Verfahrensgang
OLG Nürnberg (Beschluss vom 27.07.2012; Aktenzeichen 1 Ws 286/12) |
LG Regensburg (Beschluss vom 15.05.2012; Aktenzeichen StVK 79/2010) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 27. Juli 2012 – 1 Ws 286/12 – und der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 15. Mai 2012 – StVK 79/2010 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen Beschlüsse, welche die Fortdauer seiner nachträglich angeordneten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung betreffen.
I.
1. Der 1979 geborene Beschwerdeführer wurde am 3. November 2005 durch Urteil des Landgerichts Kempten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 32 Fällen, in drei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Er hatte in einem Zeitraum von mehr als zwei Jahren einen zunächst zehn Jahre alten Jungen in zahlreichen Fällen sexuell missbraucht. Insbesondere hatte er mehrfach an dem Jungen den Oralverkehr durchgeführt sowie den Jungen einige Male den Analverkehr und in zwei Fällen den Oralverkehr an sich ausführen lassen. In drei Fällen erfolgten die Taten unter Einbeziehung eines weiteren Kindes. Eine Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung wurde nicht angeordnet.
2. Nach Verbüßung der Freiheitsstrafe ordnete das sachverständig beratene Landgericht Kempten am 23. März 2010 die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) an. Bei dem Beschwerdeführer sei eine homosexuelle Kernpädophilie diagnostiziert worden. Im Laufe des Strafvollzugs habe sich zusätzlich eine schizophrene Psychose entwickelt, die zur Zeit der Anlassverurteilung jedenfalls nicht erkennbar gewesen sei. Sie habe dazu geführt, dass der Beschwerdeführer einer Behandlung seiner sexuellen Devianz nicht mehr zugänglich gewesen sei. In der Folge habe er keine Möglichkeit, seinem sexuellen Trieb zur Pädophilie etwas entgegenzusetzen. Die Rückfallwahrscheinlichkeit liege daher bei weit über 50 %, zumal der Beschwerdeführer selbst angegeben habe, die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls sei höher als diejenige, dass er nicht rückfällig werde. Die durch die Psychose bedingte Haltung des Beschwerdeführers, sich einer weiteren Therapie wegen seiner sexuellen Orientierung zu versperren, begründe eine Gefährlichkeit aufgrund neuer Tatsachen, welche die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 StGB rechtfertige.
3. Mit Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing vom 26. Mai 2011 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung der Unterbringung abgelehnt und die Überweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus angeordnet.
4. Das aufnehmende Bezirkskrankenhaus Straubing führte in einer Stellungnahme vom 23. Januar 2012 aus, der Beschwerdeführer habe sich von Anfang an offen gegenüber therapeutischen Maßnahmen gezeigt. Auf seinen Wunsch hin habe er triebdämpfende Medikamente erhalten, welche er seinen Angaben zufolge als Entlastung empfunden habe. Alles in allem habe sich der Beschwerdeführer motiviert und introspektionsfähig präsentiert. Der bisherige Behandlungsverlauf sei tendenziell positiv zu beurteilen. Es stehe aber noch intensive therapeutische Arbeit bevor. Zum jetzigen Zeitpunkt sei eine Aussetzung der Unterbringung nicht zu verantworten, da außerhalb des Maßregelvollzugs rechtswidrige Taten zu erwarten seien.
5. Mit angegriffenem Beschluss vom 15. Mai 2012 ordnete die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit dem Sitz in Straubing die Fortdauer der Sicherungsverwahrung an. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) stehe dem nicht entgegen. Der Beschwerdeführer habe eine ganze Reihe seiner Taten nach dem Inkrafttreten des § 66b Abs. 1 StGB am 29. Juli 2004 begangen. Ein Rückwirkungsfall liege somit nicht vor, so dass sich die Prüfung einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten erübrige. Ausreichend für die Fortführung der Sicherungsverwahrung sei, dass die Begehung schwerer Sexualstraftaten drohe. Dies sei der Fall, da die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers fortbestehe. Wie sich aus der jüngsten Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses Straubing ergebe, sei eine Minderung des Rückfallrisikos zwischenzeitlich nicht eingetreten.
6. Mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 27. Juli 2012 verwarf das Oberlandesgericht Nürnberg die vom Beschwerdeführer eingelegte sofortige Beschwerde und schloss sich vollumfänglich „der ausführlichen und alle verfassungsrechtlichen Vorgaben beachtenden Entscheidung” des Landgerichts an.
Entscheidungsgründe
II.
Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse vor allem in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt. Der Sachverhalt sei nicht bestmöglich aufgeklärt worden. Die in Bezug genommenen Sachverständigengutachten seien über zwei Jahre alt und vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) erstellt worden. Wegen der nun geltenden strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung gebe es andere Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. Die vom Bezirkskrankenhaus geschilderte hohe Therapiemotivation des Beschwerdeführers sei ebenso wenig gewürdigt worden wie die Einnahme triebdämpfender Medikamente.
III.
1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
2. Der Generalbundesanwalt vertritt in seiner Stellungnahme die Ansicht, das Vertrauensschutzgebot sei nicht verletzt. Auch wenn fraglich sei, ob der Ansatz der Fachgerichte den verfassungsrechtlichen Vorgaben vor dem Hintergrund der Wertungen von Art. 5 EMRK vollständig gerecht werde, lägen jedenfalls eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten sowie eine psychische Störung vor. Auch ein Verstoß gegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung sei nicht gegeben. Die Instanzgerichte hätten sich auf die vor zwei Jahren erfolgte Begutachtung stützen dürfen, zumal sie die zwischenzeitlich eingetretenen Änderungen gewürdigt hätten.
3. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
IV.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG) und auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung vorliegen. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪388 ff.≫; 129, 37 ≪45 f.≫). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
1. Die auf § 66b Abs. 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) gestützte Anordnung der Fortdauer der nachträglichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat – neben den anderen Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung – auch § 66b Abs. 1 StGB in der hier maßgeblichen Fassung wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG erklärt (BVerfGE 128, 326). Zugleich hat es gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung der Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, angeordnet. Danach darf § 66b Abs. 1 StGB während seiner Fortgeltung nur nach Maßgabe einer – insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrenprognose und die gefährdeten Rechtsgüter – strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden (BVerfGE 129, 37 ≪45 f.≫).
aa) Die Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung wird in der Regel nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfGE 128, 326 ≪405 f.≫; 129, 37 ≪46≫).
bb) Soweit darüber hinaus ein nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG schutzwürdiges Vertrauen auf ein Unterbleiben der Anordnung einer Sicherungsverwahrung beeinträchtigt wird, ist dies angesichts des damit verbundenen Eingriffs in das Freiheitsrecht des Betroffenen verfassungsrechtlich nur zum Schutz höchster Verfassungsgüter zulässig. Der mit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundene Eingriff in das Vertrauen des Betroffenen auf das Unterbleiben einer entsprechenden Unterbringung kann deshalb nur dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK erfüllt sind. Da die Bestimmung der Voraussetzungen einer psychischen Störung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt, ist während der Weitergeltung der Vorschriften über die Sicherungsverwahrung bis zu einer Neuregelung insoweit auf das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG) zurückzugreifen (BVerfGE 128, 326 ≪388 ff.≫; 129, 37 ≪46 f.≫).
Die Gerichte sind bis zu einer Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung gehalten, über die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 genannten Fälle (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪332≫) hinaus auch in den Fallkonstellationen, in denen die Anwendung einer Norm nach Maßgabe der Urteilsgründe (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪388 ff.≫) in grundrechtlich geschütztes, durch die Wertungen von Art. 5 und Art. 7 EMRK gestärktes Vertrauen eingreift, die Sicherungsverwahrung nur noch dann anzuordnen beziehungsweise aufrechtzuerhalten, wenn die genannten erhöhten Verhältnismäßigkeitsanforderungen erfüllt sind (vgl. BVerfGE 129, 37 ≪47≫).
cc) § 66b Abs. 1 StGB ermöglicht die nachträgliche Anordnung und Aufrechterhaltung der Sicherungsverwahrung, obwohl im Ausgangsurteil des erkennenden Gerichts hiervon abgesehen und dies auch nicht vorbehalten wurde. Damit greift die Norm in das Vertrauen des Betroffenen auf ein Unterbleiben dieser Maßregel ein (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪389 f.≫; 129, 37 ≪47≫).
Das Gewicht der hierbei berührten Vertrauensschutzbelange wird durch die Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verstärkt (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪391 f.≫). Diese enthält in Art. 5 EMRK eine abschließende Auflistung zulässiger Gründe für eine Freiheitsentziehung (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 86; BVerfGE 128, 326 ≪394≫). Nach der Rechtsprechung der Kammer der 5. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt dabei eine Rechtfertigung der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK nur in Betracht, wenn das Ausgangsurteil zumindest die Möglichkeit der späteren Maßregelanordnung vorsehe. Ansonsten fehle der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung und fortgesetzter Freiheitsentziehung. Die nachträgliche Entscheidung, der betroffenen Person weiterhin die Freiheit zu entziehen, erfülle das Erfordernis einer „Verurteilung” im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK nicht, weil sie „keine Schuldfeststellung” mehr enthalte (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 6587/04, Haidn ./. Deutschland, Rn. 84, 86; Urteil vom 19. April 2012, Beschwerde-Nr. 61272/09, B. ./. Deutschland, Rn. 85 f.; BVerfGE 128, 326 ≪395≫).
Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) festgestellt, dass für die nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB und § 7 Abs. 2 JGG eine Rechtfertigung gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK generell ausgeschlossen ist. Dies gelte unabhängig vom zeitlichen Anwendungsbereich dieser Vorschriften, also auch in sogenannten „Neufällen”, da diese Vorschriften bereits tatbestandlich die nachträgliche Anordnung einer Freiheitsentziehung ermöglichten. Diese erfolge zwar durch ein eigenständiges (zweites) Urteil, das aber keine neuerliche Schuldfeststellung enthalte, sondern eine solche voraussetze (BVerfGE 128, 326 ≪395≫).
Für den Fall einer nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 StGB kann nichts anderes gelten. Auch insoweit erfolgt die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung durch ein Urteil, das keine neuerliche Schuldfeststellung enthält. Sie ist daher – unabhängig davon, ob die Anlasstaten vor oder nach Inkrafttreten der Vorschriften zur nachträglichen Sicherungsverwahrung begangen wurden – mit den Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK nicht vereinbar. Eine Rechtfertigung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 StGB kommt daher im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention nur unter der Voraussetzung einer psychischen Störung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK in Betracht (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪393 f.≫).
Unter Berücksichtigung dieser Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und in Anbetracht des erheblichen Eingriffs in das Vertrauen der in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG betroffenen Sicherungsverwahrten tritt folglich auch im Falle der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 StGB der legitime gesetzgeberische Zweck, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen, weitgehend hinter das grundrechtlich geschützte Vertrauen auf ein Unterbleiben der Maßregel zurück (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪399≫). Eine nachträglich angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung durch Sicherungsverwahrung kann daher unabhängig vom Zeitpunkt der Begehung der Anlasstaten nur noch dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG) leidet (BVerfGE 128, 326 ≪392≫, Nummer III.2. Buchstabe a des Tenors; 129, 37 ≪47 f.≫).
b) Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Die Gerichte verkennen die Anforderungen, die sich für eine verfassungsgemäße Entscheidung auf der Grundlage der weiter geltenden Vorschrift des § 66b Abs. 1 StGB aus den Maßgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ergeben. Entgegen der in den angefochtenen Beschlüssen vertretenen Auffassung liegt ein Eingriff in grundrechtlich geschütztes Vertrauen bei der Entscheidung über die Anordnung und Fortdauer der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 StGB auch dann vor, wenn die Anlasstaten, auf denen das Ausgangsurteil beruht, nach Inkrafttreten der Vorschriften über die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Juli 2004 begangen wurden. Die Gerichte haben nicht geprüft, ob die sich hieraus für die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung ergebenden erhöhten Verhältnismäßigkeitsanforderungen erfüllt sind. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen daher den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und 20 Abs. 3 GG. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg ist aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen
NStZ-RR 2013, 207 |
NPA 2013 |
StraFo 2013, 213 |
R&P 2013, 159 |