Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Vertrauen auf normale Postlaufzeit
Leitsatz (redaktionell)
Der Zugang zum Gericht wird in unzumutbarer, aus sachlichen Gründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert, wenn dem Bürger als Verschulden angelastet wird, daß er auf die normale, den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Bundespost entsprechende Postlaufzeit vertraut hat.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1, Art. 74 Nr. 11; OWiG 1968 § 52; StPO § 44
Verfahrensgang
LG Hamburg (Beschluss vom 01.10.1975; Aktenzeichen 33 Qs OWi 1089/75) |
Gründe
A. – I.
Die Beschwerdeführerin erhob mit einem vom 17. Juni 1975 datierten Brief Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid, der gegen sie wegen einer Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr erlassen und ihr im Wege einer Ersatzzustellung am 11. Juni 1975 zugestellt worden war. Laut Eingangsstempel der Verwaltungsbehörde ging der Brief dort erst am 23. Juni 1975 ein, also nach Ablauf der Einspruchsfrist am 18. Juni 1975. Das Amtsgericht verwarf den Einspruch als verspätet. Hiergegen legte die Beschwerdeführerin “Beschwerde” ein, mit der sie geltend machte, sie sei erst am 17. Juni 1975 aus einem Urlaub zurückgekommen und habe das Einspruchsschreiben noch am gleichen Tage verfaßt. Zum “Beweis” berief sie sich auf ihren Ehemann und zwei weitere Personen. Das Landgericht verwarf diese “Beschwerde” mit dem Bemerken, sofern in ihr zugleich ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gesehen werden könne, habe darüber das Amtsgericht zu entscheiden.
Das Amtsgericht Hamburg-Altona lehnte durch Beschluß vom 15. September 1975 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Wer den Rechtsbehelf des Einspruchs erst “am vorletzten Tag der Frist, noch dazu einem Feiertag, … als einfachen Brief zur Post” gebe, handele nicht ohne Verschulden. Mit der hiergegen erhobenen sofortigen Beschwerde legte die nunmehr anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin eine eidesstattliche Versicherung ihres Ehemannes über den genauen Zeitpunkt (17 Uhr) und den genauen Ort (Postamt Hamburg-Bergedorf) der Absendung vor. Für eine normale Postlaufzeit von nur einem Tag innerhalb Hamburgs berief sie sich auf eine Auskunft der Oberpostdirektion.
Das Landgericht Hamburg verwarf mit dem Beschluß vom 1. Oktober 1975 das Rechtsmittel als unbegründet. Die Beschwerdeführerin habe nicht darauf vertrauen dürfen, daß das Einspruchsschreiben, auch wenn der betreffende Briefkasten des Postamts noch um 20.30 Uhr des Absendetages, wie vorgetragen, geleert worden sei, am folgenden Tag bei der Bußgeldstelle eingehen werde; unter Beachtung der “gebotenen und zumutbaren Sorgfalt” hätte sie die Möglichkeit eines späteren Zugangs einkalkulieren und “auf andere Weise” für die Rechtzeitigkeit des Einspruchs sorgen müssen.
II.
Die am 3. November 1975 eingegangene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Beschluß des Landgerichts. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Die von ihr beigefügte Auskunft der Oberpostdirektion Hamburg vom 24. Oktober 1975 besagt, daß der am 17. Juni 1975 vor der Leerung um 20.30 Uhr beim Postamt Hamburg 80 eingeworfene Brief am 18. Juni 1975 in Hamburg 1 hätte vorliegen müssen; die Deutsche Bundespost bedauere die Verzögerung und bitte um Entschuldigung.
III.
Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, dem Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist, hat von einer Äußerung abgesehen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Das Bundesverfassungsgericht hat in den Beschlüssen vom 3. Juni 1975 – 2 BvR 99/74 – und vom 16. Dezember 1975 – 2 BvR 854/75 – entschieden, daß die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG es verbieten, § 44 StPO dahin auszulegen, daß dem Bürger bei der schriftlichen Einlegung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl Verzögerungen der Briefbeförderung oder Briefzustellung durch die Deutsche Bundespost, die er nicht zu vertreten hat, als ein die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließendes Verschulden zugerechnet werden. Dieser Maßstab für die verfassungskonforme Auslegung des Merkmals “Verschulden” in § 44 StPO gilt auch dann, wenn diese Vorschrift gemäß § 52 OWiG auf die Versäumung der Frist für den Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid “entsprechend” anzuwenden ist. Daß die Anforderungen daran nicht überspannt werden dürfen, was ein Betroffener veranlaßt haben und vorbringen muß, um bei einer Versäumung der Einspruchsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erhalten, hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung für das Strafbefehls- wie das Bußgeldverfahren in gleicher Weise entschieden (vgl. BVerfGE 38, 35 [38]; 40, 88 [91], jeweils mit weiteren Nachweisen). Der Zugang zum Gericht darf nicht in unzumutbarer, aus sachlichen Gründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Das aber geschieht, wenn dem Bürger als Verschulden angelastet wird, daß er auf die normale, den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Bundespost entsprechende Postlaufzeit vertraut hat (Beschluß vom 16. Dezember 1975 – 2 BvR 854/75 –).
Die angegriffene Entscheidung beruht auf einer Verkennung dieser Maßstäbe. Sie war deshalb aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht zurückverwiesen worden.
Gemäß § 34 Abs. 4 BVerfGG sind die der Beschwerdeführerin entstandenen notwendigen Auslagen von der Freien und Hansestadt Hamburg zu erstatten.
Fundstellen