Entscheidungsstichwort (Thema)
Versammlungsverbot
Beteiligte
des Landesverbandes Niedersachsen der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) |
Rechtsanwalt Jürgen Rieger |
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Tatbestand
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft ein für sofort vollziehbar erklärtes Versammlungsverbot.
I.
1. Der Antragsteller ist eine Unterorganisation der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Er meldete im Mai diesen Jahres bei der Stadt Göttingen sein Vorhaben an, am 15. Juli 2000 (von etwa 12.00 Uhr bis 17.00 Uhr) in Göttingen eine Versammlung unter freiem Himmel durchzuführen. Diese soll aus einem Aufmarsch und einer Abschlusskundgebung in der Innenstadt von Göttingen bestehen. Das Motto der Versammlung lautet „für Meinungsfreiheit und gegen Demo-Verbote”; es bezieht sich auf drei in jüngerer Zeit durch den Oberbürgermeister der Stadt Göttingen verfügte Demonstrationsverbote, mit denen es dem örtlichen Kreisverband der NPD untersagt worden war, von diesem angemeldete Versammlungen in Göttingen durchzuführen. Die Teilnehmerzahl wurde vom Antragsgegner bei der Anmeldung auf 500 bis 1000 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet geschätzt. Beim Aufzug sollen ein Lautsprecherwagen sowie mehrere Handmegaphone, Trommeln und Fanfaren zum Einsatz gebracht werden. Ferner sollen Fahnen, Transparente und Schilder getragen werden.
Nach Bekanntwerden dieses Vorhabens meldete der Deutsche Gewerkschaftsbund bei der Stadt Göttingen eine Gegendemonstration an, die ebenfalls am 15. Juli 2000 in der Zeit zwischen etwa 12.00 und 17.00 Uhr stattfinden soll.
2. Mit Bescheid vom 7. Juni 2000 untersagte der Oberbürgermeister der Stadt Göttingen die Durchführung der für den 15. Juli 2000 angemeldeten Versammlung, verbot darüber hinaus jede Form einer Ersatzveranstaltung und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Regelungen an. Zur Begründung stützte er sich auf § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz (VersG) und machte geltend, die von ihm angestellte Gefahrenprognose ergebe, dass von der angemeldeten Versammlung und deren Teilnehmern eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und damit eine Gefahr ausgehen werde. So seien weder der Versammlungsleiter noch dessen Stellvertreterin Willens, von den Versammlungsteilnehmern ausgehende Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit weitgehend zu verhindern oder zu unterbinden. Hinzu komme, dass mit der Teilnahme und der maßgeblichen Einflussnahme bestimmter Personen aus der Führungsebene des örtlichen Kreisverbandes der NPD zu rechnen sei, die sich in der Vergangenheit mehrfach gewaltbereit gezeigt und zudem Anlass für die Einleitung von Ermittlungsverfahren der Strafverfolgungsbehörden gegeben hätten. Mit Verstößen gegen die öffentliche Sicherheit sei auch deshalb zu rechnen, weil in Göttingen und seiner näheren Umgebung jüngst gehäuft Mitglieder rechtsextremer Gruppierungen Opfer gewalttätiger Übergriffe geworden seien, die Anhängern linksextremer Gruppierungen zugeschrieben würden. Ein kürzlich vom Vorsitzenden des örtlichen Kreisverbandes der NPD gegebenes Interview sowie weitere im Einzelnen bezeichnete Ereignisse gäben nun Anlass für die Befürchtung, dass die angemeldete Versammlung dazu genutzt werden solle, in Göttingen – als vermeintlicher Hochburg linksextremer Gruppierungen – zum „Gegenschlag” auszuholen, das heißt gezielt den gewalttätigen Konflikt mit Anhängern der linksextremen Szene zu suchen und auszutragen. Diese Befürchtung werde noch durch eine Vielzahl von Rechtsverstößen verstärkt, die in den letzten Jahren anlässlich der Durchführung von Versammlungen der NPD und ihrer Unterorganisationen zu verzeichnen gewesen seien.
Des Weiteren sei damit zu rechnen, dass sich im Falle der Zulassung der angemeldeten Versammlung auch linksextreme Gruppierungen in Göttingen sammeln würden, mit dem Ziel, die Versammlung zu stören und gewalttätige Auseinandersetzungen herbeizuführen. Ferner lasse das Vorhaben, bei dem angemeldeten Aufmarsch auch Fahnen mitzuführen, angesichts bisheriger Erfahrungen mit Versammlungen der NPD darauf schließen, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verstößen gegen § 86 a StGB kommen würde. Das Zeigen verbotener Fahnen und Embleme würde die Polizeikräfte vor Ort aber dazu zwingen, gegen die Träger der Fahnen und Embleme einzuschreiten. Dies wiederum hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten zur Folge. Schließlich deute der geplante Einsatz von Trommeln und Fanfaren darauf hin, dass seitens der Veranstalter darauf abgezielt werde, Einschüchterungseffekte zu erzielen und ein Klima der Gewaltbereitschaft zu erzeugen. Auf Grund der vorgenannten Umstände sei sowohl ein Fall des echten als auch ein solcher des unechten polizeilichen Notstands gegeben. Möglichkeiten, die drohenden Gefahren allein durch Einsatz gegebenenfalls auch starker Polizeikräfte zuverlässig auszuschließen, bestünden nicht. Hinzu komme, dass ein beachtlicher Teil der verfügbaren Polizeikräfte durch die Gegendemonstration des Deutschen Gewerkschaftsbundes sowie durch Einsätze bei der EXPO 2000 gebunden seien.
3. Der Antragsteller legte gegen diese Verfügung Widerspruch ein und stellte darüber hinaus beim Verwaltungsgericht einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung dieses Widerspruchs. Zur Begründung seines Eilantrags machte er geltend, dass die geäußerten Bedenken gegen die Zuverlässigkeit des vorgesehenen Versammlungsleiters und dessen Stellvertreterin unbegründet seien. Es sei auch weder vorgesehen noch zu erwarten, dass die in der angegriffenen Verfügung bezeichneten Mitglieder des örtlichen Kreisverbandes der NPD oder sonstige Personen Einfluss auf die Versammlungsleitung nehmen werden. Die Annahme, die geplante Veranstaltung in Göttingen werde seitens der Versammlungsteilnehmer dazu genutzt werden, sich an Angehörigen der linksextremen Szene zu rächen, entbehre jeder Grundlage. Die im Bescheid aufgelisteten Vorfälle anlässlich verschiedener Veranstaltungen der NPD stünden in keinem Zusammenhang mit der nun angemeldeten Versammlung.
Auch der geplante Einsatz von Fahnen, Trommeln und Fanfaren rechtfertige nicht die Annahme, dass eine gewaltsame Demonstration angestrebt werde. Ferner sei von der Behörde das Gewaltpotential der linksextremen Szene überschätzt worden. Erfahrungen aus jüngerer Zeit belegten, dass die Bereitschaft der Anhänger linksextremer Gruppierungen, Versammlungen der NPD gewaltsam zu stören, drastisch abgenommen habe. Die Voraussetzungen für die Annahme eines echten oder unechten polizeilichen Notstands lägen nicht vor. Insbesondere sei von der Behörde nicht dargelegt worden, welche Anstrengungen sie unternommen habe, ausreichende Polizeikräfte heranzuziehen, um einen wirkungsvollen Schutz der Demonstranten zu gewährleisten. Die bezeichneten Mängel der angegriffenen Verfügung führten im Ergebnis zu deren Rechtswidrigkeit und zu einer Verletzung des Antragstellers in dessen Grundrechten aus Art. 8 und 5 GG.
4. Über den Widerspruch ist bislang noch nicht entschieden worden. Der Eilantrag wurde vom Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 4. Juli 2000 abgelehnt. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, dass die von der Behörde getroffene Gefahrenprognose nicht zu beanstanden sei. Die Versammlung zum Thema „für Meinungsfreiheit – gegen Demo-Verbote” erweise sich als viertes in einer Reihe von Versammlungsvorhaben, die seit dem Herbst 1999 durch Untergliederungen der NPD bei der Stadt Göttingen angemeldet worden seien oder zu denen sie aufgerufen hätten. Die vorangegangenen Vorhaben seien stets mit der Begründung untersagt worden, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf gerichtet seien, die Konfrontation mit der linksextremen Szene in Göttingen zu suchen und gewalttätig auszutragen. Die jeweiligen Untersagungsverfügungen hätten verwaltungsgerichtlicher Überprüfung standgehalten. Die hierbei angestellten Erwägungen ließen sich auf den vorliegenden Fall übertragen. Das nun zu würdigende Vorhaben des Antragstellers stehe in engem zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit den vorangegangenen verbotenen Veranstaltungen. Auch sei keine Entspannung der Lage vor Ort zu verzeichnen, die es rechtfertige, nicht mehr konkret mit gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der links- und rechtsextremen Szene anlässlich von Demonstrationen der NPD oder ihrer Untergliederungen zu rechnen. Im Gegenteil sei die Situation noch durch ein Interview des Vorsitzenden des örtlichen Kreisverbandes der NPD verschärft worden, in dem dieser Göttingen als „Frontstadt im politischen Kampf” und als „Eiterbeule” bezeichnet habe.
5. Der Antragsteller beantragte sodann die Zulassung der Beschwerde gegen diesen Beschluss. Hierbei machte er unter anderem geltend, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung bestünden. Zudem weiche diese von dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21. April 2000 – 1 BvQ 10/00 – ab. Insofern komme der Rechtssache auch grundsätzliche Bedeutung zu. Ferner sei zu rügen, dass der Antragsteller gegenwärtig und fortdauernd in seinen Grundrechten aus Art. 8, 5 und 3 GG verletzt werde.
6. Das Oberverwaltungsgericht lehnte den Beschwerdezulassungsantrag mit Beschluss vom 11. Juli 2000 ab. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Beschlusses bestünden nicht. In der Begründung seiner Entscheidung schloss sich das Beschwerdegericht den Ausführungen des Verwaltungsgerichts an und verwies zudem auf seine jüngere Rechtsprechung in Bezug auf Versammlungsvorhaben der NPD in Göttingen. Die Einschätzung der Behörde zur Gewaltbereitschaft zumindest eines nicht unerheblichen Teils derjenigen Personen, die auf der Versammlung am 15. Juli 2000 erwartet würden, sei nicht zu beanstanden. Die Befürchtung, Göttingen sei vom Antragsgegner zielgerichtet als „Symbol für die Auseinandersetzung zwischen Rechts- und Linksextremisten” zum Ort der Versammlung auserkoren worden, werde unter anderem durch Teilnahmeaufrufe der Organisation „Bündnis RECHTS” und durch jüngere Verlautbarungen des Vorsitzenden des örtlichen Kreisverbandes der NPD erhärtet. Die gerügten Verstöße gegen Art. 8, 5 und 3 GG seien nicht festzustellen. Hinsichtlich der übrigen geltend gemachten Zulassungsgründe mangele es an einer ausreichenden Darlegung.
7. Der Antragsteller hat hierauf Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG gestellt. Er macht geltend, in seinen Grundrechten aus Art. 8, 5 und 3 GG verletzt worden zu sein. Darüber hinaus wiederholt und vertieft er seine Ausführungen im fachgerichtlichen Verfahren.
Entscheidungsgründe
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Wegen der meist weit tragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 ≪111≫; stRspr). Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 ≪161≫; 88, 185 ≪186≫; 91, 252 ≪257 f.≫; stRspr). Hierbei hat es sowohl der Bedeutung der jeweils betroffenen Schutzgüter als auch dem Grad der Wahrscheinlichkeit und dem Ausmaß möglicher Beeinträchtigungen Rechnung zu tragen.
2. Der Antrag ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es kann erst in einem Hauptsacheverfahren geklärt werden, ob die Gefahrenprognose, auf die die Entscheidung der Behörde und der Verwaltungsgerichte gestützt worden sind, den Anforderungen von Art. 8 GG genügt (vgl. hierzu BVerfGE 69, 315 ≪342 ff.≫; 87, 399 ≪406 ff.≫).
3. Die demnach gebotene Beurteilung und Abwägung der Folgen, die im Falle des Erfolgs oder Misserfolgs des Antrags einträten, führt im vorliegenden Verfahren zu einem Überwiegen derjenigen Gründe, die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen.
a) Bliebe die sofortige Vollziehbarkeit des Verbots der Demonstration bestehen, hätte eine Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg, so wäre der Antragsteller um die Möglichkeit gebracht worden, von dem ihm zustehenden Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in der gewünschten Weise Gebrauch zu machen. Eine spätere Nachholung der Versammlung wäre nicht geeignet, die mit dem Verbot verbundenen Nachteile vollständig zu beseitigen. Denn Versammlungen sind regelmäßig auf bestimmte Zeitpunkte und bestimmte Umstände bezogen. Die Wirkungen, die sie zur geplanten Zeit entfalten sollen, werden endgültig vereitelt. Eine zeitnahe Nachholung der Veranstaltung erscheint im Übrigen im vorliegenden Fall auch deswegen gefährdet, weil die Behörde das Verbot der Versammlung im Wesentlichen auf Erwägungen gestützt hat, die unabhängig von der konkret in Frage stehenden Demonstration praktisch auf alle von der NPD oder ihren Untergliederungen in Göttingen geplanten Versammlungsaktivitäten bezogen werden können. In Anbetracht der Gründe, auf die die Untersagungsverfügung gestützt worden ist, wird vielmehr damit zu rechnen sein, dass dem Antragsteller jegliche Demonstration im Zuständigkeitsbereich der Stadt Göttingen auf absehbare Zeit verboten würde.
Könnte die Versammlung wie geplant stattfinden, erwiese sich eine Verfassungsbeschwerde später aber als unbegründet, so wäre die Versammlung durchgeführt worden, obwohl von ihr erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgingen, die die Behörde zum Erlass der Untersagungs- und Verbotsverfügung berechtigt haben.
b) Im Zuge der anzustellenden Folgenabwägung ist es für das Bundesverfassungsgericht regelmäßig ausgeschlossen, in eine eigenständige Ermittlung und Würdigung des dem Eilrechtsschutzbegehren zu Grunde liegenden Sachverhalts einzutreten. Dies gilt namentlich dann, wenn es – wie auch im vorliegenden Verfahren – bereits aus Zeitgründen ausscheidet, behördliche und fachgerichtliche Akten heranzuziehen sowie Stellungnahmen sämtlicher Beteiligter einzuholen und diese auszuwerten. In Fällen dieser Art hat das Bundesverfassungsgericht seiner Abwägung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zu Grunde zu legen (vgl. hierzu etwa BVerfGE 34, 211 ≪216≫; 36, 37 ≪40≫; BVerfG, EuGRZ 1997, S. 522). Anderes gilt nur dann, wenn die getroffenen Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlsam sind oder die angestellte Tatsachenwürdigung unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnorm offensichtlich nicht trägt.
Die in ihrer Gefahrenprognose von den Verwaltungsgerichten bestätigte Behörde geht davon aus, dass bei Zulassung der Versammlung erhebliche Gefahren für Leben und Gesundheit der Versammlungsteilnehmer, der Gegendemonstranten, unbeteiligter Passanten und Anwohner sowie der Polizeieinsatzkräfte bestehen. Wird die Gefahrenprognose der Behörde der im Eilrechtsschutzverfahren durchzuführenden Abwägung zu Grunde gelegt, überwiegen die bezeichneten Nachteile gegenüber der Belastung des Antragstellers, der die von ihm geplante Versammlung nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt durchführen kann, dem aber die Möglichkeit bleibt, die Rechtmäßigkeit des Verbots im Hauptsacheverfahren überprüfen zu lassen und dadurch gegebenenfalls die Grundlage für weitere Verbote zu beseitigen.
aa) Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens stützt ihr Verbot allerdings zum Teil auf Annahmen, bei denen zweifelhaft ist, ob sie die Prognose einer unmittelbaren Gefahr im Sinne des § 15 VersG unter Berücksichtigung des Art. 8 GG zu tragen vermögen. Dies betrifft die von der Behörde angenommenen Zweifel an die für die Versammlungsleitung vorgesehene Person und dessen Stellvertreterin. Denn konkrete Tatsachen, aus denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit geschlossen werden kann, dass die genannten Personen nicht über die erforderliche Bereitschaft oder Fähigkeit zur Sicherstellung der Ordnung in der Versammlung verfügen, sind weder in der angegriffenen Untersagungsverfügung noch in den Beschlüssen der Fachgerichte bezeichnet worden. Dies gilt auch für den Hinweis auf einen Vorfall im Juni 1999 in Dänemark, dessen strafrechtliche Relevanz im Verwaltungsverfahren unklar geblieben ist. Im Übrigen ist die Durchführung eines auf ein Geschehen im Jahre 1997 gestützten Ermittlungsverfahrens allein kein hinreichender Anlass für die Annahme vergangenen und künftigen strafbaren Verhaltens. Zu berücksichtigen ist vielmehr auch, zu welchem Ergebnis die Ermittlungen geführt haben. Die angegriffenen Entscheidungen enthalten hierzu keine Aussagen. Der Antragsteller trägt vor, das Ermittlungsverfahren sei eingestellt worden.
Soweit in der behördlichen Untersagungsverfügung zahlreiche Fälle aufgelistet worden sind, bei denen anlässlich der Durchführung von Versammlungen der NPD oder ihrer Untergliederungen Rechtsverstöße zu verzeichnen waren, mangelt es an einem hinreichend konkreten Bezug zu der nun vom Antragsteller geplanten Veranstaltung. Haben sich bei Veranstaltungen an anderen Orten mit anderen Beteiligten Gefahren verwirklicht, so müssen besondere, von der Behörde bezeichnete Umstände die Annahme rechtfertigen, dass ihre Verwirklichung ebenfalls bei der nunmehr geplanten Versammlung zu befürchten sei. Für die in der Verbotsverfügung enthaltene Auflistung früherer Ereignisse sind solche besonderen Anhaltspunkte nicht benannt worden.
Soweit die Behörde darauf abstellt, dass bei der Versammlung Trommeln und Fanfaren zum Einsatz gebracht sowie Fahnen getragen werden sollen, ist jedenfalls nicht ersichtlich, weshalb entsprechende Auflagen, dieses zu unterlassen, untauglich sein sollten, etwaige speziell aus ihnen resultierende Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auszuschließen.
Weiter kann die Bindung von Polizeikräften durch eine zeitgleich in Göttingen stattfindende Gegendemonstration nicht als hinreichendes Argument dafür herangezogen werden, dass die Teilnehmer der verbotenen Versammlung nicht in ausreichendem Maße geschützt werden könnten. Mit Art. 8 GG wäre nicht zu vereinbaren, dass bereits mit der Anmeldung einer Gegendemonstration, deren Durchführung den Einsatz von Polizeikräften erfordern könnte, erreicht werden kann, dass dem Veranstalter der zuerst angemeldeten Versammlung die Möglichkeit genommen wird, sein Demonstrationsanliegen zu verwirklichen. Deshalb muss vorrangig versucht werden, den Schutz der Versammlung auf andere Weise, gegebenenfalls unter Hinzuziehung externer Polizeikräfte, durchzusetzen. Dass – wie die Behörde vorträgt – Polizeikräfte für die EXPO 2000 in Hannover benötigt werden, reicht für sich allein nicht, um den Schutz der Versammlung zu verweigern.
bb) Demgegenüber deuten die weiteren Feststellungen der Behörde und der Fachgerichte auf eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit hin, die ausreicht, um die sofortige Vollziehung der Untersagungsverfügung aufrecht zu erhalten.
Dies betrifft die Feststellungen zu der vermutlich nicht unerheblichen Größe der Versammlung und damit zusammenhängend zu der besonderen Gefährlichkeit, die von den zu erwartenden Versammlungsteilnehmern bei einer Versammlung an dem geplanten Ort und zu dem vorgesehenen Thema ausgeht.
Die von der Behörde bezeichneten Tatsachen erhärten die Befürchtung, die Stadt Göttingen werde von einem erheblichen Teil der zu erwartenden Demonstranten als „Symbol der Auseinandersetzung zwischen Rechts- und Linksextremisten” angesehen und die Wahl des Versammlungsorts als Aufforderung verstanden, diese Auseinandersetzung zu suchen und gewaltsam auszutragen. Die Behörde geht angesichts der konkreten Umstände des Falles davon aus, dass ein nicht unerheblicher Teil der Demonstranten an der Versammlung in der Erwartung und Bereitschaft teilnehmen würde, bei sich bietender Gelegenheit aus der Versammlung heraus in gewalttätige Auseinandersetzungen mit Anhängern linksextremer Gruppierungen und gegebenenfalls eingreifender Polizeikräfte zu treten. In der angegriffenen Verfügung werden konkrete polizeiliche Erkenntnisse über bestimmte zu erwartende Versammlungsteilnehmer wiedergegeben und konkrete Indizien – insbesondere bestimmte über das Internet verbreitete Teilnahmeaufrufe des „Bündnisses RECHTS” sowie das in einer Zeitschrift veröffentlichte Interview des Vorsitzenden des örtlichen Kreisverbandes der NPD zur Würdigung der Situation der Stadt Göttingen – benannt, die auf die unmittelbare Gefahr der Begehung von Gewalttätigkeiten schließen lassen.
Die Behörde und die Fachgerichte gehen davon aus, dass die zu befürchtenden Gewalttätigkeiten aus der angemeldeten Versammlung heraus von Personen begangen werden, die mit dem Versammlungsanliegen sympathisieren, und dass die für die Durchführung der Versammlung Verantwortlichen nicht ihrerseits alles Erforderliche unternommen haben, um dies zu verhindern. Der Antragsteller muss einkalkulieren, dass die Äußerungen und Aufrufe Dritter, denen die Behörde und die Gerichte im vorliegenden Fall einen gewaltfördernden Inhalt entnommen haben, Einfluss auf die Teilnehmerschaft und das erwartbare Verhalten der Versammlungsteilnehmer haben. Von dem Veranstalter darf unter solchen Umständen erwartet werden, dass er oder der vorgesehene Leiter der Versammlung auch in ihrem Vorfeld öffentlich deutliche Signale setzen, die auf die Gewaltfreiheit der Durchführung der Versammlung ausgerichtet sind. Der Antragsteller hat nichts vorgetragen, um die Annahme der Behörde und der Gerichte zu erschüttern, er habe ebenso wie die Versammlungsleitung solche Anstrengungen unterlassen, die auf einen gewaltfreien Verlauf der geplanten Versammlung zielen. Die vom Antragsteller in Aussicht gestellte Anwesenheit von Ordnern wird angesichts der Vorgeschichte nicht ausreichen, wenn nicht darüber hinaus eindeutige Signale ausgehen, dass Gewalt nicht toleriert werden wird und dass die Versammlung sich in keinerlei Hinsicht mit gewaltbereiten Versammlungsteilnehmern solidarisieren wird. Im Übrigen hat der Antragsteller zwar vorgetragen, der vorgesehene Versammlungsleiter bemühe sich „regelmäßig” im Vorfeld der von ihm geleiteten Versammlungen, auf ein friedliches Verhalten der Versammlungsteilnehmer hinzuwirken. Konkrete Nachweise und Angaben zu diesen Bemühungen sind in der Antragsschrift jedoch nicht enthalten.
Angesichts dieser Lage ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Behörde und die Fachgerichte vom Vorliegen einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es der Polizei möglich wäre, die Begehung von Gewalttätigkeiten aus der Versammlung heraus zu verhindern. Es ist nicht ihre Aufgabe, die Durchführbarkeit einer Versammlung insoweit zu schützen, als aus ihr heraus Gewalttätigkeiten begangen werden, ohne dass der Leiter und die Ordner hinreichende Anstrengungen unternehmen, um dies zu unterbinden.
Die vorbezeichneten Umstände sind daher geeignet, die von der Behörde angestellte Gefahrenprognose als Grundlage der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu tragen.
cc) Bei dieser Gefahrenlage kann dahinstehen, ob die Gefahrenprognose wegen erwarteter gewalttätiger Ausschreitungen linksextremer Personen auch unter dem Gesichtspunkt polizeilichen Notstands tragfähig war, und zwar auch mit Rücksicht darauf, dass eine solche Situation erwarteter Störung durch gewaltbereite Dritte und damit die Vereitelung der Ausübung des Versammlungsrechts des Antragstellers in der jüngeren Vergangenheit bei jeder angemeldeten Versammlung der NPD oder ihrer Untergliederungen in Göttingen entstanden ist.
c) Angesichts der von der Behörde und den Fachgerichten angenommenen, von der Versammlung ausgehenden erheblichen Gefahr für Leib und Leben ist von einem Überwiegen derjenigen Nachteile auszugehen, die bei der Durchführung der Versammlung zu erwarten sind.
4. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es dem Antragsteller nun auf absehbare Zeit verwehrt sein wird, in Göttingen Versammlungen unter freiem Himmel durchzuführen. Vielmehr liegt es in seiner Hand, im Wege der Erhebung einer entsprechenden Klage beim Verwaltungsgericht darauf hinzuwirken, dass die von der Behörde angestellte Gefahrenprognose in Bezug auf die ihr zu Grunde gelegten tatsächlichen Annahmen und die hierauf gestützten Wertungen einer abschließenden fachgerichtlichen Prüfung unterzogen werden. Angesichts des Umstands, dass die Behörde und die Gerichte das Verbot auch unter Verweis auf entsprechende vorangegangene Verbote stützen, die auf der weitgehend gleichen Argumentation wie in diesem Fall beruhen, werden die Gerichte dem Gebot effektiven Rechtsschutzes durch besondere Bemühungen um eine zügige Entscheidung Rechnung zu tragen haben.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 600192 |
NVwZ 2000, 1405 |
JuS 2001, 75 |
BayVBl. 2001, 81 |
DVBl. 2000, 1593 |
NPA 2001 |
NdsVBl. 2000, 298 |