Verfahrensgang
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 1. März 2004 – 23 U 118/03 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Der Beschluss wird aufgehoben, die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Damit wird der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 6. Juni 2005 – II ZB 9/04 – gegenstandslos.
Das Land Hessen hat der Beschwerdeführerin die im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Verwerfung einer Berufung in einem zivilgerichtlichen Verfahren.
I.
1. Im Ausgangsverfahren wies das Landgericht F… – nach zuvor ergangenem, zu Lasten der Beschwerdeführerin gefälltem Teilurteil – mit Schlussurteil eine Widerklage der Beschwerdeführerin ab. Dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin wurde das Schlussurteil am 28. April 2003 zugestellt. Die dagegen gerichtete Berufung ging – adressiert an das Oberlandesgericht F… – am 28. Mai 2003 um 13.52 Uhr per Fax unter der Faxnummer des Landgerichts F… ein. Von dort wurde der Faxschriftsatz an das in demselben Gebäudekomplex gelegene Oberlandesgericht weitergeleitet, wo er am 30. Mai 2003 eintraf.
Das Oberlandesgericht hat mit dem angegriffenen Beschluss den Antrag der Beschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt und ihre Berufung als unzulässig verworfen (OLGR Frankfurt 2004, S. 235). Der Beschwerdeführerin könne Wiedereinsetzung nicht gewährt werden, weil sie nicht ohne ihr Verschulden verhindert gewesen sei, die Frist zur Einlegung der Berufung zu wahren. Es liege ein ihr zurechenbares Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten vor.
Der Bundesgerichtshof hat mit dem weiter angegriffenen Beschluss die Rechtsbeschwerde der Beschwerdeführerin als unzulässig verworfen (NJW-RR 2005, S. 1373), weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht gegeben seien. Die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch das Oberlandesgericht werfe keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf, sondern stehe in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin unter anderem geltend, die angegriffenen Entscheidungen verletzten sie in ihren Rechten auf ein faires Verfahren und auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben die Hessische Staatskanzlei und die fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes Stellung genommen. Nach Auffassung der Hessischen Staatskanzlei ist die Verfassungsbeschwerde begründet, weil das Oberlandesgericht nicht berücksichtigt habe, dass aufgrund Gemeinsamer Verfügung der Leiter der Justizbehörden in F… das Telefaxgerät des Landgerichts ebenso wie das des Oberlandesgerichts zu einer gemeinsamen Post- und Faxannahmestelle gehört, die als Geschäftsstelle sämtlicher angeschlossener Gerichte und Behörden in F… gilt.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht, wie sich aus der nachstehend angeführten Rechtsprechung ergibt, bereits entschieden. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor.
1. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein faires Verfahren und in ihrem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz.
a) Beide Rechte werden den Parteien eines Zivilrechtsstreits durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG garantiert. Der Richter ist danach gehalten, das bei ihm anhängige Verfahren so zu gestalten, wie die Parteien es von ihm erwarten dürfen: Er darf sich nicht widersprüchlich verhalten und aus eigenen oder ihm zurechenbaren Fehlern, Unklarheiten oder Versäumnissen für die Beteiligten keine Verfahrensnachteile ableiten. Allgemein ist er zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl. BVerfGE 78, 123 ≪126≫; 110, 339 ≪342≫). Außerdem dürfen die Gerichte den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. BVerfGE 52, 203 ≪207≫; 69, 381 ≪385≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. August 2005 – 1 BvR 2138/03 –, NJW 2005, S. 3346).
b) Nach diesen Grundsätzen ist die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die Berufung der Beschwerdeführerin als unzulässig zu verwerfen, mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen eines fairen Verfahrens und der Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes nicht vereinbar.
aa) Offen bleiben kann dabei, welche Verpflichtungen Rechtsanwälten bei der Übermittlung fristgebundener Rechtsmittelschriftsätze obliegen, wenn die Übermittlung an das Gericht per Telefax unter Verwendung eines EDV-Programms durch Büropersonal des Rechtsanwalts erfolgt. Ebenfalls keiner Entscheidung der Kammer bedarf im Hinblick auf die Besonderheiten des vorliegenden Falles, welche Pflichten unzuständigen Gerichten obliegen, an die ein durch Telefax übermittelter Rechtsmittelschriftsatz vor Fristablauf trotz richtiger Adressierung an das zuständige Rechtsmittelgericht deshalb gelangt ist, weil von Angestellten des Prozessbevollmächtigten des Rechtsmittelführers für die Übermittlung versehentlich eine falsche Telefaxnummer verwendet worden ist (allgemein zur Weiterleitungspflicht bei auf herkömmliche Weise eingereichten Schriftsätzen vgl. BVerfGE 93, 99). Denn unabhängig davon hat das Oberlandesgericht den Anspruch der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip schon deshalb verletzt, weil es die Berufung der Beschwerdeführerin als verspätet eingelegt angesehen und deshalb verworfen hat.
bb) Für die Justizbehörden in F… – darunter auch das Land- und das Oberlandesgericht – sind, wie die Hessische Staatskanzlei unter Vorlage der geltenden Geschäftsordnungsregelungen im Einzelnen dargelegt hat, neben einer gemeinsamen Posteingangsstelle auch gemeinsame Telefaxanschlüsse eingerichtet. Dabei ist die Annahme von Telefaxschreiben in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise so geregelt, dass die besonders bestimmten Telefaxanschlüsse der beteiligten Behörden und Gerichte zugleich als Anschlüsse der anderen Behörden und Gerichte gelten und die bei einem dieser Anschlüsse eingehenden Telefaxschreiben als bei der Geschäftsstelle der jeweils angeschriebenen Behörden- oder Gerichtsstelle eingegangen anzusehen sind.
Danach durfte das Oberlandesgericht den beim Landgericht am 28. Mai 2003 um 13.52 Uhr eingegangenen, per Telefax übermittelten Berufungsschriftsatz nicht als verspätet behandeln. Die von den Justizbehörden in F… getroffene Regelung über die Annahme von Telefaxschreiben hat zur Folge, dass ein per Telefax übermittelter und – wie hier – zutreffend an das Oberlandesgericht adressierter Schriftsatz auch dann in die Verfügungsgewalt dieses Gerichts gelangt ist, wenn für die Übermittlung versehentlich die Faxnummer einer anderen in den Behörden- und Gerichtsverbund einbezogenen Stelle gewählt worden ist. Für die Rechtzeitigkeit des Eingangs eines fristwahrenden Schriftstücks ist allein entscheidend, dass es innerhalb der Frist tatsächlich in den Verfügungsbereich des zuständigen Gerichts gebracht worden (vgl. BVerfGE 52, 203 ≪209≫; 57, 117 ≪120≫; 69, 381 ≪385 f.≫) und damit dem Zugriff des Absenders nicht mehr zugänglich ist.
Das war bei der Berufungsschrift der Beschwerdeführerin der Fall. Am 28. Mai 2003 war die Frist für die Einlegung der Berufung gegen das der Beschwerdeführerin am 28. April 2003 zugestellte Schlussurteil des Landgerichts noch nicht abgelaufen. Die Berufung war daher rechtzeitig beim Oberlandesgericht eingelegt, als der Telefaxschriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 28. Mai 2003 um 13.52 Uhr bei der Telefaxstelle des in die Annahmeregelung der Justizbehörden in F… einbezogenen Landgerichts einging. Darauf, dass der Schriftsatz später an das Oberlandesgericht weitergeleitet und dort erst am 30. Mai 2003 registriert worden ist, kommt es nicht an (vgl. BVerfG, NJW 2005, S. 3346 f.≫).
cc) Dass dem Oberlandesgericht die für die Justizbehörden in F… geltende Regelung über die Annahme von Telefaxschreiben offensichtlich nicht bekannt oder jedenfalls nicht bewusst war, steht der Annahme eines Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht entgegen. Das Berufungsgericht hat nach § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung in der gesetzlichen Frist eingelegt worden ist. Dabei hat es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, auf welche auch die Hessische Staatskanzlei hingewiesen hat, alle aus dem Akteninhalt ersichtlichen Anhaltspunkte zu prüfen und zu würdigen, die für die Entscheidung über die Rechtzeitigkeit der Berufungseinlegung von Bedeutung sein können (vgl. BGH, Beschluss vom 19. April 1994 – VI ZB 3/94 –, NJW 1994, S. 1881 f.; Urteil vom 14. März 2001 – XII ZR 51/99 –, NJW 2001, S. 1581 ≪1582≫). Danach hätte das Oberlandesgericht jedenfalls der Frage nachgehen müssen, wie in F… für die dortigen Justizbehörden die Telefaxannahme organisiert ist. Denn die Beschwerdeführerin hatte auf die Nachricht des Oberlandesgerichts über bei ihm bestehende Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung mit Schriftsatz vom 6. Februar 2004 auf die Existenz einer gemeinsamen Briefannahmestelle und eines gemeinsamen Fristenbriefkastens für die Justizbehörden in F… hingewiesen und daran die Vermutung geknüpft, “dass an die Justizbehörden verschickte Telefaxe ebenfalls an einer zentralen Stelle gesammelt und über die Wachtmeister auf die einzelnen Gerichte verteilt werden”. Dass das Oberlandesgericht dies nicht zum Anlass für weitere Ermittlungen genommen hat, darf nach den oben angeführten verfassungsrechtlichen Maßstäben der Beschwerdeführerin nicht zum Nachteil gereichen.
2. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts beruht auf dem danach vorliegenden Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht, wenn es seiner Entscheidung die vorstehenden Erwägungen zugrunde gelegt hätte, die Berufung der Beschwerdeführerin nicht verworfen hätte. Seine Entscheidung ist daher gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Die ebenfalls angegriffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird dadurch gegenstandslos.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Bryde, Eichberger, Schluckebier
Fundstellen