Verfahrensgang
SG Aurich (Vorlegungsbeschluss vom 19.05.2004; Aktenzeichen S 5 AL 114/02) |
SG Aurich (Vorlegungsbeschluss vom 25.06.2003; Aktenzeichen S 5 AL 101/99) |
Tenor
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Vorlagen sind unzulässig.
Gründe
Die Vorlageverfahren betreffen die Frage, ob es mit Verfassungsrecht vereinbar ist, dass § 330 Abs. 2 und § 330 Abs. 3 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Drittes Buch (SGB III) der Arbeitsverwaltung in Bezug auf die Rücknahme oder Aufhebung bestimmter Verwaltungsakte kein Ermessen einräumen.
I.
1. § 330 Abs. 2 SGB III modifiziert § 45 SGB X dahin, dass die mit Wirkung für die Vergangenheit vorgenommene Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte im Leistungsrecht der Arbeitsförderung bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X zwingend vorgeschrieben ist. Auch § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III enthält eine Modifikation des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts. Danach ist in den Fällen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X die Aufhebung mit Rückwirkung ausnahmslos – und nicht nur als Soll-Regelung – angeordnet.
2. Die Kläger der Ausgangsverfahren haben in den streitgegenständlichen Zeiträumen Arbeitslosengeld beziehungsweise Arbeitslosenhilfe bezogen. Die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit (im Folgenden: Bundesanstalt) hob die Bewilligungen zum Teil auf, weil die materielle Anspruchsvoraussetzung einer wirksamen Arbeitslosmeldung nicht vorgelegen habe. Dazu war es gekommen, weil beide Kläger kurze Beschäftigungsverhältnisse eingegangen waren, die nach § 122 Abs. 2 Nr. 2 SGB III in der jeweils maßgeblichen Fassung die Wirkung der bis dahin vorhandenen Arbeitslosmeldung zum Erlöschen gebracht hatten. Die Aufnahme der Beschäftigungen hatten sie nicht unverzüglich der Bundesanstalt mitgeteilt. Weiter ordnete die Bundesanstalt die Erstattung der zu Unrecht erbrachten Leistungen und der Beiträge an, die sie zu Unrecht zur gesetzlichen Kranken- und zur sozialen Pflegeversicherung geleistet habe.
3. Dagegen wehren sich die Kläger der Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht. Dieses hat die Verfahren ausgesetzt. Im Verfahren 1 BvL 6/03 hat es dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 330 Abs. 2 und 3 Satz 1 SGB III mit Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG vereinbar sind. Mit der Vorlage 1 BvL 8/04 wird § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III zur Prüfung gestellt; insoweit ist auch die Frage der Vereinbarkeit der Vorschrift mit Art. 14 GG zur Entscheidung vorgelegt.
Das Grundgesetz sieht das Sozialgericht deswegen als verletzt an, weil die Anwendung des § 330 Abs. 2 und 3 Satz 1 SGB III, indem diese Regelungen kein Ermessen zuließen, zu willkürlichen Ergebnissen führen würde. Da die zu Unrecht gewährten Leistungen in vollem Umfang erstattet werden müssten, müssten die Kläger der Ausgangsverfahren wesentlich höhere Beträge zurückzahlen, als sie aus den jeweiligen kurzen Beschäftigungsverhältnissen an Arbeitsentgelt bezogen hätten. Maßstab für die Tiefe des Eingriffs in die Lebenssituation des Arbeitslosen sei nicht das Ausmaß des Fehlverhaltens oder der durch das beanstandete Verhalten erlangte Vorteil, sondern allein das zufällige Ereignis der nächsten Vorsprache beim Arbeitsamt. Weil für den maßgeblichen zurückliegenden Zeitraum keine Sozialhilfe mehr beantragt werden könne, werde den Klägern der Ausgangsverfahren nachträglich die Existenzgrundlage entzogen.
II.
Die Vorlagen sind unzulässig.
1. Das Sozialgericht hat die Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse nicht in der vorgeschriebenen Besetzung erlassen. Einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss gemäß Art. 100 Abs. 1 GG kann ein Gericht nur in der Besetzung fassen, in der es die Entscheidung hätte treffen müssen, für die die Vorlagefrage erheblich ist (vgl. BVerfGE 16, 305 ≪306≫; 19, 71 ≪72≫; 54, 159 ≪164≫; 98, 145 ≪152≫). Die Entscheidung im ausgesetzten sozialgerichtlichen Verfahren wäre in der Besetzung mit einem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern als Beisitzern zu treffen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG). Hier hat allein der Kammervorsitzende die Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse erlassen. Wegen der Abhängigkeit der Vorlage von der im ausgesetzten Verfahren zu treffenden Hauptsache-Entscheidung kommt § 12 Abs. 1 Satz 2 SGG, wonach bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung die ehrenamtlichen Richter nicht mitwirken, nicht zur Anwendung.
2. Überdies werden die Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse den Begründungsanforderungen nicht in jeder Hinsicht gerecht.
a) Ein Gericht kann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. BVerfGE 86, 71 ≪76≫; 105, 48 ≪56≫). Der Grundgedanke des Art. 100 Abs. 1 GG, die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung zu wahren (vgl. BVerfGE 63, 131 ≪141≫), gebietet es dabei, dass das Gericht sich seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm in Auseinandersetzung mit den hierfür wesentlichen Gesichtspunkten, insbesondere auch den Erwägungen des Gesetzgebers, bildet, bevor es das Bundesverfassungsgericht anruft. Dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügt ein Vorlagebeschluss daher nur, wenn die Ausführungen erkennen lassen, dass das Gericht die hiernach gebotene Prüfung vorgenommen hat (vgl. BVerfGE 105, 48 ≪56≫). Die Darlegungen zur Verfassungswidrigkeit der Norm müssen den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nennen und die für die Überzeugung des Gerichts maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar darlegen. Dabei muss das Gericht jedenfalls auf nahe liegende tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte eingehen (vgl. BVerfGE 86, 71 ≪78≫). Der Vorlagebeschluss muss sich mit der Rechtslage auseinander setzen, die in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Rechtsauffassungen berücksichtigen und auf unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten eingehen, soweit diese für die Entscheidung von Bedeutung sein können (vgl. BVerfGE 92, 277 ≪312≫; 97, 49 ≪60≫; 99, 300 ≪312 f.≫; 105, 48 ≪56≫).
b) Diesen Anforderungen genügen die Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse nicht. Das Sozialgericht hat es versäumt, sich hinreichend mit der Frage auseinander zu setzen, ob und inwieweit § 76 Abs. 2 SGB IV eine Handhabe bietet, um den hier nach seiner Ansicht vorliegenden Härtefällen gerecht werden zu können. Diese Vorschrift gibt einem Sozialversicherungsträger die Möglichkeit, seine Ansprüche zu stunden (Nummer 1), niederzuschlagen (Nummer 2) oder zu erlassen (Nummer 3). Sie gilt nach § 1 Abs. 1 Satz 3 SGB IV auch für die Bundesanstalt. Besonders der Erlass erscheint als geeignetes Mittel, um den Umständen des Einzelfalls, wie sie das Sozialgericht geschildert hat, angemessen Rechnung zu tragen. Er ist eine Maßnahme, mit der auf einen fälligen Anspruch ganz oder teilweise verzichtet wird, so dass dieser erlischt. Bei der Entscheidung darüber sind die gesamten Umstände eines Falls, insbesondere die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners sowie Art und Höhe des Anspruchs zu berücksichtigen (vgl. zum Beurteilungsspielraum der zuständigen Stelle Borrmann in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch SGB IV, § 76 Rn. 16 f. ≪Stand: Dezember 1997≫). Ob die Bundesanstalt vom Erlass Gebrauch macht, steht zwar in ihrem Ermessen. § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV vermittelt dem Einzelnen aber ein subjektives Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung (vgl. Borrmann, a.a.O., Rn. 5).
Das Sozialgericht hätte insbesondere auch deshalb § 76 Abs. 2 SGB IV in seine Erörterung einbeziehen müssen, weil das Bundessozialgericht für Härtefälle im Arbeitsförderungsrecht ausdrücklich den Erlass als Lösungsweg aufgezeigt hat (so vor allem BSG SozR 3-4100 § 117 AFG Nr. 13, S. 94; ebenso SozR 3-4100 § 152 AFG Nr. 8, S. 25; Urteil vom 19. März 1998 – B 7 AL 44/97 R, SGb 1998, S. 471 f. – Kurzwiedergabe).
Unterschriften
Papier, Steiner, Gaier
Fundstellen