Verfahrensgang
OLG Nürnberg (Urteil vom 11.06.2002; Aktenzeichen 3 U 191/02) |
Tenor
Das Endurteil des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 11. Juni 2002 – 3 U 191/02 – verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
Das Endurteil des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
- Der Freistaat Bayern hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu ersetzen.
Gründe
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die zivilgerichtliche Untersagung einer Presseberichterstattung über eine getilgte Vorstrafe wegen einer Wirtschaftsstraftat.
I.
Der Beschwerdeführer zu 1 verlegt eine Tageszeitung, für die der Beschwerdeführer zu 2 als Journalist tätig ist.
1. In zwei im Januar 2001 veröffentlichten Artikeln in der vom Beschwerdeführer zu 1 verlegten Zeitung berichtete der Beschwerdeführer zu 2, dass der als Unternehmensberater tätige Kläger des Ausgangsverfahrens (nachfolgend: der Kläger) einer Gemeinde aus dem Verbreitungsgebiet der Zeitung ein Angebot seiner Auftraggeberin zur Modernisierung einer kommunalen Badeanstalt unterbreitet habe. Die Seriosität dieses Angebots sei zweifelhaft, da der Kläger und der Geschäftsführer seiner Auftraggeberin wegen Wirtschaftsstraftaten vorbestraft seien. Der Kläger sei im September 1989 zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Hierzu wurden unter Namensnennung des Klägers Einzelheiten der Urteilsbegründung offen gelegt. Unter anderem wurde berichtet, die Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts habe erklärt, sie ziehe mit der Verurteilung “einen Schlussstrich unter einen Bankrott über mehrere 100 Millionen DM”. Der Kläger habe “neben sträflicher Leichtfertigkeit auch noch Bilanzen geschönt”.
Ferner berichteten die Beschwerdeführer darüber, dass der Kläger vor der Veröffentlichung um eine Stellungnahme zu dem Vorwurf gebeten worden sei. Der Kläger habe die Beschwerdeführer daraufhin zur Unterlassung der beabsichtigten Berichterstattung aufgefordert und hierzu darauf hingewiesen, dass die Vorstrafe mittlerweile im Bundeszentralregister gelöscht sei und der Geschäftsführer seiner Auftraggeberin seine eigene Vorstrafe gegenüber den Geschäftspartnern nicht verheimlicht habe.
2. Das Oberlandesgericht hat in dem angegriffenen Urteil unter Abänderung der klagabweisenden erstinstanzlichen Entscheidung des Landgerichts eine erneute Verbreitung der in dem Beitrag enthaltenen Angaben zu der Vorstrafe des Beschwerdeführers untersagt.
Eine Medienberichterstattung über eine Straftat unter Namensnennung des Täters stelle regelmäßig eine erhebliche Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts dar. Über ihre Rechtswidrigkeit sei im Wege einer Abwägung mit der durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Berichterstattungsfreiheit der Presse zu entscheiden. Dem Persönlichkeitsrecht komme ein Vorrang zu. Zwar betraf die Verurteilung eine nicht unerhebliche Straftat des Klägers. Die Verurteilung liege mittlerweile jedoch elf Jahre zurück. Der Kläger habe sich seitdem straffrei geführt und dürfe sich in einem polizeilichen Führungszeugnis als nicht vorbestraft bezeichnen. Er sei in der Berichterstattung durch Namensnennung als ehemaliger Straftäter identifizierbar gemacht worden. Der darin liegende Eingriff in das Persönlichkeitsrecht sei von deutlicher Intensität. Durch ein aktuelles Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit sei er nicht gerechtfertigt. Der Kläger sei nur als Vermittler des Angebots seiner Auftraggeberin in Erscheinung getreten. Persönliches Vertrauen habe er allenfalls in untergeordnetem Umfang in Anspruch genommen. Vor allem habe der Kläger dem Beschwerdeführer zu 2 noch vor Veröffentlichung beider Artikel mitgeteilt, dass der Geschäftsführer seiner Auftraggeberin vorbestraft sei und dies gegenüber den Gemeindeorganen auch offen gelegt habe. Mit dieser Mitteilung des Geschäftsführers sei zugleich das Informationsinteresse der hierbei von den Gemeindeorganen repräsentierten Öffentlichkeit befriedigt worden. Einer zusätzlichen Aufklärung der Leserschaft über die Vorstrafe des Klägers habe es deshalb nicht bedurft.
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Grundrechts auf Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG.
Das Oberlandesgericht habe das Gewicht der berührten Grundrechtspositionen verkannt. Der Kläger werde allein in seiner Sozialsphäre beeinträchtigt. Gegenstand der früheren Verurteilung sei eine Wirtschaftsstraftat und damit ein berufliches Verhalten gewesen. Trete er nunmehr gegenüber einer Gemeinde unter Inanspruchnahme persönlichen Vertrauens als Vermittler und alleiniger Ansprechpartner der Gemeinde in Erscheinung, so sei es von dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit gefordert, auch die Frage seines straffreien Vorlebens zu beleuchten. Einer solchen umfassenden Information der lokalen Öffentlichkeit dürfe eine allein bei Gemeindeorganen vorhandene Kenntnis nicht gleichgestellt werden. Sie habe ohnedies nur die Vorstrafe des Geschäftsführers, nicht aber die des Klägers umfasst.
4. Der Freistaat Bayern und der Kläger hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführer auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu den Anforderungen an die Zulässigkeit einer Offenlegung von Vorstrafen des Betroffenen in den Massenmedien sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 35, 202 ≪219 ff.≫; 97, 391 ≪403 ff.≫).
2. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführer in ihrer von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Freiheit der Meinungsäußerung.
a) Die Berichterstattung genießt den Schutz der Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Der Schutz des Grundrechts umfasst auch eine Berichterstattung der Massenmedien (vgl. BVerfGE 85, 1 ≪11 f.≫). Wird die Presse durch ein zivilgerichtliches Unterlassungsurteil an einer erneuten Berichterstattung, hier über die Vorstrafe einer Person, gehindert, so liegt darin eine Beeinträchtigung des Grundrechts der Meinungsfreiheit.
b) Die Freiheit der Meinungsäußerung findet ihre Schranken nach Art. 5 Abs. 2 GG in den allgemeinen Gesetzen. Zu diesen Gesetzen gehören die zivilrechtlichen Vorschriften über den Schutz des Persönlichkeitsrechts durch Ansprüche auf Unterlassung nach §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 BGB. Bei der Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften haben die Gerichte neben der von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Freiheit der Meinungsäußerung auch den Schutzanspruch des von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu beachten. Erforderlich ist eine Abwägung zwischen der in dem Verbot der Berichterstattung liegenden Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit auf der einen und der Gefährdung des Persönlichkeitsrechts auf der anderen Seite (vgl. BVerfGE 94, 1 ≪8≫). Das Ergebnis der Abwägung unterliegt verfassungsgerichtlicher Nachprüfung darauf, ob die Gerichte die Bedeutung und Tragweite der von ihren Entscheidungen berührten Grundrechtspositionen unrichtig oder unvollkommen bestimmt oder ihr Gewicht unzutreffend eingeschätzt haben (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪93≫; 97, 391 ≪401≫; 101, 361 ≪388≫).
c) Die Abwägung durch das Berufungsgericht trägt den grundrechtlichen Belangen nicht hinreichend Rechnung. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind zwar die Ausführungen des Gerichts zum Schutz des Persönlichkeitsrechts des Klägers. Das Berufungsgericht hat jedoch die für die Veröffentlichung sprechenden Gründe nicht ausreichend erfasst und deshalb nur unzureichend gewichtet.
aa) Die Berichterstattung der Beschwerdeführer hatte eine zwischenzeitlich getilgte Vorstrafe des Klägers offen gelegt. Wahre Äußerungen sind auch dann hinzunehmen, wenn sie für den Betroffenen nachteilig sind, es sei denn, der Veröffentlichung stehen höherrangige Interessen des Betroffenen entgegen. Vorliegend kollidiert die Berichterstattung mit dem durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützten Interesse des Klägers, nach Ablauf von elf Jahren nach der Straftat mit ihr nicht in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu geraten und durch die Reaktion der Gemeinschaft nicht erneut sanktioniert zu werden (vgl. BVerfGE 35, 202 ≪233 f.≫). Mit der Haftentlassung gewinnt das Interesse des Täters an Resozialisierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft ein verstärktes Gewicht (vgl. BVerfGE 35, 202 ≪235≫), das durch weiteren Zeitablauf zunehmen kann.
Einfachrechtlich findet der Schutz dieses Interesses seinen Ausdruck insbesondere in den Regelungen des Gesetzes über das Zentralregister und das Erziehungsregister (BZRG), die durch Tilgungsfristen und hieran anknüpfende Vorhaltungs- und Verwertungsverbote den Resozialisierungsgedanken verwirklichen (vgl. BVerfGE 36, 174 ≪188≫). Es trägt jedoch den von Art. 5 Abs. 1 GG umfassten Berichterstattungsinteressen Rechnung, wenn die Gerichte die Offenlegung einer registerrechtlich getilgten Straftat gleichwohl dort zulassen, wo dies durch ein überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit gerechtfertigt ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 1993 – 1 BvR 172/93 –, NJW 1993, 1463 ≪1464≫ sowie vom 24. Januar 2006 – 1 BvR 2602/05 –, NJW 2006, S. 1865).
bb) Das Oberlandesgericht hat Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verkannt, als es das Gewicht des Informationsinteresses bestimmte und als nicht hinreichend ansah, um die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts zu rechtfertigen.
Betrifft ein Beitrag zur Meinungsbildung eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage, so dürfen bei der Auslegung der die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetze an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (vgl. BVerfGE 42, 163 ≪170≫; 60, 234 ≪240≫; stRspr). Zugunsten der Meinungsfreiheit fällt auch ins Gewicht, wenn die Berichterstattung einem im öffentlichen Interesse liegenden Handeln staatlicher oder kommunaler Stellen gilt. Hier wird bedeutsam, dass das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 GG aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪293≫). Dieser Schutzgehalt strahlt auch auf die Beurteilung einer Information ein, die zwar eine Privatperson betrifft, sich aber mittelbar auf das Verhalten öffentlicher Stellen bezieht.
Der hier maßgebende Zeitungsbericht behandelte die Seriosität des Klägers als einer auf Seiten der Anbieterin stehenden Person aus Anlass eines der Gemeinde unterbreiteten Investitionsvorhabens, dessen Verwirklichung den Gemeindehaushalt nachhaltig belasten konnte. Für die Beurteilung dieses kommunalen Vorhabens seitens der Öffentlichkeit war daher auch eine Vorstrafe des Klägers als Anhaltspunkt für die Seriosität der Anbieterseite bedeutsam.
Das Informationsinteresse der Gemeindeöffentlichkeit an der Vorstrafe des Klägers war entgegen der Auffassung des Gerichts nicht schon dadurch befriedigt, dass der Geschäftsführer der Auftraggeberin des Klägers seine eigene Vorstrafe gegenüber den Gemeindeorganen offen gelegt hatte. Über die Vorstrafe des Klägers war die Gemeinde demgegenüber nicht informiert. Es hätte der Möglichkeit einer kritischen öffentlichen Begleitung der Entscheidung der Gemeindeorgane über das unterbreitete Angebot gedient, die Einwohnerschaft über die Vertrauenswürdigkeit aller auf Seiten der Anbieterin maßgebend handelnden Personen informieren zu dürfen. Eine allein bei Gemeindeorganen bestehende Kenntnis von Vorstrafen, und dies nur im Hinblick auf einen der Beteiligten, konnte das Informationsinteresse nicht befriedigen.
Das Gericht durfte ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der Vorstrafe des Klägers auch nicht mit der Erwägung verneinen, dass der Kläger nur als Vermittler aufgetreten sei, der kein persönliches Vertrauen für sich in Anspruch genommen habe. Es mag zivilrechtlich zutreffen, dass der Kläger nicht Vertragspartner werden sollte und auch nicht kraft Inanspruchnahme persönlichen Vertrauens als Vermittler zu haften hatte. Die rechtlichen Konstruktionen war für die Beurteilung des öffentlichen Informationsinteresses jedoch von untergeordneter Bedeutung. Der Kläger war vorliegend als Ansprechpartner der Gemeinde in Erscheinung getreten. Er war keineswegs nur eine bloße Randfigur des Geschehens. Für eine Gesamtbewertung der Seriosität des Angebots und einer möglichen Entscheidung über das Investitionsvorhaben konnte daher auch bedeutsam werden, ob der Kläger als Vermittler des Angebots wegen einer Wirtschaftsstraftat (hier: Betrug, Kreditbetrug und Bankrott) vorbestraft war, die mit einer früheren beruflichen Tätigkeit bei einer Gesellschaft, die Kapitalanlagen konzipierte und vertrieb, verknüpft war.
Bei der Abwägung des Informationsinteresses mit dem Persönlichkeitsrecht war zugunsten der Beschwerdeführer zu berücksichtigen, dass sie sich nicht auf die Veröffentlichung des Umstands der Vorstrafe beschränkt, sondern sowohl die Tilgung der Vorstrafe wie den Widerspruch des Klägers gegen ihre Veröffentlichung mitgeteilt hatten. Damit war dem Publikum die eigenständige Beurteilung möglich, ob es der Vorstrafe des Klägers gleichwohl eine aktuelle Bedeutung beimessen wollte. Zudem hatte der Beitrag zutreffend über Einzelheiten der Vorstrafe berichtet und dabei unter anderem mitgeteilt, dass der Tat nach Auffassung des Strafgerichts “sträflicher Leichtfertigkeit” des Klägers zugrunde gelegen habe und das Gericht mit der Verurteilung “einen Schlussstrich” ziehen wolle. Dies eröffnete dem Publikum Möglichkeiten, auch dem Kläger günstige Schlussfolgerungen zu ziehen.
d) Die angegriffene Entscheidung beruht auf den dargelegten Abwägungsmängeln. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG für die Abwägung ergebenden Anforderungen zur Zurückweisung der Berufung des Klägers gelangt wäre.
3. Gemäß § 95 Abs. 1 BVerfGG ist festzustellen, dass die angegriffene Entscheidung die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Das Urteil des Oberlandesgerichts ist aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 1759478 |
NJW-RR 2007, 1340 |
WM 2007, 1001 |