Verfahrensgang
KG Berlin (Urteil vom 14.07.1992; Aktenzeichen 9 U 279/92) |
LG Berlin (Urteil vom 26.11.1991; Aktenzeichen 27 O 728/91) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft zivilgerichtliche Entscheidungen, mit denen der Beschwerdeführerin die Veröffentlichung der Gehaltsliste des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik unter Nennung des Namens des Antragstellers des Ausgangsverfahrens untersagt worden ist.
I.
1. Die Beschwerdeführerin gab seit Januar 1990 die Wochenzeitung “a…” heraus. Im Zusammenhang mit der Diskussion über das “Stasi-Unterlagen-Gesetz” (BGBl 1991 I S. 2272) veröffentlichte sie in einer Beilage zu der Ausgabe vom 20. März 1991 (Nr. 12/91) die authentische Gehaltsliste des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik.
Die Beilage wurde auf dem Titelblatt der Ausgabe mit der Schlagzeile “Die Hauptamtlichen” und der Unterzeile “Teil 1: Die oberen Zweitausend auf den Gehaltslisten der Stasi” angekündigt. Diese Überschriften kehren zu Beginn der Beilage wieder. Auf den ersten beiden Seiten folgen vier namentlich gezeichnete Beiträge, die sich unter verschiedenen Aspekten mit der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit befassen. Seite III der Beilage ist mit der Überschrift versehen: “Die oberen Zweitausend auf den Gehaltslisten der Stasi”. Anschließend wird die Gehaltsliste wiedergegeben, in der jeweils eine Schlüsselnummer, Geburtsdatum, Name und Jahresgehalt verzeichnet sind. Der Antragsteller des Ausgangsverfahrens ist auf Seite IV der Beilage mit der Schlüsselnummer 308300 aufgeführt. Ab Seite X ist der Diensteinheitenschlüssel abgedruckt, der die Zuordnung der einzelnen Schlüsselnummern zum jeweiligen Organisationsbereich ermöglicht. Die dem Antragsteller zugeordnete Schlüsselnummer ist darin nicht enthalten, so daß seine organisatorische Einordnung in den Staatssicherheitsdienst nicht erkennbar wird.
Der Abdruck der Stasi-Gehaltsliste wurde in den vier folgenden Ausgaben wiederholt. In die Ausgabe Nr. 15/91 vom April 1991 war eine vom Antragsteller mitunterzeichnete “Erklärung von Mitarbeitern der Sportvereinigung ‘Dynamo’” eingerückt, daß die unter der Schlüsselnummer 308300 genannten Personen als Angestellte des Ministeriums des Innern Mitarbeiter des sportmedizinischen Dienstes des SV Dynamo Berlin gewesen seien. Ihre Bezahlung habe sich nach dem Dienstvertrag mit diesem Ministerium gerichtet. Wie 97 Prozent aller Angestellten in der Sportmedizin seien sie zu keiner Zeit hauptamtliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen. Die finanztechnische Gestaltung der Gehaltszahlung sei aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Ministerium des Innern und dem Ministerium für Staatssicherheit erfolgt, die den Betroffenen nicht bekannt gewesen sei. Beim erneuten Abdruck des Dokuments in der Ausgabe Nr. 24/91 vom 12. Juni 1991 wurden die beim SV Dynamo beschäftigten Personen gesondert unter der Überschrift “SV Dynamo” zusammengestellt. Zusätzlich waren mehrere Namen – darunter auch der Name des Antragstellers – mit einem Sternchen versehen, das auf die Erläuterung hinwies:
“a…” ist gerichtlich aufgefordert, die Gehaltslisten an dieser Stelle nicht ohne den Zusatz, daß die aufgeführte Person lediglich als Arzt tätig war, abzudrucken.
2. a) Das Landgericht hat der Beschwerdeführerin mit Beschluß vom 26. September 1991 im Wege einstweiliger Verfügung untersagt,
Namenslisten der hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR zu verbreiten, in denen der Name des Antragstellers aufgenommen ist, oder in sonstiger Weise den Antragsteller in Presseveröffentlichungen als ehemaligen hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit zu bezeichnen.
Der Widerspruch der Beschwerdeführerin blieb erfolglos. Das Landgericht hat die einstweilige Verfügung mit dem angegriffenen Urteil bestätigt und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, dem Antragsteller stehe ein Unterlassungsanspruch analog §§ 12, 862, 1004 BGB zu, weil es sich bei der Aussage, er sei hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen, um eine unwahre Tatsachenbehauptung handele. Wiederholungsgefahr sei zu vermuten, weil bereits ein Eingriff stattgefunden habe.
b) Das Kammergericht hat die Berufung der Beschwerdeführerin zurückgewiesen, weil zu befürchten sei, daß sie den Antragsteller auch künftig wahrheitswidrig als früheren hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit bezeichnen werde.
Das Grundrecht auf Pressefreiheit rechtfertige es nicht, einen anderen der Wahrheit zuwider als in die verbrecherischen Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit verstrickt anzuschwärzen. Auch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit könne einen solchen Vorwurf nicht rechtfertigen, weil es sich um eine unwahre Tatsachenbehauptung handele, die den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht genieße. Ungeachtet der nach dem Lohnniveau der Deutschen Demokratischen Republik weit überdurchschnittlichen Vergütung seiner Tätigkeit für die “Sportvereinigung der Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR ‘Dynamo’” habe der Antragsteller nicht zu dem Personenkreis der “hauptamtlichen Mitarbeiter” in dem Sinn gehört, wie dieser Begriff vom Publikum verstanden werde. Die Beschwerdeführerin habe nicht dargelegt, daß der Antragsteller über seine Tätigkeit im sportmedizinischen Dienst des SV Dynamo hinaus in das rechtsstaatswidrige Tun des Ministeriums für Staatssicherheit eingebunden gewesen sei. Eben dieser Eindruck werde aber beim Leser erweckt, der die Gesamtheit der Beiträge und die Gehaltsliste auf sich wirken lasse. Er müsse die “oberen Zweitausend” auf der Gehaltsliste zu denjenigen rechnen, die unmittelbar in den Bespitzelungs- und Unterdrückungsapparat des Ministeriums für Staatssicherheit eingegliedert waren und dessen “eigentliche Ziele” durch ihre Berufstätigkeit direkt unterstützt hätten.
Es könne dahingestellt bleiben, ob die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung wegen des öffentlichen Informationsinteresses in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt und ihre journalistische Sorgfaltspflicht erfüllt habe. Selbst wenn man dies zu ihren Gunsten annehme, fehle es bei einer Wiederholung der Veröffentlichung an der Wahrnehmung berechtigter Interessen, weil sie jetzt nicht mehr davon ausgehen dürfe, daß der Antragsteller zu den von ihr an den Pranger gestellten “Hauptamtlichen” im Sinn des Leserverständnisses zähle. Die Gefahr, daß die Behauptung gleichwohl wiederholt werde (Erstbegehungsgefahr), folge daraus, daß die Beschwerdeführerin sich nach wie vor des Rechts berühme, in derselben Weise wie in der Ausgabe Nr. 12/91 über den Antragsteller zu berichten, wie die ausführliche Erörterung gerade dieses Umstandes in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erkennen lasse. Sie habe nicht eindeutig und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß diese Berühmung ausschließlich ihrer Rechtsverteidigung gedient habe und nicht als Inanspruchnahme eines Rechts zur Wiederholung der beanstandeten Meldung anzusehen gewesen sei. Die mündlichen Äußerungen des Geschäftsführers und des Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerin hätten bei den beteiligten Richtern im Gegenteil den Eindruck erweckt, daß die Beschwerdeführerin, die in einer kurz zuvor verhandelten Parallelsache die Unzulässigkeit ihres Verhaltens eingesehen zu haben schien, sich für befugt halte, in der gerügten Art und Weise zu berichten. Daher scheide eine Erstbegehungsgefahr auch nicht deshalb aus, weil die Beschwerdeführerin in der Ausgabe Nr. 24/91 den Namen des Antragstellers mit einem erläuternden Zusatz versehen und unter der Überschrift “SV Dynamo” veröffentlicht habe.
3. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihrer Grundrechte auf Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG, die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 EMRK.
a) Landgericht und Kammergericht hätten bei der Würdigung des Sachverhalts und bei der Einordnung der Veröffentlichung als unwahre Tatsachenbehauptung den Grundrechtsschutz der Meinungsfreiheit unzulässig verkürzt.
Den angegriffenen Entscheidungen liege eine unzutreffende Deutung des Inhalts der Beilage zu “a…” Nr. 12/91 zugrunde. Es werde verkannt, daß sich die Überschrift “Die Hauptamtlichen” nicht direkt auf die Gehaltsliste beziehe. Die Überschrift über der Gehaltsliste laute: “Die oberen Zweitausend auf der Gehaltsliste der Stasi”. Dieser Tatsachenteil der Veröffentlichung sei wahr. Demgegenüber beziehe sich die Überschrift von Seite I “Die Hauptamtlichen” unmittelbar auf die auf den Seiten I und II abgedruckten Beiträge und Kommentare und lasse sich allenfalls als Überschrift der gesamten Beilage, nicht nur der Gehaltsliste deuten. Landgericht und Kammergericht hätten sich somit allein für die zur Verurteilung führende Deutung entschieden, ohne überzeugende Gründe für den Ausschluß anderer, ebenfalls möglicher Deutungen zu geben.
Selbst wenn man die Überschrift “Die Hauptamtlichen” auf die Stasi-Gehaltsliste beziehe, handele es sich bei der darin enthaltenen Aussage aber um eine Meinungsäußerung und nicht, wie die Gerichte annähmen, um eine Tatsachenbehauptung. Der Begriff “Hauptamtlicher” beinhalte keine Tatsachenbehauptung, sondern sei der zusammenfassende wertende Begriff für eine bestimmte Personenkategorie, nämlich derer, die vom Ministerium für Staatssicherheit bezahlt worden seien und dabei ein weit überdurchschnittliches Einkommen bezogen hätten. Auch die Erläuterungen des Begriffs in den angegriffenen Entscheidungen enthielten überwiegend wertende Elemente, die gerade nicht dem Beweis zugänglich seien.
Hilfsweise rügt die Beschwerdeführerin, daß die Gerichte bei Unterstellung einer unrichtigen Tatsachenbehauptung jedenfalls die nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gebotene Abwägung nicht vorgenommen hätten. Auch eine unrichtige Tatsachenbehauptung falle nicht völlig aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG heraus. Im Rahmen der Güterabwägung müsse das überragende Berichterstattungsinteresse Berücksichtigung finden.
b) Auch das Grundrecht auf Pressefreiheit sei verletzt, weil durch das Verbot in die spezifische Informationsaufgabe der Presse eingegriffen werde. Bei der Veröffentlichung des Namens des Antragstellers im Rahmen einer Tabelle handele es sich um eine wahre Tatsache, deren Veröffentlichung nicht gegen gesetzliche Vorschriften verstoße und deshalb auch nicht untersagt werden könne. Im übrigen werde durch das Verbot der Überschrift in die pressespezifische Freiheit der Gestaltung der Information eingegriffen.
c) Die Annahme einer Erstbegehungsgefahr durch das Kammergericht beruhe auf einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 EMRK in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG.
Die Beschwerdeführerin habe in der Berufungsinstanz schriftsätzlich vorgetragen, daß sie nach der Einführung des Akteneinsichtsrechts der Betroffenen durch das Stasi-Unterlagen-Gesetz, das am 1. Januar 1992 in Kraft getreten ist, keinen Anlaß für eine Veröffentlichung mehr sehe. Der Geschäftsführer habe eindringlich vorgetragen, daß eine weitere Veröffentlichung nicht geplant, ja sogar völlig ausgeschlossen sei. Er habe dies mit der durch das Stasi-Unterlagen-Gesetz veränderten Situation begründet.
Nach der Entscheidung des Kammergerichts in einem Parallelverfahren vom 31. Mai 1992 sei zudem in der mündlichen Verhandlung auf die in der Ausgabe Nr. 24/91 praktizierte Form der Veröffentlichung hingewiesen worden. Daß das Gericht gleichwohl den Eindruck gewonnen habe, es bestehe eine Erstbegehungsgefahr, sei in der mündlichen Verhandlung nicht zum Ausdruck gekommen, sondern erstmals in der schriftlichen Urteilsbegründung dargelegt worden. Das Kammergericht sei unter diesen Umständen verpflichtet gewesen, auf seinen – im Gegensatz zum schriftsätzlichen Vortrag der Beschwerdeführerin stehenden – Eindruck und die darauf gegründete Annahme einer Erstbegehungsgefahr hinzuweisen.
4. Die Berliner Senatsverwaltung für Justiz und der Antragsteller des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) nicht vorliegen. Diese sind gemäß Art. 8 des Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 2. August 1993 (BGBl I S. 1442) auch auf vorher anhängig gewordene Verfahren anzuwenden. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinn von § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG zu. Die von ihr aufgeworfenen Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist auch nicht zur Durchsetzung der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Rechte angezeigt.
1. Das Urteil des Kammergerichts verstößt nicht gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
a) Da es um die Zulässigkeit der Veröffentlichung in der beanstandeten Form geht, ist das Urteil an dieser Vorschrift, nicht am Grundrecht auf Pressefreiheit zu messen (vgl. BVerfGE 85, 1 ≪12 f.≫).
Die Veröffentlichung der Stasi-Gehaltsliste fällt unabhängig von ihrer Einordnung als Meinungsäußerung oder Tatsachenbehauptung in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Meinungsäußerungen sind stets von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt. Tatsachenbehauptungen genießen den Schutz der Meinungsfreiheit jedenfalls dann, wenn sie der Meinungsbildung dienen (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪8≫; 94, 1 ≪7≫). Das ist bei der Veröffentlichung, die im Zusammenhang mit der Diskussion über das Stasi-Unterlagen-Gesetz stand, der Fall.
Der Grundrechtsschutz hängt auch nicht vom Wahrheitsgehalt der mitgeteilten Tatsachen ab. Nur diejenige Tatsachenbehauptung, deren Unwahrheit dem sich Äußernden bekannt ist oder bereits im Zeitpunkt der Äußerung feststeht, wird vom Schutzbereich des Grundrechts von vornherein nicht erfaßt (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪8≫; 90, 241 ≪247, 254≫). Im übrigen ist die Wahrheitsfrage erst im Zusammenhang mit der Verfassungsmäßigkeit der Grundrechtsbeeinträchtigung von Bedeutung. Im vorliegenden Fall handelt es sich weder um eine erwiesen noch um eine evident wahrheitswidrige Tatsachenbehauptung. Die Authentizität der abgedruckten Gehaltsliste war vielmehr unbestritten, und die Beschwerdeführerin ging davon aus, daß die auf der Gehaltsliste des Ministeriums für Staatssicherheit stehenden Personen “hauptamtliche” Mitarbeiter dieser Institution gewesen waren.
b) Die Meinungsfreiheit findet ihre Schranken gemäß Art. 5 Abs. 2 GG in den allgemeinen Gesetzen, den Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehören auch §§ 12, 862, 1004 BGB und § 186 StGB, auf die das Kammergericht seine Entscheidung gestützt hat und gegen deren Verfassungsmäßigkeit keine Bedenken bestehen.
Auslegung und Anwendung dieser Normen sind Sache der Zivilgerichte. Sie haben dabei jedoch das Grundrecht der Meinungsfreiheit zu berücksichtigen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪208≫). Das verlangt regelmäßig eine Abwägung zwischen den Einbußen, die der Meinungsfreiheit im konkreten Fall durch die Anwendung der zivilrechtlichen Normen drohen, und den Gefahren, die sich durch die Meinungsäußerung für das von den zivilrechtlichen Normen geschützte Rechtsgut ergeben.
Da das Gewicht der Meinungsfreiheit im Abwägungsvorgang davon abhängt, ob die Äußerung als Werturteil oder Tatsachenbehauptung anzusehen ist und ob sie im Fall des Werturteils eine Formalbeleidigung oder Schmähkritik darstellt und im Fall der Tatsachenbehauptung wahr oder falsch ist, unterliegt auch die Qualifizierung der umstrittenen Äußerung in diesen Hinsichten verfassungsrechtlichen Anforderungen, deren Einhaltung vom Bundesverfassungsgericht nachgeprüft werden kann (vgl. BVerfGE 82, 272 ≪281≫).
Voraussetzung einer korrekten Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften auf die umstrittene Äußerung ist allerdings, daß diese in ihrem Sinn zutreffend erfaßt worden ist, weil andernfalls Äußerungen entgegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG unterdrückt werden könnten, die bei zutreffendem Verständnis erlaubt gewesen wären (vgl. zusammenfassend BVerfGE 93, 266 ≪295 ff.≫). Das Bundesverfassungsgericht prüft freilich nur die Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen nach, bestimmt aber nicht selbst, wie eine Äußerung zu verstehen ist (vgl. BVerfGE 94, 1 ≪9 f.≫).
c) Die angegriffene Entscheidung läßt sich verfassungsrechtlich unter keinem dieser Gesichtspunkte beanstanden.
(1) Die der rechtlichen Würdigung zugrunde liegende Deutung des Aussagegehalts der Beilage zu Nr. 12/91 von “a…” hält der verfassungsrechtlichen Nachprüfung stand. Die Rüge der Beschwerdeführerin, das Kammergericht habe die Beilagenüberschrift “Die Hauptamtlichen” fälschlich auf die ab Blatt III wiedergegebene Gehaltsliste bezogen, greift nicht durch.
Die Interpretation des Kammergerichts, der Beilage sei die Behauptung zu entnehmen, der Antragsteller gehöre zu den hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit, beruht auf der Annahme, die Schlagzeile “Die Hauptamtlichen” beziehe sich auf die gesamte MfS-Gehaltsliste und kennzeichne damit die dort aufgeführten Personen. Dieses Verständnis ist naheliegend. Die Schlagzeile “Die Hauptamtlichen Teil 1: Die oberen Zweitausend auf den Gehaltslisten der Stasi” befindet sich bereits auf dem Titelblatt der Ausgabe Nr. 12/91 und macht auf die Beilage und deren Inhalt aufmerksam. Es ist nicht ersichtlich, daß die auf Seite I der Beilage wiederholten Überschriften eine andere Funktion haben könnten, als Thema und Inhalt der Beilage insgesamt zu charakterisieren. Die Beschränkung der Überschrift “Die Hauptamtlichen” auf den redaktionellen Teil unter Ausschluß der MfS-Gehaltsliste liegt demgegenüber derart fern, daß das Kammergericht sie als Deutung nicht in Betracht zu ziehen brauchte.
(2) Auch die Einordnung der Äußerung als unwahre Tatsachenbehauptung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Mit dem Landgericht ist das Kammergericht davon ausgegangen, daß als “hauptamtlicher Mitarbeiter” nur angesehen werde, wer in das “rechtsstaatswidrige Tun des Ministeriums für Staatssicherheit eingebunden war”. Dies finde eine Bestätigung in dem einleitenden Artikel zur Beilage, aus dem sich ebenfalls ergebe, daß mit den “Hauptamtlichen” diejenigen Personen gemeint seien, die “unmittelbar in den Bespitzelungs- und Unterdrückungsapparat des Ministeriums für Staatssicherheit eingegliedert waren und dessen eigentliche Ziele durch ihre Berufstätigkeit direkt unterstützten”.
Dieses Verständnis trägt dem Umstand Rechnung, daß im Rahmen der Prüfung, ob eine Äußerung eine ehrverletzende Wirkung hat, primär darauf abzustellen ist, wie die Äußerung vom Empfänger, hier also dem Durchschnittsleser der Zeitschrift, verstanden wird. Wie die Äußerung subjektiv gemeint war, ist demgegenüber von sekundärer Bedeutung, weil das Verständnis des Adressatenkreises vom durchschnittlichen, faktischen Sprachgebrauch bestimmt wird. Dieser weist aber in die vom Kammergericht angenommene Richtung.
Ausgehend von diesem Begriff des “hauptamtlichen Mitarbeiters” konnte das Kammergericht verfassungsrechtlich unbeanstandet annehmen, daß in der Äußerung die tatsächlichen Elemente bei weitem überwiegen (vgl. BVerfGE 85, 1 ≪15≫). Ob der Antragsteller des Ausgangsverfahrens “unmittelbar in den Bespitzelungs- und Unterdrückungsapparat des MfS eingegliedert” und über seine Tätigkeit als Arzt im sportmedizinischen Dienst des SV Dynamo hinaus “in das rechtsstaatswidrige Tun des MfS eingebunden” war, ist eine Frage, die anhand objektiver Kriterien beantwortet werden kann und deshalb dem Beweis zugänglich ist.
Bedenkenfrei ist auch die Feststellung, daß die Tatsachenbehauptung unwahr sei, weil der Kläger des Ausgangsverfahrens im Sinn der zuvor gegebenen Begriffsbestimmung kein hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen sei.
(3) Schließlich enthalten die angegriffenen Entscheidungen auch kein verfassungsrechtlich erhebliches Abwägungsdefizit.
Im Rahmen der Abwägung zwischen den Belangen der Meinungsfreiheit und des Persönlichkeitsschutzes ist zu berücksichtigen, daß Tatsachenbehauptungen auch dann von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt sein können, wenn sie sich nachträglich als falsch herausstellen. Zwar ist jeder, der Tatsachenbehauptungen zum Nachteil Dritter aufstellt, zur Wahrheit verpflichtet. Das gilt wegen der großen Breitenwirkung in besonderem Maß für die Medien. Doch führt die Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung nicht automatisch zum Vorrang des Persönlichkeitsschutzes. Vielmehr darf die Wahrheitspflicht nicht übersteigert werden, weil sonst eine Einschränkung und Lähmung des Kommunikationsprozesses zu befürchten wäre (vgl. BVerfGE 54, 208 ≪220≫; 61, 1 ≪8≫; 85, 1 ≪15, 22≫).
Deshalb kommt es für die Frage der Rechtmäßigkeit einer Erstveröffentlichung maßgeblich darauf an, ob der sich Äußernde den Sorgfaltspflichten genügt hat, die bei der Mitteilung nachteiliger Tatsachen über Dritte beachtet werden müssen. Sind diese erfüllt, ist die Tatsachenbehauptung im Zeitpunkt der Äußerung berechtigterweise aufgestellt worden. Eine Verurteilung zur Unterlassung wegen der Erstveröffentlichung kommt dann, weil mangels eines rechtswidrigen Eingriffs eine tatsächliche Vermutung für das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr nicht besteht, nur in Betracht, wenn sich konkret eine Erstbegehungsgefahr feststellen läßt (vgl. BGH, VersR 1986, S. 1075 ≪1077≫; BGH, AfP 1987, S. 597 ≪599≫). Da es kein berechtigtes Interesse an der Aufrechterhaltung der Tatsachenbehauptung mehr gibt, nachdem diese sich als unwahr erwiesen hat (vgl. BVerfGE 97, 125 ≪149≫), kann für die Zukunft eine Unterlassungsverpflichtung ausgesprochen werden, wenn der sich Äußernde trotz erwiesener Unwahrheit weiterhin an seiner Behauptung festhalten will und dadurch eine Erstbegehungsgefahr gegeben ist.
Diesen Grundsätzen ist zwar das Landgericht nicht gerecht geworden, indem es allein die Unrichtigkeit der Tatsachenbehauptung für die Unterlassungsverpflichtung hat ausreichen lassen und ohne Prüfung der Rechtmäßigkeit der Erstveröffentlichung eine Wiederholungsgefahr angenommen hat. Jedoch hat das Kammergericht diesen Fehler geheilt, weil es zugunsten der Beschwerdeführerin davon ausgegangen ist, daß sie bei der Erstveröffentlichung nicht rechtswidrig gehandelt hat. Es hat auch die aus dieser Unterstellung gebotene Konsequenz gezogen und den Unterlassungsanspruch nicht wegen Wiederholungsgefahr, sondern aufgrund einer Erstbegehungsgefahr für begründet erachtet. Ob es diese Gefahr zu Recht angenommen hat, beurteilt sich nicht nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt.
Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Grundsätzlich verlangt er jedoch weder ein Rechtsgespräch (vgl. BVerfGE 31, 364 ≪370≫) noch einen Hinweis auf die Rechtsauffassung des Gerichts (vgl. BVerfGE 66, 116 ≪147≫; 74, 1 ≪5≫). Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt aber voraus, daß der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Es stellt deshalb eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nicht zu rechnen brauchte, so daß dies im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleichkommt (vgl. BVerfGE 84, 188 ≪190≫; 86, 133 ≪144 f.≫).
Diesen Anforderungen hätte das Kammergericht nicht genügt, wenn die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung unmißverständlich und eindeutig zum Ausdruck gebracht haben sollte, daß sie keinesfalls eine erneute Veröffentlichung beabsichtige, und wenn sie – was schriftsätzlich nicht geschehen war – als ausschließlichen Grund für die Veränderung ihres Prozeßverhaltens gegenüber den Parallelverfahren, in denen sie Unterlassungserklärungen abgegeben hatte, das Ziel des Obsiegens im Verfahren verdeutlicht haben sollte. Ob dies der Fall ist, läßt sich indes weder dem Protokoll zur mündlichen Verhandlung noch dem Urteil mit Sicherheit entnehmen.
Aber auch wenn hiervon zugunsten der Beschwerdeführerin ausgegangen würde, stünde der Annahme der Verfassungsbeschwerde insoweit jedenfalls entgegen, daß der geltend gemachte Verfassungsverstoß kein besonderes Gewicht hätte und die Beschwerdeführerin auch nicht existentiell beträfe (vgl. zu diesen Erfordernissen BVerfGE 90, 22 ≪25≫). Anhaltspunkte dafür, daß das Kammergericht die Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG verkannt, mit ihr leichtfertig umgegangen sein oder sonst kraß rechtsstaatliche Grundsätze verletzt haben könnte, sind nicht ersichtlich. Auch eine für die Beschwerdeführerin existentielle Belastung ist nicht gegeben. Da die weitere Verbreitung der Behauptung nicht statthaft ist, wirkt sich die Bejahung der Erstbegehungsgefahr zu Lasten der Beschwerdeführerin nur hinsichtlich der für sie nachteiligen Kostenentscheidung aus. Hierdurch ist die Beschwerdeführerin nicht existentiell betroffen. Hätte die Berufung mangels Vorliegens einer Erstbegehungsgefahr Erfolg gehabt, so wäre die Beschwerdeführerin lediglich von den erstinstanzlichen Kosten in Höhe von rund 4.500 DM verschont geblieben. Die Kosten des Berufungsverfahrens hätte sie mangels Vortrags zur Erstbegehungsgefahr in erster Instanz gem. § 97 Abs. 2 ZPO in jedem Fall zu tragen gehabt. Es gibt keinen Anhaltspunkt, daß die Kostenbelastung in Höhe von 4.500 DM existentielle wirtschaftliche Bedeutung für die Beschwerdeführerin hat. Eine höhere Belastung ergibt sich auch nicht daraus, daß nach den Angaben der Beschwerdeführerin noch zehn weitere Parallelfälle zur Entscheidung anstehen. Die Beschwerdeführerin hat es in diesen Fällen in der Hand, sich gegebenenfalls durch ergänzenden Vortrag zur Frage der Erstbegehungsgefahr eindeutig und zweifelsfrei zu erklären.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Grimm, Hömig
Fundstellen
Haufe-Index 1276113 |
NJW 1999, 3326 |
ZAP-Ost 1999, 137 |
AfP 1999, 159 |
NJ 1999, 253 |