Verfahrensgang
OLG Naumburg (Beschluss vom 21.05.2012; Aktenzeichen 1 Ws 172/12) |
OLG Naumburg (Beschluss vom 27.04.2012; Aktenzeichen 1 Ws 153/12) |
LG Stendal (Beschluss vom 09.03.2012; Aktenzeichen 504 StVK 70/12) |
Tenor
Dem Beschwerdeführer wird wegen der Versäumung der Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Der Beschluss des Landgerichts Stendal vom 9. März 2012 – 504 StVK 70/12 – und der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 27. April 2012 – 1 Ws 153/12 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 27. April 2012 – 1 Ws 153/12 – wird aufgehoben. Damit ist der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 21. Mai 2012 – 1 Ws 172/12 – gegenstandslos. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Naumburg zurückverwiesen.
Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Sven T.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Prüfung der Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung nach vorangegangener Erledigterklärung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Halle/Saale vom 5. Dezember 2001 wegen Verbreitung pornographischer Schriften in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt. Darüber hinaus wurde die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet. Das Landgericht Halle/Saale ging dabei von einer verminderten Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB aufgrund einer heterosexuellen Pädophilie in einer schweren Form aus, die Suchtcharakter habe und Gewalttaten im Zusammenhang mit Sexualhandlungen erwarten lasse.
2. a) Mit Beschluss vom 24. Februar 2012 erklärte das Landgericht Stendal die angeordnete Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt. Der weitere Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die bereits mehr als zehn Jahre andauere, sei nicht mehr verhältnismäßig. Die zu erwartenden Straftaten seien lediglich dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen. Eine Steigerung der Deliktsintensität sei nicht zu erwarten. Letztendlich überwiege daher der Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers den Sicherheitsanspruch der Allgemeinheit.
b) Der Beschwerdeführer befand sich seit seiner Entlassung aus dem psychiatrischen Krankenhaus am 9. März 2012 in der Justizvollzugsanstalt Halle. Die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe war am 18. August 2012 vollständig verbüßt.
3. Mit angegriffenem Beschluss vom 9. März 2012 wies das Landgericht Stendal den Antrag des Beschwerdeführers, die Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Halle/Saale vom 5. Dezember 2001 für vollständig erledigt zu erklären oder hilfsweise zur Bewährung auszusetzen, zurück.
a) Einer vollständigen Erledigterklärung der Restfreiheitsstrafe stehe § 67 Abs. 4 StGB entgegen. Danach sei eine Anrechnung der Dauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf eine in demselben Urteil erkannte Freiheitsstrafe nur möglich, bis zwei Drittel der Strafe erledigt seien.
b) Eine Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB komme ebenfalls nicht in Betracht. Sowohl nach Einschätzung der beauftragten Sachverständigen als auch nach der Einschätzung der Vollzugseinrichtung bestehe bezüglich des Beschwerdeführers ein hohes Rückfallrisiko dahingehend, dass er sich im Falle einer sofortigen Entlassung erneut kinderpornographische Schriften beschaffen und diese konsumieren werde. Diese Straftaten richteten sich gegen ein besonders hohes Rechtsgut, nämlich das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung von Kindern. Eine Aufarbeitung der der Verurteilung zugrundeliegenden Taten sei bisher ebenso wenig erfolgt wie eine erfolgreiche Behandlung der Erkrankung des Beschwerdeführers. Dieser sei vielmehr hinreichend verdächtig, selbst unter den Bedingungen und dem Eindruck des Freiheitsentzugs rückfällig geworden zu sein und sich erneut kinderpornographisches Material beschafft zu haben. Insofern existiere eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Halle aus dem Jahr 2011, mit welcher dem Beschwerdeführer der Besitz kinderpornographischer Schriften zur Last gelegt werde. Eine günstige Sozialprognose sei daher nicht zu begründen.
4. Die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht Naumburg mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 27. April 2012 als unbegründet.
a) Eine vollständige Anrechnung der überschießenden Maßregeldauer auf die Freiheitsstrafe entgegen § 67 Abs. 4 StGB komme – wie das Landgericht Stendal zutreffend ausgeführt habe – nicht in Betracht.
b) Hinsichtlich des Beschwerdeführers könne zudem eine günstige Sozialprognose – auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Beschwerdeführer Erstverbüßer sei – nicht gestellt werden. Insofern seien sowohl das externe Sachverständigengutachten als auch die Einschätzung der Maßregelvollzugseinrichtung heranzuziehen, wonach die Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer einschlägig rückfällig werde, als hoch einzuschätzen sei. Der Beschwerdeführer akzeptiere die gesellschaftliche Ächtung und Strafbarkeit eines entsprechenden Verhaltens nach wie vor nur bedingt.
5. Die gegen diesen Beschluss erhobene Gegenvorstellung des Beschwerdeführers wies das Oberlandesgericht Naumburg mit angegriffenem Beschluss vom 21. Mai 2012 als unzulässig zurück, da Entscheidungen der Oberlandesgerichte gemäß § 304 Abs. 4 StPO grundsätzlich nicht weiter anfechtbar seien. Ein Ausnahmefall – insbesondere das Beruhen der Entscheidung auf einem erheblichen Tatsachenirrtum oder das Erfordernis der Nachholung rechtlichen Gehörs – sei nicht ersichtlich.
II.
Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse im Wesentlichen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt.
Die Vollstreckung des letzten Drittels der Freiheitsstrafe nach über zehn Jahren der geschlossenen Unterbringung sei unverhältnismäßig. Durch die Freiheitsentziehung im Rahmen des Maßregelvollzugs sei ein angemessener Schuldausgleich bereits herbeigeführt worden. Daher habe im Rahmen des § 67 Abs. 4 StGB eine vollständige Anrechnung der Unterbringungsdauer auf die verhängte Freiheitsstrafe erfolgen müssen. Die angegriffenen Beschlüsse setzten sich mit diesen Erwägungen nicht auseinander.
III.
1. a) Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Weder das Landgericht Stendal noch das Oberlandesgericht Naumburg hätten bei der Auslegung und Anwendung von § 67 Abs. 4, § 57 Abs. 1 StGB die Bedeutung und die Tragweite der als verletzt gerügten Grundrechte verkannt. Ein Abweichen von der Begrenzung des § 67 Abs. 4 StGB, wonach die Zeit des Vollzugs einer Maßregel auf die Strafe nur angerechnet werde, bis zwei Drittel der Strafe erledigt seien, sei auch nicht zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes geboten gewesen, da die besonders lange Zeit des Maßregelvollzugs im Rahmen der Entscheidung gemäß § 57 Abs. 1 StGB habe berücksichtigt werden können. Diese Entscheidung sei angesichts der negativen Legalprognose für den Beschwerdeführer nicht unverhältnismäßig.
b) Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Die Gesamtdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers im Maßregelvollzug habe sowohl die ausgeurteilte Gesamtfreiheitsstrafe als auch die gesetzliche Höchststrafe für das zugrundeliegende Delikt um ein Vielfaches überschritten. In Anbetracht dieses Umstandes habe die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch die Vollstreckung des verbliebenen Strafrestes – trotz der negativen Prognose – unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit besonders sorgfältiger Abwägung und Begründung bedurft. Eine entsprechende Prüfung sei allerdings weder durch das Landgericht Stendal noch durch das Oberlandesgericht Naumburg durchgeführt worden.
2. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten 725 Js 24506/00 der Staatsanwaltschaft Halle vorgelegen.
Entscheidungsgründe
B.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 2012 – 2 BvR 22/12 –, NStZ-RR 2012, S. 385 ff., m.w.N.) und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig (1.) und im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet (2.).
I.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist rechtzeitig erhoben.
Zwar ist die Beschwerdeschrift, die zusammen mit den erforderlichen Anlagen in mehreren Textblöcken per Fax durch eine Büroangestellte des Bevollmächtigten des Beschwerdeführers an das Bundesverfassungsgericht übermittelt werden sollte, im Unterschied zu dem größeren Teil der Anlagen nicht innerhalb der am 4. Juni 2012 endenden Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eingegangen. Vielmehr wurden der Verfassungsbeschwerdeschriftsatz und die zunächst nicht übermittelten Unterlagen am 6. Juni 2012 im Original nachgereicht.
Dem Beschwerdeführer ist insoweit aber gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Satz 4 BVerfGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Er war ohne eigenes Verschulden oder ein Verschulden seines Bevollmächtigten verhindert, die Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG einzuhalten. Zwar wird dem Beschwerdeführer grundsätzlich ein Verschulden seines Bevollmächtigten zugerechnet (§ 93 Abs. 2 Satz 6 BVerfGG). Das Verschulden einer Hilfsperson des Bevollmächtigten – insbesondere einer Büroangestellten – hindert die Wiedereinsetzung allerdings nur dann, wenn deren Verschulden dem Bevollmächtigten als eigenes Organisations- und/oder Überwachungsverschulden angelastet werden kann. Das ist vorliegend aufgrund der Beauftragung einer über mehrere Jahre zuverlässig tätigen Büroangestellten nicht der Fall. Erst durch den Hinweis des Allgemeinen Registers des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juni 2012 wurde der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers auf den Übermittlungsfehler aufmerksam gemacht. Daraufhin hat er innerhalb der Frist des § 93 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt und den Fehler seiner Mitarbeiterin bei der Übersendung per Fax glaubhaft gemacht. Die Nachholung der versäumten Rechtshandlung war aufgrund des zwischenzeitlichen Eingangs der Unterlagen beim Bundesverfassungsgericht nicht mehr erforderlich.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet. Der Beschluss des Landgerichts Stendal vom 9. März 2012 und der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 27. April 2012 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die Gerichte haben in den angegriffenen Beschlüssen die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der verbliebenen Restfreiheitsstrafe des Beschwerdeführers zur Bewährung verkannt.
a) aa) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person” und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich” bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. BVerfGE 35, 185 ≪190≫; 109, 133 ≪157≫; 128, 326 ≪372≫).
Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 22, 180 ≪219≫; 29, 312 ≪316≫; 35, 185 ≪190≫; 45, 187 ≪223≫; stRspr). Belange von ausreichendem Gewicht sind insbesondere die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347≫; 20, 45 ≪49≫; 20, 144 ≪147≫; 32, 87 ≪93≫; 35, 185 ≪190≫) und der Schutz der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 ≪219≫; 30, 47 ≪53≫; 45, 187 ≪223≫; 58, 208 ≪224 f.≫; 70, 297 ≪307≫).
Das Rechtsstaatsprinzip, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, sowie die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten gebieten die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Das bedeutet auch, dass rechtskräftig erkannte Freiheitsstrafen grundsätzlich zu vollstrecken sind. Der staatliche Strafanspruch und – daraus folgend – das Gebot, rechtskräftig verhängte, tat- und schuldangemessene Strafen auch zu vollstrecken, sind gewichtige Gründe des Gemeinwohls (vgl. BVerfGE 51, 324 ≪343 f.≫). Die Rechtsordnung darf ihre Missachtung nicht prämieren, denn sie schafft sonst Anreize zur Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten und untergräbt damit auch die Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit (vgl. BVerfGE 116, 24 ≪49≫; 130, 372 ≪391≫).
Kollidiert der Freiheitsanspruch der Person mit der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder dem Erfordernis, die Allgemeinheit vor zu erwartenden Rechtsgutverletzungen zu schützen, sind beide Belange gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerfGE 90, 145 ≪172≫; 109, 133 ≪157≫; 128, 326 ≪372 f.≫). Dabei gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Freiheit der Person nur beschränkt werden darf, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist. Die verfassungsrechtlich gerechtfertigten Eingriffstatbestände haben insoweit auch eine freiheitsgewährleistende Funktion, da sie nicht nur den Eingriff in ein grundrechtlich geschütztes Interesse erlauben, sondern zugleich die äußersten Grenzen zulässiger Grundrechtseinschränkungen bestimmen (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪307≫; 75, 329 ≪341≫; 126, 170 ≪195≫).
bb) Freiheitsstrafen und freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung verfolgen unterschiedliche Zwecke, weswegen sie grundsätzlich auch nebeneinander angeordnet werden können (vgl. BVerfGE 91, 1 ≪31≫; 128, 326 ≪376 f.≫). Geschieht dies, ist es jedoch geboten, sie einander so zuzuordnen, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dass dabei in das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG mehr als notwendig eingegriffen wird (vgl. BVerfGE 91, 1 ≪31≫). Die Schwere des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen (vgl. BVerfGE 90, 145 ≪173≫; 92, 277 ≪327≫; 109, 279 ≪349 f.≫; 115, 320 ≪345≫; 130, 372 ≪392≫).
cc) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch im Rahmen der Prüfung der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 2012 – 2 BvR 22/12 –, NStZ-RR 2012, S. 385 ≪386≫). Anders als bei Maßregeln ist zwar bei Strafen bereits im Strafurteil über die Verhältnismäßigkeit der zu vollstreckenden Strafe grundsätzlich entschieden worden. Doch auch bezüglich der Strafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe gemäß § 57a StGB – der auf § 57 Abs. 1 StGB verweist – hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bereits betont, dass die Regelung der Aussetzung einen Ausgleich zwischen dem Resozialisierungsanspruch und dem Freiheitsgrundrecht des zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten einerseits und dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit andererseits schafft (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪112≫; BVerfGK 15, 390 ≪396≫; 16, 44 ≪47 f.≫). Die bei der Entscheidung über die Aussetzung zu berücksichtigenden Umstände werden dabei durch § 57 Abs.1 Satz 2 StGB konkretisiert (BVerfGE 117, 71 ≪112≫). Für die Strafaussetzung bei zeitigen Freiheitsstrafen kann nichts anderes gelten. Auch insoweit ist ein Ausgleich zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen und den Sicherungsinteressen der Allgemeinheit geboten. Bei der nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB gebotenen Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände des Verurteilten kann die Dauer einer Freiheitsentziehung als notwendige Bedingung des Maßregelvollzugs aus Anlass der Tat nicht außer Betracht bleiben, auch wenn sie gemäß § 67 Abs. 4 StGB in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise nur auf zwei Drittel der Strafe angerechnet wird. Je länger der Freiheitsentzug insgesamt dauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für dessen Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪315≫; BVerfGK 15, 390 ≪397≫; 16, 44 ≪48≫).
Da es sich insoweit um eine wertende Entscheidung handelt, kann das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nur prüfen, ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden hat und ob die dabei zugrundegelegten Bewertungsmaßstäbe der Verfassung entsprechen und insbesondere Inhalt und Tragweite des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht verkennen (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪315≫).
b) Nach diesem Maßstab verletzen die angegriffenen Beschlüsse den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht haben die Bedeutung und Tragweite des Freiheitsrechts des Beschwerdeführers verkannt. Zur Begründung der Versagung der Aussetzung des verbliebenen Strafrestes zur Bewährung stellen die Gerichte ausschließlich auf die auch bei Berücksichtigung des sozialen Empfangsraums negative Sozialprognose für den Beschwerdeführer ab. Demgegenüber wird die Frage der Verhältnismäßigkeit der Vollstreckung des Strafrestes nicht erörtert. Hierzu hätte bereits deshalb Veranlassung bestanden, weil das Landgericht Stendal die Unterbringung mit der Begründung für erledigt erklärt hatte, dass deren weitere Vollstreckung unverhältnismäßig sei. Hinzu kommt, dass die mehr als 10-jährige Dauer der Unterbringung (1. November 2001 bis 9. März 2012) sowohl die ausgeurteilte Gesamtfreiheitsstrafe als auch die gesetzliche Höchststrafe für das zugrundeliegende Delikt um ein Vielfaches übersteigt. Vor diesem Hintergrund hätte die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch die Vollstreckung des verbliebenen Strafrestes – trotz der negativen Legalprognose – unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit besonders sorgfältiger Abwägung und Begründung bedurft.
Dabei kann dahinstehen, ob die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes von Verfassungs wegen zu einem bestimmten Ergebnis geführt hätte. Es kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass die Gerichte bei Berücksichtigung der langen Dauer der Unterbringung hinsichtlich der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung zu einem anderen Ergebnis gekommen wären.
II.
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg ist aufzuheben. Die Sache ist an das Oberlandesgericht Naumburg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen
Haufe-Index 4808598 |
NStZ-RR 2013, 360 |
NStZ-RR 2013, 5 |
NPA 2014 |