Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Verfahrensgang
Tenor
Die sofortige Vollziehung der Ordnungsverfügung der Regierung von Unterfranken vom 21. Februar 2003 – 622-2661.00-24/02 – wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, vorläufig ausgesetzt.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfahren über die einstweilige Anordnung zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit des Widerrufs ihrer Approbation als Apothekerin sowie der Einziehung ihrer Approbationsurkunde.
1. Die Beschwerdeführerin betreibt seit Mai 1988 eine Apotheke in Würzburg. Wegen gemeinschaftlichen Betruges in 24 sachlich zusammentreffenden Fällen im Zeitraum von April 1998 bis Februar 2001, in 17 Fällen jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung, sowie wegen Steuerhinterziehung wurde die Beschwerdeführerin durch Strafbefehl vom 11. Dezember 2002 wegen der Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und wegen der Betrugstaten zu einer gesondert festgesetzten Gesamtgeldstrafe in Höhe von 270 Tagessätzen zu je 70 € verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Daraufhin widerrief die Regierung von Unterfranken mit Bescheid vom 21. Februar 2003 die Approbation der Beschwerdeführerin, zog die Approbationsurkunde ein und ordnete den Sofortvollzug dieser Verfügungen an. Die Beschwerdeführerin beantragte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag ab. Zur Begründung führte es aus, die nach § 80 Abs. 5 VwGO vom Verwaltungsgericht zu treffende Abwägung falle zulasten der Beschwerdeführerin aus, weil die summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage ergeben habe, dass ihre Klage wohl unbegründet sei.
Die gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zurück. Für die im Eilverfahren erforderliche Ermessensentscheidung habe das Verwaltungsgericht zutreffend auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abgestellt. Zudem sei die Einschätzung richtig, dass die Klage aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben werde. Zwar verkenne der Senat nicht, dass die Entziehung der Approbation tief in das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf freie Berufswahl eingreife. Die Anzahl der Straftaten, der Zeitraum, über den sie sich erstreckt hätten, sowie Art und Gewicht der Verstöße ließen nur die Prognose zu, dass die Gefahr auch zukünftiger schwerwiegender Berufsverstöße bestehe. Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, die Beschwerdeführerin sei unzuverlässig und unwürdig zur Ausübung des Apothekerberufs, halte daher einer summarischen Überprüfung im Eilverfahren stand.
2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG. Zur Begründung trägt sie vor, die Verwaltungsgerichte seien zu Unrecht von ihrer Unzuverlässigkeit ausgegangen. Der Schaden aus Rezeptbetrug liege mit 10.137,53 € unter dem Betrag, den die Rechtsprechung als erheblich für den Widerruf der Approbation ansehe. Die auf den Steuervergehen beruhende Summe sei bei der Beurteilung der apothekenrechtlichen Unzuverlässigkeit nicht heranzuziehen. Die entsprechenden Delikte lägen auch bereits mehr als zwei Jahre zurück. Sie habe auch nicht etwa im großen Stil Abrechnungsbetrug begangen. Bereits im Strafbefehl seien erhebliche entlastende Umstände berücksichtigt worden wie ihre Schuldeinsicht und die Einstellung der Betrugstaten bereits vor der Tatentdeckung.
Die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidungen resultiere aber vor allem daraus, dass die besonderen Anforderungen an die sofortige Vollziehung bei Eingriffen in die Berufswahlfreiheit verkannt worden seien. Die Gerichte hätten nicht geprüft, ob Gründe vorlägen, die ein Zuwarten bis zur Rechtskraft des Hauptverfahrens ausschlössen. Durch den Sofortvollzug und damit die Schließung der Apotheke entstünden ihr schwere und kaum wiedergutzumachende Nachteile. Die Folgen einer zeitlichen Verzögerung einer eventuellen Betriebsschließung fielen weniger ins Gewicht, zumal es keine Anhaltspunkte für erneute Pflichtverletzungen gebe.
3. Zugleich mit der Verfassungsbeschwerde hat die Beschwerdeführerin Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG gestellt, mit dem sie die Aussetzung der sofortigen Vollziehung des Bescheides der Regierung von Unterfranken erstrebt. Ihre Verfassungsbeschwerde sei weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die erforderliche Folgenabwägung ergebe, dass – wenn die einstweilige Anordnung nicht ergehe – ihre Apotheke geschlossen werde. Durch Schreiben der Regierung von Unterfranken vom 23. Juli 2003 sei sie dazu bereits aufgefordert worden. Durch eine vorläufige Apothekenschließung werde ihre wirtschaftliche Existenz irreparabel zerstört. Demgegenüber drohten der Allgemeinheit keine gravierenden Nachteile, falls die einstweilige Anordnung ergehe, der Verfassungsbeschwerde aber später der Erfolg versagt bleibe. Es seien keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sie die ihr zum Schutze der Bevölkerung im Rahmen ordnungsgemäßer Arzneimittelversorgung auferlegten Pflichten nunmehr verletzen werde.
Entscheidungsgründe
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
1. Nach den §§ 32, 93d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 ≪35≫; 89, 109 ≪110 f.≫).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Mit dem Widerruf der Approbation, der Einziehung der Approbationsurkunde und der Anordnung der sofortigen Vollziehung beider Verfügungen wird in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin eingegriffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche Eingriffe nur unter strengen Voraussetzungen zum Schutze wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft (vgl. BVerfGE 44, 105 ≪117 ff.≫; stRspr). Überwiegende öffentliche Belange können es ausnahmsweise rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Wegen der gesteigerten Eingriffsintensität beim Sofortvollzug einer Approbationsentziehung sind hierfür jedoch nur solche Gründe ausreichend, die in angemessenem Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen und ein Zuwarten bis zur Rechtskraft des Hauptverfahrens ausschließen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, Pharma Recht 1997, S. 298 ff.). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt.
Ob die angegriffenen Entscheidungen diesen Maßstäben Rechnung getragen haben, ist zweifelhaft und bedarf der Überprüfung im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Denn die Gerichte haben die Beurteilung der Ermessensentscheidung über die sofortige Vollziehbarkeit des Approbationswiderrufs allein anhand der Erfolgsaussichten in der Hauptsache vorgenommen, ohne gesondert die Folgen, die bei einem Aufschub der Maßnahmen für die Dauer des Rechtsstreits zu befürchten sind, und diejenigen, welche demgegenüber bei der Beschwerdeführerin wegen des Sofortvollzugs eintreten, gegeneinander abzuwägen. In diesem Zusammenhang wäre bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache in die Erwägungen einzustellen, ob mildere Mittel als der Widerruf der Approbation in Betracht kämen.
3. Die hinsichtlich des vor dem Bundesverfassungsgericht gestellten Antrags gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so entstünden der Beschwerdeführerin durch den Vollzug des Widerrufs der Approbation sowie der Urkundeneinziehung schon jetzt schwere und kaum wiedergutzumachende wirtschaftliche Nachteile. Die Beschwerdeführerin hätte nicht nur ihre Apotheke vorläufig zu schließen mit der Folge, dass sie den Verlust ihres Rufs und damit ihres Kundenkreises zu befürchten hätte. Sie könnte nicht einmal mehr im Angestelltenverhältnis als Apothekerin arbeiten. Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, könnte die Beschwerdeführerin ihre Apotheke vorübergehend weiterbetreiben mit den von den Behörden prognostizierten Gefahren.
Die Folgen einer solchen zeitlichen Verzögerung des Approbationswiderrufs sowie der Urkundeneinziehung fallen hier weniger ins Gewicht, weil keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass die Beschwerdeführerin die ihr zum Schutze der Bevölkerung im Rahmen ordnungsgemäßer Arzneimittelversorgung auferlegten Pflichten in nächster Zeit verletzen wird. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin den mit dem Strafbefehl geahndeten Rezeptbetrug bereits mehr als ein Jahr vor der Aufdeckung der Straftaten eingestellt hatte. Seitdem ist es nicht mehr zu Beanstandungen gekommen, obwohl die Apotheke bis jetzt weiterbetrieben worden ist. Zudem betrifft der Rezeptbetrug Verfehlungen im Zusammenwirken mit einer einzigen Kundin. Nach diesem Sachverhalt ist die Gefahrenprognose nur schwach fundiert. Die Steuerstraftaten berühren jedenfalls nicht die ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung. Ihnen könnte auch mit Maßnahmen nach dem Gesetz über das Apothekenwesen begegnet werden.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
5. Wegen der besonderen Dringlichkeit ergeht diese Entscheidung unter Verzicht auf die Anhörung des Antragsgegners des Ausgangsverfahrens (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Jaeger, Hömig, Hoffmann-Riem
Fundstellen
NJW 2003, 3617 |
www.judicialis.de 2003 |