Verfahrensgang
Tenor
Die Beschlüsse des Landgerichts Stade vom 7. Juli 1997 und vom 12. August 1997 – 11 Qs 151/97 – sowie der Beschluß des Amtsgerichts Buxtehude vom 2. Juni 1997 – 2 Cs 111 Js 11454/96 – verletzen Artikel 19 Absatz 4 und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Buxtehude zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einem Strafverfahren.
I.
Gegen den Beschwerdeführer erging am 30. September 1996 Strafbefehl wegen eines im Dezember 1995 angeblich begangenen Einbruchsdiebstahls. Zur Tatzeit wohnte er unter der Anschrift M… 13 in B… Diese Anschrift ist im Strafbefehl genannt. Dorthin wurde auch die Zustellung verfügt. Der Postbedienstete unternahm am 18. Oktober 1996 einen Zustellungsversuch und legte die Sendung beim Postamt nieder. Der Beschwerdeführer legte mit einem am 29. Januar 1997 beim Amtsgericht eingegangenen Schriftsatz Einspruch ein und beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Einspruchsfrist. Er machte geltend, er habe unter der Zustellungsanschrift seit März/April 1996 nicht mehr gewohnt. Er sei damals in die B…-Straße 7 umgezogen und habe sich ordnungsgemäß umgemeldet. Von der Existenz des Strafbefehls habe er erst durch ein ihm am 24. Januar 1997 unter der neuen Anschrift zugegangenes Schreiben der Staatsanwaltschaft erfahren.
Das Amtsgericht wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf den Einspruch als unzulässig. Zur Begründung führte es aus, der Beschwerdeführer habe die Einspruchsfrist schuldhaft versäumt; er habe sich nicht nur beim Einwohnermeldeamt ummelden, sondern die Polizei von seiner neuen Anschrift in Kenntnis setzen oder einen Nachsendeantrag bei der Post stellen müssen.
Dagegen legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein mit dem Antrag, dem Wiedereinsetzungsgesuch und dem Einspruch im Hinblick auf die fehlerhafte Zustellung stattzugeben. Mit einem weiteren Schriftsatz trug der Beschwerdeführer weiter vor, er habe dem ermittelnden Kriminalbeamten mitgeteilt, er werde zur B…-Straße umziehen. Er sei dort auch von der Kriminalpolizei aufgesucht worden. Er habe auch bei der Post seine neue Adresse hinterlassen.
Das Landgericht verwarf die sofortige Beschwerde durch Beschluß vom 7. Juli 1997 mit der Begründung: Der Vortrag des Beschwerdeführers sei durch seine eigene eidesstattliche Versicherung nicht glaubhaft gemacht; ihm sei vorzuwerfen, daß er es in Kenntnis des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens unterlassen habe, bei der Post einen Nachsendeantrag zu stellen.
Nach Zugang dieses Beschlusses beantragte der Beschwerdeführer mit einem am 31. Juli 1997 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz die Nachholung des rechtlichen Gehörs. Er machte geltend, er habe vorgetragen, einen Nachsendeantrag bei der Post gestellt zu haben. Da er die beantragte Akteneinsicht bisher nicht erhalten und erst jetzt den Namen des ermittelnden Polizeibeamten erfahren habe, könne er erst jetzt vortragen, daß die neue Anschrift sogar von Anfang an aktenkundig gewesen sei.
Das Landgericht wies den Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs durch Beschluß vom 12. August 1997 zurück. Es führte aus: Es habe nicht damit rechnen müssen, daß der Beschwerdeführer eine weitere Begründung in einem zweiten unangekündigten Schriftsatz nachreichen würde. Im übrigen wäre die sofortige Beschwerde auch bei Berücksichtigung des neuen Vorbringens als unbegründet verworfen worden, da der Beschwerdeführer sein gesamtes Vorbringen nicht glaubhaft gemacht habe.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör mit der Begründung, Amts- und Landgericht hätten in den angegriffenen Entscheidungen seinen aktenkundigen Umzug nicht berücksichtigt, zudem sei ihm bis heute keine Akteneinsicht gewährt worden.
Das Niedersächsische Ministerium der Justiz und für Europaangelegenheiten hat sich zu der Verfassungsbeschwerde dahin geäußert, daß die Versagung der Wiedereinsetzung den Art. 19 Abs. 4 und den Art. 103 Abs. 1 GG verletze.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b BVerfGG), weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Die Verfassungsbeschwerde ist – bei Anwendung des in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vertretenen verfassungsrechtlichen Maßstabs – offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die Beschlüsse des Landgerichts und der Beschluß des Amtsgerichts, die – ungeachtet der mißverständlichen Antragstellung – sämtlich angegriffen sind, verletzen die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG.
1. Im Strafbefehlsverfahren ist der Anspruch des Beschuldigten auf ersten Zugang zu Gericht und auf rechtliches Gehör durch die Möglichkeit des Einspruchs gewährleistet. Wird die Einspruchsfrist unverschuldet versäumt, so hängt die Verwirklichung dieser Rechte aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG davon ab, daß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Es ist ein in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefestigter Grundsatz, daß in diesem Fall des summarischen Verfahrens bei der Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden prozessrechtlichen Vorschriften die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung nicht überspannt werden dürfen. Der Grundsatz begrenzt auch die Anforderungen, die nach Fristversäumung an den Vortrag und die Glaubhaftmachung der Versäumungsgründe gestellt werden dürfen (vgl. BVerfGE 26, 315 ≪319, 320≫; 37, 93 ≪97 f.≫; 37, 100 ≪103≫; 38, 35 ≪39≫; 40, 42 ≪44≫). Danach darf von dem Betroffenen nicht die Glaubhaftmachung von Umständen verlangt werden, die aktenkundig sind.
2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angefochtenen Beschlüsse nicht gerecht.
a) Aus der Strafakte ergibt sich, daß die Behauptung des Beschwerdeführers, er habe zum Zeitpunkt der Zustellung des Strafbefehls nicht mehr unter der Zustellungsanschrift gewohnt, zutrifft. Unter dem 30. April 1996 hatte der ermittelnde Polizeibeamte vermerkt, daß der Beschwerdeführer im Haus B…-Straße 7 wohne. Unter dem 9. Mai 1996 teilte der Rechtsanwalt des Geschädigten mit, der Beschwerdeführer sei dorthin verzogen. Eine Vorladung an einen weiteren Verdächtigen ist an die genannte Anschrift gerichtet mit dem Zusatz “bei B…” (Name des Beschwerdeführers). In dem Ermittlungs- und Schlußvermerk der Polizei ist die neue Anschrift des Beschwerdeführers angegeben mit dem Zusatz “z.TZ. wh. wie T…” (zur Tatzeit wohnhaft wie Tatort). Gleichwohl verfügte der Staatsanwalt die Fertigung und Zustellung des Strafbefehls an die alte Anschrift des Beschwerdeführers.
b) Auf der Grundlage dieses aktenkundigen Sachverhalts gehen die angegriffenen Entscheidungen schon zu Unrecht davon aus, daß es zur Anfechtung des Strafbefehls überhaupt eines Wiedereinsetzungsantrags des Beschwerdeführers bedurfte. Da der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Zustellung nicht mehr unter der Zustellungsanschrift wohnte, war die Zustellung unwirksam.
c) Ausgehend von einer wirksamen Zustellung durfte dem Beschwerdeführer jedenfalls die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht versagt werden.
Das Amtsgericht hat die Anforderungen an die Darlegung fehlenden Verschuldens überspannt, wenn es dem Beschwerdeführer vorwirft, er habe es unterlassen, seine neue Anschrift der Polizei mitzuteilen. Eine Mitteilung an die Polizei war überflüssig, da ihr die neue Anschrift bekannt war.
Dem Beschwerdeführer konnte auch nicht vorgeworfen werden, er habe es unterlassen, wegen der in diesem Verfahren zu erwartenden Zustellungen einen Postnachsendeantrag zu stellen. Er durfte vielmehr darauf vertrauen, daß Zustellungen in Zukunft an die neue – aktenkundige – Anschrift erfolgen.
3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem Verfassungsverstoß. Bei Berücksichtigung der aktenkundigen Tatsachen hätte der Einspruch gegen den Strafbefehl nicht als verspätet eingegangen behandelt, der Wiedereinsetzungsantrag nicht mit der gegebenen Begründung verworfen und der Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs nicht zurückgewiesen werden dürfen.
4. Die angegriffenen Beschlüsse sind daher aufzuheben, die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Graßhof, Kirchhof
Fundstellen