüche einen Gegenstand von wesentlichem öffentlichem Interesse angesprochen hat, was das Gewicht seines in die Abwägung einzustellenden Äußerungsinteresses vergrößert.
Soweit die Gerichte daneben auf die Auswirkungen verwiesen haben, die die streitgegenständlichen Äußerungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis entfalten, erscheint auch dies im vorliegenden Fall verfassungsrechtlich nicht haltbar. Allerdings ist die Erwägung, dass die Patientinnen, deren Weg in die Arztpraxis am Standort des Beschwerdeführers vorbeiführt, sich durch dessen Aktionen gleichsam einem Spießrutenlauf ausgesetzt sehen könnten, ein gewichtiger Gesichtspunkt. Vor dem Hintergrund, dass Art. 5 Abs. 1 GG zwar das Äußern von Meinungen schützt, nicht aber Tätigkeiten, mit denen anderen eine Meinung – mit nötigenden Mitteln – aufgedrängt werden soll (vgl. BVerfGE 25, 256 ≪264 f.≫), erscheint es nicht ausgeschlossen, auf diesen Gesichtspunkt und die damit verbundene Einmischung in die rechtlich besonders geschützte Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patientin im Einzelfall ein verfassungsrechtlich tragfähiges Verbot von bestimmten Formen von Protestaktionen zu stützen. Die angegriffenen Entscheidungen genügen den diesbezüglichen Anforderungen jedoch nicht. Denn zum einen sind die Feststellungen der angegriffenen Entscheidungen so knapp, dass undeutlich bleibt, ob und inwieweit die Aktionen „vor” der Praxis des hiesigen Klägers überhaupt zu derartigen Belästigungen von Patientinnen geführt haben oder hierzu auch nur geeignet waren. Außerdem geht der – vom Berufungsgericht bestätigte – Tenor des landgerichtlichen Urteils deutlich über das durch diesen Aspekt noch zu rechtfertigende Maß hinaus. Auf mögliche das Grundrecht des Klägers aus Art. 12 Abs. 1 GG betreffende Belästigungen von Patientinnen lässt sich weder ein Verbot stützen, in einem Umkreis von einem Kilometer Luftlinie von der Praxis des Klägers – ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen Standort handelt, den Patientinnen des Klägers auf dem Weg zur Praxis passieren müssen oder nicht – auf die dort durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche hinzuweisen noch gar dies in sonstiger Weise öffentlich zu tun. Es erscheint fernliegend, in einem etwa im Internet veröffentlichten Hinweis auf die Praxis des Klägers eine rechtserhebliche Störung dessen Verhältnisses zu seinen Patientinnen zu sehen. Denn nicht nur weist der Kläger selbst nach den Feststellungen der Gerichte auf das auch Schwangerschaftsabbrüche umfassende Leistungsangebot seiner Praxis hin, sondern es ist der angenommenen Störung der Vertrauensbeziehung geradezu vorausgesetzt, dass die Patientinnen, die einen Schwangerschaftsabbruch erwägen, Kenntnis davon haben, dass ihr Arzt derartige Eingriffe vornimmt. Hinzu kommt, dass nicht einmal ansatzweise erkennbar ist, warum zu befürchten sein sollte, dass eine solche Patientin der Website des Beschwerdeführers ansichtig werden könnte. Der bloße Wunsch des Klägers, von der Belästigung freigehalten zu werden, öffentlich mit der eigenen freien Entscheidung für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen konfrontiert und hierfür auch kritisiert zu werden, verdient angesichts des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG aber keine Anerkennung.
c) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei erneuter Befassung unter angemessener Berücksichtigung der erfolgten Grundrechtsbeeinträchtigung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen werden.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Kirchhof, Eichberger, Masing
Fundstellen
Haufe-Index 2368736 |
NJW 2011, 47 |
EuGRZ 2010, 353 |
AfP 2010, 465 |
JA 2010, 759 |
JuS 2012, 88 |
NJ 2010, 332 |
ZUM-RD 2011, 147 |
GesR 2010, 443 |
KomVerw/LSA 2011, 109 |
NPA 2011 |
RÜ 2010, 586 |
FuBW 2011, 158 |
FuHe 2011, 279 |
KomVerw/B 2011, 104 |
KomVerw/MV 2011, 107 |
KomVerw/T 2011, 108 |