Verfahrensgang
OLG Hamm (Beschluss vom 12.09.2006; Aktenzeichen 1 Vollz (Ws) 600/06) |
LG Münster (Beschluss vom 19.07.2006; Aktenzeichen StVK 207/06) |
Tenor
Der Beschluss des Landgerichts Münster vom 19. Juli 2006 – StVK 207/06 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Landgericht Münster zurückverwiesen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 12. September 2006 – 1 Vollz (Ws) 600/06 – wird damit gegenstandslos.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung einer Besuchserlaubnis im Maßregelvollzug.
1. Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 7. Oktober 2005 in der Westfälischen Maßregelvollzugsklinik R. Am 2. November 2005 beantragte er die Erteilung einer Besuchsgenehmigung für seine Mutter und seinen Neffen; gleichzeitig teilte er mit, dass er eine “Belästigung” seiner Besucher durch ein Vorgespräch mit einem Therapeuten ablehne. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2005 rügte der Beschwerdeführer, dass sein Besuchsantrag lediglich mündlich abgelehnt worden sei, und beantragte erneut die Genehmigung eines Besuchs seiner Mutter und seines Neffen ohne vorherige Durchführung eines Erstgesprächs mit dem therapeutischen Personal. Als Anlage fügte er ein Schreiben der Mutter und des Neffen bei, in dem diese bestätigten, ein aufgezwungenes Gespräch nicht zu wünschen.
2. Die Klinik lehnte den Antrag ab. In der Klinik sei – im Benehmen mit der Rechtsabteilung des Trägers sowie mit dem Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug – vor einem erstmaligen Besuch durch Angehörige oder andere Personen die Durchführung eines Gespräches seitens der Klinik mit dem Besucher vorgeschrieben.
3. Den gegen den ablehnenden Bescheid gerichteten Widerspruch des Beschwerdeführers wies der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug Nordrhein-Westfalen mit Widerspruchsbescheid vom 10. März 2006 zurück. Die Ablehnung des Besuchsantrages sei recht- und zweckmäßig. Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Klinik sei erforderlich, dass sich das therapeutische Personal anlässlich des Erstbesuchs im Rahmen eines Erstgesprächs mit Besuchern zumindest einen Eindruck davon verschaffe, wie Besucher und Patient zueinander stünden, ob die Besucher dem Maßregelvollzug grundsätzlich positiv gegenüberstünden und ob ausgeschlossen werden könne, dass es während des Besuchs zu erheblichen Konflikten komme.
4. Der Beschwerdeführer stellte daraufhin Antrag auf gerichtliche Entscheidung, mit dem er begehrte, die Klinik zur Genehmigung des Besuchs seiner Mutter und seines Neffen ohne ein therapeutisches Erstgespräch zu verpflichten und eine entsprechende Verpflichtung in Bezug auf alle Personen auszusprechen, die mit ihm im ersten Verwandtschaftsgrad stünden und das 18. Lebensjahr vollendet hätten. Die Verpflichtung zur Durchführung eines Erstgesprächs greife ohne Rechtsgrundlage in seine grundrechtlich geschützte Selbstbestimmung und seine Familienbeziehungen ein. Sie könne nicht auf § 9 Abs. 2 des nordrhein-westfälischen Maßregelvollzugsgesetzes (MRVG NRW, Gesetz vom 15. Juni 1999, GV NRW 1999, S. 402) gestützt werden, da nach dieser Bestimmung Einschränkungen des Besuchsrechts nur bei konkreten Anhaltspunkten für eine Gefährdungslage zulässig seien. Auch sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet worden, da als milderes Mittel eine Besuchsüberwachung in Betracht gekommen wäre.
5. Der zuständige Richter der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts wies den Beschwerdeführer darauf hin, dass die im Antrag auf gerichtliche Entscheidung angesprochene Problematik bereits Gegenstand eines Kammerbeschlusses vom 23. Dezember 2005 gewesen sei. Dort sei zu der in Rede stehenden Problematik folgendes ausgeführt: “Im Übrigen wäre der Antrag aber auch unbegründet. Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung innerhalb des Maßregelvollzuges ist es einem Untergebrachten ganz allgemein zuzumuten, dass anlässlich von Erstgesprächen von Besuchern seitens des Fachpersonals ein Eindruck gewonnen wird, in welchem Verhältnis Besucher und Besuchter zueinander stehen. Insbesondere sind solche Gespräche dazu geeignet abzuklären, ob zu erwarten ist, dass die Besuche konfliktfrei abgewickelt werden können.” Diesbezüglich habe sich die Rechtsauffassung der Kammer nicht geändert. Die Anträge des Beschwerdeführers müssten daher negativ beschieden werden, weshalb angefragt werde, ob eine Entscheidung dennoch gewünscht werde. Der Beschwerdeführer stellte daraufhin einen Befangenheitsantrag, den das Landgericht mit Beschluss vom 5. Mai 2006 zurückwies. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 24. Mai 2006 als unzulässig; die Ablehnung des Befangenheitsantrags könne nur zusammen mit einer Rechtsbeschwerde gegen den noch zu erlassenden Beschluss gemäß §§ 109 ff. StVollzG angefochten werden.
6. Das Landgericht verwarf mit Beschluss vom 19. Juli 2006 den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet. Gemäß § 9 Abs. 1 MRVG NRW stehe dem Beschwerdeführer zwar grundsätzlich ein Besuchsrecht zu. Die folgenden Absätze dieser Vorschrift schränkten dieses Recht jedoch nicht unerheblich ein; so könnten etwa Besuche nur in Gegenwart von Aufsichtspersonen gebilligt oder ganz untersagt werden. Damit werde eindeutig klargestellt, dass sich die Klinik für die Genehmigung von Besuchen eine Tatsachengrundlage schaffen müsse, um die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt gewährleisten zu können. Erstgespräche mit Besuchern in Gegenwart einer fachlich geschulten Person der Klinik drängten sich daher geradezu auf. In solchen Gesprächen könnten insbesondere Informationen über das Verhältnis des Besuchers zu den Patienten, aber auch seine Einstellung zu der gerichtlich angeordneten Maßregel gewonnen werden. Vor allem werde sich der Gesprächsteilnehmer aber auch ein persönliches Bild von dem Besucher machen können, das für eine uneingeschränkte Besuchsbewilligung oder für eingeschränkte Besuche, etwa in Gegenwart einer Aufsichtsperson, ausschlaggebend sein könne. Dass eine solche Regelung aus Gründen der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in einer Klinik, in der sich zum Teil seelisch stark geschädigte, aber auch gefährliche Personen aufhielten, unbedingt erforderlich sei, vermöge der Beschwerdeführer jedoch nicht zu akzeptieren. Seine diesbezügliche Uneinsichtigkeit möge Folge seines Krankheitsbildes sein; anders sei es nicht zu erklären, dass er bis heute darauf bestehe, dass seine Verwandten ihn ohne ein Erstgespräch besuchen könnten. Nach telefonischer Auskunft der Klinik habe er nämlich nach wie vor keinen Besuch seiner Mutter oder seines Neffen erhalten, obwohl sich das Verfahren auf gerichtliche Entscheidung wegen des inzwischen durchgeführten Befangenheitsverfahrens nun über mehr als acht Monate hinziehe.
7. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung materiellen Rechts. Die Auslegung des § 9 MRVG NRW durch das Gericht stehe im Widerspruch zu § 1 Abs. 1 Satz 1, § 5 Satz 2 und § 22 Abs. 4 MRVG NRW. Er sei der Ansicht, dass der zuständige Richter versuche, ihn zu diskriminieren, da er ihm unsachlich und falsch unterstelle, dass sein Antrag die Folge einer krankheitsbedingten Uneinsichtigkeit sei. Das Oberlandesgericht Hamm verwarf die Rechtsbeschwerde mit Beschluss vom 12. September 2006 als unzulässig, da es nicht geboten sei, die Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§ 116 Abs. 1, § 119 Abs. 3, § 138 Abs. 3 StVollzG).
Entscheidungsgründe
II.
1. Mit seiner rechtzeitig eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1, Art. 19 Abs. 2 und 4, Art. 103 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 1 GG. Er wendet sich zunächst unmittelbar gegen die Vorschrift des § 116 Abs. 1 StVollzG. Diese verstoße gegen Art. 19 Abs. 4 GG, da sie es dem Gericht überlasse, zu entscheiden, ob es sich einer Klage oder Beschwerde annehme. Dadurch bekomme dieses Verfahren den Anschein einer “Glückslotterie ohne Gewähr”. Weiter sei nicht einsehbar, warum das Oberlandesgericht seine Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen habe, da doch durch die Vorschrift des § 118 Abs. 3 StVollzG gerade gesichert werden solle, dass das Rechtsbeschwerdegericht nicht mit unzulänglichen Rechtsbehelfen belästigt werde. Da er die Rechtsbeschwerde zur Niederschrift der Geschäftsstelle eingelegt und der zuständige Rechtspfleger diese mit einem eigenständigen Schriftsatz begründet habe, sei die Annahme der Unzulässigkeit abwegig. Zur Sache macht der Beschwerdeführer geltend, es könne nicht einmal ansatzweise davon ausgegangen werden, dass seine Mutter oder sein Neffe einen schädlichen Einfluss auf die therapeutischen Bemühungen der Klinik ausüben würden, da es solche Bemühungen nicht gebe. Auch für eine Gefährdung der Sicherheit und Ordnung in der Klinik sei nichts ersichtlich. Im Gegensatz zu den angegriffenen Entscheidungen, die offenbar davon ausgingen, dass eine Beschränkung des Besuchsrechts immer schon dann in Betracht komme, wenn eine Gefährdungslage im Sinne von § 9 Abs. 2 MRVG NRW durch das Vollzugspersonal lediglich nicht ausgeschlossen werden könne, sei er der Auffassung, dass die Ablehnung eines Besuchsantrages nur in Betracht komme, wenn von dem Besucher eine konkrete Gefahr ausgehe. Die völlige Versagung des Besuchs verletze überdies das Verhältnismäßigkeitsgebot; als mildere Maßnahme wäre etwa eine Besuchsüberwachung in Betracht gekommen. Das Erstbesuchergespräch sei in Wirklichkeit ein “Verhör” und solle dazu dienen, festzustellen, ob die persönliche (also auch die politische) Einstellung des Besuchers geeignet sei, in Anwendung des § 9 Abs. 2 MRVG NRW den Besuch zu “maßregeln”. Dadurch werde der Besucher im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG diskriminiert. Da es Erstbesuchergespräche im Strafvollzug nicht gebe, liege auch eine Diskriminierung der nach § 63 StGB Untergebrachten aufgrund ihrer Behinderung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vor.
2. Dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen wurde gemäß § 93c Abs. 2, § 94 Abs. 2 BVerfGG Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Es hat von einer Stellungnahme abgesehen.
III.
Die Verfassungsbeschwerde wird, soweit sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landgerichts Münster vom 19. Juli 2006 wendet, gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Insoweit liegen die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) vor.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist fristgerecht erhoben (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), ausreichend begründet (§ 23 Abs. 1, § 92 BVerfGG) und auch im Übrigen zulässig. Der Beschwerdeführer war nicht gehalten, zur Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) zunächst den Weg der Anhörungsrüge (§ 120 Abs. 1, § 138 Abs. 3 StVollzG, § 33a StPO) zu beschreiten. Die Verfassungsbeschwerde bezeichnet zwar auch Art. 103 Abs. 1 GG als verletzt. Die nachfolgende Begründung greift dies aber nicht wieder auf. Nach dem vorgetragenen Sachverhalt ist, ohne dass es dazu gesonderter Prüfungsschritte bedürfte, offensichtlich, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht vorliegt; die Nennung des Art. 103 Abs. 1 GG als verletztes Grundrecht beruht ersichtlich allein auf einer Verkennung des Gewährleistungsgehalts dieses Grundrechts. Auf die Erhebung einer demnach offensichtlich aussichtslosen Anhörungsrüge kann der Beschwerdeführer als Voraussetzung der Zulässigkeit seiner Verfassungsbeschwerde nicht verwiesen werden (vgl. BVerfGK 7, 403 ≪407≫).
2. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG. Die Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG).
a) Grundrechte dürfen nur durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes und nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Dies gilt allgemein und daher auch für Gefangene (vgl. BerfGE 33, 1 ≪11≫; 89, 315 ≪322 f.≫; 116, 69 ≪80≫; BVerfGK 2, 102 ≪105≫) und im Maßregelvollzug Untergebrachte. Soweit eine sachgerechte Behandlung im Maßregelvollzug die Einräumung therapeutischer Beurteilungsspielräume erfordert, berührt dies nicht die grundsätzliche verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage für Grundrechtsbeschränkungen im Maßregelvollzug (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2007 – 2 BvR 9/06 – www.bverfg.de). Damit sind auch einer erweiternden Auslegung bestehender Eingriffsnormen verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt.
Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage betrifft auch Beschränkungen des Rechts, mit Personen außerhalb der Anstalt zu verkehren (vgl. BVerfGE 89, 315 ≪322≫). Beschränkungen der Besuchskontakte im Freiheitsentzug greifen in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein; geht es um den Besuchskontakt zu Familienangehörigen, so ist das insoweit speziellere Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG berührt (vgl. BVerfGE 89, 315 ≪322, 323≫).
In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist wiederholt die besondere Bedeutung hervorgehoben worden, die dem in Art. 6 Abs. 1 GG verbürgten Schutz von Ehe und Familie bei der Entscheidung über Besuche von Ehegatten und Familienangehörigen in der Untersuchungshaft zukommt (vgl. BVerfGE 42, 95 ≪101 f.≫; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. August 1993 – 2 BvR 1469/93 –, NJW 1993, S. 3059; vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 –, StV 1993, S. 592 ≪593≫; vom 25. Juli 1994 – 2 BvR 806/94 –, NStZ 1994, S. 604 ≪604 f.≫, und vom 23. Oktober 2006 – 2 BvR 1797/06 –, StraFo 2006, S. 490 ≪491≫). Auch im Strafvollzug bleibt die Erhaltung des Kontakts zu den Familienangehörigen ein bei Vollzugsentscheidungen zu berücksichtigender, grundrechtlich geschützter Belang. Hier ist besonders auch die Bedeutung der Familienbeziehungen und der Möglichkeit, diese Beziehungen auch in der Haft zu pflegen, für die Vermeidung schädlicher Folgen des Freiheitsentzuges und für die Wiedereingliederungschancen des Inhaftierten zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 89, 315 ≪322≫; 116, 69 ≪87≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. April 2006 – 2 BvR 818/05 –, EuGRZ 2006, S. 275 ≪277≫). Für den Maßregelvollzug kann insoweit nichts anderes gelten. Einschränkungen des Besuchsrechts unterliegen demgemäß, wie im Strafvollzug, so auch im Maßregelvollzug einer Verhältnismäßigkeitskontrolle, die der Bedeutung sozialer Kontakte und insbesondere der Pflege von Familienbeziehungen für den Untergebrachten Rechnung tragen muss (vgl. zum Strafvollzug BVerfGE 89, 315 ≪323≫; für den Maßregelvollzug LG Bayreuth, Beschluss vom 31. Oktober 1989 – StVK 530/89 ≪UH≫ –, ZfStrVo 1991, S. 242; Bernsmann, Maßregelvollzug und Grundgesetz, in: Blau/Kammeier ≪Hrsg.≫; Straftäter in der Psychiatrie, 1984, S. 142 ≪155≫; Lesting, in: Kammeier, Maßregelvollzugsrecht, 2. Aufl. 2002, Kap. G Rn. 16 ff.; Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, 6. Aufl. 2003, S. 64).
b) Nach diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben kann die angegriffene Entscheidung des Landgerichts keinen Bestand haben.
Schon mit der Frage, ob für die Versagung von Besuchskontakten bei fehlender Bereitschaft zu einem therapeutischen Erstgespräch eine ausreichende gesetzliche Grundlage vorliegt, hat das Gericht sich nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise auseinandergesetzt.
Eine ausdrückliche Ermächtigung, aufgrund deren die Klinik berechtigt wäre, Besuchskontakte von therapeutischen Erstgesprächen mit den Besuchern abhängig zu machen, ist dem Maßregelvollzugsgesetz NRW nicht zu entnehmen. § 9 Abs. 2 Satz 1 MRVG NRW gestattet die Untersagung oder Einschränkung von Besuchskontakten nur aus zwingenden Gründen der Therapie, des geordneten Zusammenlebens und der Sicherheit. Mit der Feststellung, hierdurch sei eindeutig klargestellt, dass die Klinik sich für die Genehmigung von Besuchen eine Tatsachengrundlage schaffen müsse, um Sicherheit und Ordnung in der Anstalt gewährleisten zu können, und daraus folge die Zulässigkeit der Anordnung von Erstgesprächen als Voraussetzung einer Besuchsgenehmigung, verkennt das Landgericht seine Prüfungspflichten bei der Auslegung und Anwendung von Ermächtigungen zum Grundrechtseingriff.
Die Annahme, eine Eingriffsermächtigung für die Vollzugsbehörden, die ohne weitere Spezifizierung auf Erfordernisse der Sicherheit und Ordnung abstellt, gestatte damit nicht nur Eingriffe zur Abwehr erkannter Gefahren für die Sicherheit und Ordnung der jeweiligen Anstalt, sondern auch Eingriffe zur Feststellung, ob eine konkrete Gefahr für Sicherheit und Ordnung überhaupt vorliegt, ist alles andere als selbstverständlich. Derartige Eingriffsermächtigungen sind vielmehr in der Regel gerade zum Schutz der Grundrechte der Betroffenen dahingehend auszulegen, dass zu ihrer Anwendung konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Anstaltssicherheit oder -ordnung bereits vorliegen müssen (vgl. zu Besuchsbeschränkungen im Strafvollzug BVerfGE 89, 315 ≪323≫; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 10. Aufl. 2005, § 27 Rn. 2 m.w.N.; in der Untersuchungshaft BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93, NStZ 1994, S. 52; im Maßregelvollzug LG Arnsberg R&P 1990, S. 49 ≪50≫; für die Untersuchungshaft allg. BVerfGE 57, 170 ≪177≫, m.w.N.; für den Strafvollzug zur Erforderlichkeit näherer personenbezogener Anhaltspunkte für eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr bei hierauf gestützter Ablösung aus dem offenen Vollzug oder Versagung von Vollzugslockerungen BVerfGK 2, 318 ≪322≫; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Dezember 1997 – 2 BvR 1404/96 –, NJW 1998, S. 1133 ≪1134≫, und vom 1. April 1998 – 2 BvR 1951/96 – NStZ 1998, S. 430 ≪430≫). Soweit etwas anderes angenommen wird, muss dies auf eine erkennbare Regelungsentscheidung des Gesetzgebers zurückführbar sein und bedarf einer entsprechenden, etwa auf die Regel-Ausnahme-Struktur der betreffenden Norm oder vergleichbare Anzeichen für einen dahingehenden Willen des Gesetzgebers gestützten Begründung (vgl. zur Zulässigkeit des Abstellens auf die abstrakte Gefährdungseignung von Gegenständen bei der Anwendung des § 70 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 StVollzG BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 28. Februar 1994 – 2 BvR 2731/93 –, NStZ 1994, S. 453, und vom 24. März 1996 – 2 BvR 222/96 –, NStZ-RR 1996, S. 252 ≪253≫).
Eine eindeutige Rechtsgrundlage für Besuchsbeschränkungen aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung stellt § 9 Abs. 2 Satz 1 MRVG NRW demnach nur für den Fall bereit, dass konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Sicherheit oder des geordneten Zusammenlebens vorliegen. Zwar ist es nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht von vornherein ausgeschlossen, darüber hinaus auch Maßnahmen, die erst der Beschaffung von Informationen über etwaige konkrete Gefährdungen der Sicherheit dienen sollen, als durch zwingende Gründe der Sicherheit im Sinne der genannten Bestimmung gefordert anzusehen. Insoweit bedürfte es aber zumindest tragfähiger Gründe für die Annahme, dass gerade auch diese Vorverlagerung der Eingriffsschwelle – über bloße Zweckmäßigkeitserwägungen hinaus – aus Sicherheitsgründen zwingend geboten und daher von der gesetzlichen Eingriffsermächtigung mit umfasst ist.
Eine tragfähige Begründung dafür, dass – auch bei entgegenstehendem Willen des Untergebrachten – die routinemäßige, von konkreten Anhaltspunkten für drohende Gefährdungen der Schutzgüter des § 9 Abs. 2 MRVG NRW unabhängige Durchführung eines Erstgesprächs mit Besuchswilligen vor dem ersten Besuch zur Wahrung der Sicherheit und des geordneten Zusammenlebens in der Anstalt zwingend erforderlich wäre, liegt der Entscheidung des Landgerichts nicht zugrunde.
Angesichts der Bedeutung, die Besuchen der nächsten Angehörigen für die Aufrechterhaltung der familiären Bindungen und die Wiedereingliederung des Maßregelpatienten zukommt, liegt es zunächst eher nahe, grundsätzlich davon auszugehen, dass derartige Besuche eine positive Wirkung für den Untergebrachten haben, sofern nicht bereits zum Zeitpunkt der Stellung des ersten Besuchsantrages konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, dass von einem Besuch der Angehörigen eine Gefahr für die therapeutischen Bemühungen der Klinik oder gar für die Sicherheit oder Ordnung der Einrichtung ausgehen würde. Konkrete Erfahrungen, die in Bezug auf den Maßregelvollzug dafür sprächen, dass die Vermutung eines positiven Effekts der Aufrechterhaltung von Familienbindungen – unabhängig von konkreten gegenteiligen Anhaltspunkten – grundsätzlich unrichtig wäre, hatte die Klinik weder in ihrer Entscheidungsbegründung noch im fachgerichtlichen Verfahren vorgetragen. Für eine konkrete Veranlassung, in einer Art Umkehr der Beweislast Besuchen von Familienangehörigen ein Verfahren vorzuschalten, in dem diese sich als für Besuchskontakte geeignet zu erweisen haben, war schon von daher nichts Handfestes ersichtlich (vgl. zur Überprüfung der Eignung als Bezugsperson für Lockerungen im Strafvollzug OLG Karlsruhe, ZfStrVo 1983, S. 181 ≪184≫).
Die angegriffene Entscheidung prüft auch nicht, ob etwaigen aus Besuchskontakten hervorgehenden Gefahren für die Sicherheit und das geordnete Zusammenleben in der Klinik auf andere – weniger und gezielter eingreifende – Weise als durch verordnete Erstgespräche noch rechtzeitig und hinreichend wirksam begegnet werden könnte. Unter anderem lässt sie jede Auseinandersetzung mit der vom Beschwerdeführer bereits im fachgerichtlichen Verfahren aufgeworfenen Frage vermissen, ob nicht eine Besuchsüberwachung als milderes, gleich geeignetes Mittel anzusehen wäre. Die Überwachung von Besuchen stellt zwar gegenüber dem Abhängigmachen der Besuchsgenehmigung von einem zuvor absolvierten Erstgespräch mit den künftigen Besuchern nicht grundsätzlich das mildere Mittel dar. Bei unfreiwilliger Zufügung könnte durchaus die Überwachung als eingriffsintensiver empfunden werden. Beurteilt jedoch der Untergebrachte selbst dies anders, so ist dies, soweit es um seine grundrechtlich geschützte Sphäre geht, für die Feststellung der Schwere des Eingriffs zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 89, 315 ≪324≫).
Das Landgericht hätte daher, auch wenn es in verfassungsrechtlich vertretbarer Weise zu der Auffassung gelangt wäre, dass § 9 Abs. 2 MRVG NRW hier als Eingriffsgrundlage überhaupt in Betracht kam, die Möglichkeiten eines weniger weit im Vorfeld etwaiger konkreter Sicherheits- und Ordnungsprobleme angesiedelten Eingreifens prüfen müssen. So wäre etwa der Frage nachzugehen gewesen, ob die Schutzgüter des § 9 Abs. 2 Satz 1 MRVG NRW nicht ausreichend dadurch gewahrt werden könnten, dass bei konkreten Anzeichen für schädliche Auswirkungen des Besuchskontakts die Genehmigung für weitere Besuche versagt oder von Vorbedingungen abhängig gemacht wird. Auch hierzu fehlte es an einem substantiierten Vortrag seitens der Klinik.
Verneinendenfalls hätte das Gericht weiter klären müssen, ob es der Klinik nicht auch im Rahmen einer visuellen oder akustischen Überwachung der ersten Besuchskontakte durch ein Mitglied des therapeutischen Personals möglich gewesen wäre, ausreichende Erkenntnisse zu gewinnen. Sollte zweifelhaft gewesen sein, ob dem Hinweis des Beschwerdeführers auf die Möglichkeit der Besuchsüberwachung als milderes Mittel eine ernstgemeinte Bewertung des Gewichts des Eingriffs zugrundelag, so durfte das Gericht dies jedenfalls nicht zum Anlass nehmen, den betreffenden Vortrag des Beschwerdeführers ohne diesbezügliche Aufklärung einfach zu übergehen.
3. Soweit der Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit der in § 116 Abs. 1 StVollzG normierten besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen geltend macht, ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist die Normierung besonderer Zulässigkeitsvoraussetzungen verfassungsrechtlich unbedenklich, da Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug gewährleistet (vgl. BVerfGE 104, 220 ≪231 f.≫) und dementsprechend der Zugang zu einer vorgesehenen Rechtsmittelinstanz grundsätzlich von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden darf. Auch dem Gebot der Rechtsmittelklarheit (vgl. BVerfGE 49, 148 ≪164≫; 87, 48 ≪65≫; 107, 395 ≪416≫; 108, 314 ≪349≫; 114, 196 ≪237≫) genügt § 116 Abs. 1 StVollzG. Die Vorschrift lässt hinreichend deutlich erkennen, unter welchen Voraussetzungen einzelne erstinstanzliche Entscheidungen der Nachprüfung durch das Oberlandesgericht zugänglich gemacht werden sollen.
4. Ob durch die Entscheidung des Landgerichts weitere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt worden sind, kann angesichts des festgestellten Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 GG offen bleiben.
5. Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf dem festgestellten Grundrechtsverstoß. Sie ist daher aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Entscheidung des Oberlandesgerichts wird damit gegenstandslos.
6. Die Entscheidung über die Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Broß, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1976307 |
ZAP 2008, 1083 |
NStZ-RR 2008, 261 |
NPA 2009 |
StRR 2008, 235 |
StV 2009, 148 |
R&P 2008, 223 |