Verfahrensgang
LG Stuttgart (Beschluss vom 13.07.2009; Aktenzeichen 5 S 365/08) |
LG Stuttgart (Beschluss vom 03.06.2009; Aktenzeichen 5 S 365/08) |
Tenor
1. Der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 3. Juni 2009 – 5 S 365/08 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Landgericht Stuttgart zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 13. Juli 2009 – 5 S 365/08 – gegenstandslos.
2. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die ihm im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung rechtlichen Gehörs in einem Zivilrechtsstreit.
1. Der Beschwerdeführer verlangte von der Beklagten des Ausgangsverfahrens den vollständigen Ausgleich seiner Liquidation für einen neurochirurgischen Eingriff an der Wirbelsäule. Weil die Beklagte die Abrechnungsfähigkeit von zwei vom Beschwerdeführer abgerechneten Ziffern des Gebührenverzeichnisses der Gebührenordnung für Ärzte bestritt, war ein Betrag von 1.121,77 EUR streitig geblieben.
Das Amtsgericht wies die Klage nach Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens ab.
Auf die Berufung des Beschwerdeführers hin wies das Landgericht gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO in der bis zum 26. Oktober 2011 geltenden Fassung auf die beabsichtigte Berufungszurückweisung hin. Es bestünden keine konkreten Anhaltspunkte für fehlerhafte oder lückenhafte Feststellungen durch das Amtsgericht. Dass die Tatrichterin bei der Beweiswürdigung im Ergebnis den Feststellungen des Sachverständigen gefolgt sei, sei nicht zu beanstanden.
Der Beschwerdeführer legte daraufhin vier dem gerichtlichen Gutachten widersprechende fachärztliche Stellungnahmen vor und beantragte, wie bereits mit der Berufungsbegründung, die Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens.
Mit einstimmigem Beschluss vom 3. Juni 2009 wies das Landgericht die Berufung zurück. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts sei nicht zu beanstanden; der erstinstanzlich festgestellte Sachverhalt sei gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auch der Entscheidung des Berufungsgerichts zugrunde zu legen. Ausführungen zu den vorgelegten Privatgutachten machte das Landgericht nicht.
Gegen den Beschluss erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge. Er rügte insbesondere, das Landgericht habe seinen Antrag nach § 412 Abs. 1 ZPO auf eine neue Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen übergangen und sei auf die vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen nicht eingegangen. Es hätte sich in seiner Entscheidung aber zumindest mit den entgegenstehenden Privatgutachten auseinandersetzen und begründen müssen, weshalb es dem gerichtlichen Sachverständigengutachten folge.
Mit Beschluss vom 13. Juli 2009 wies das Landgericht die Anhörungsrüge zurück. Der Vortrag des Beschwerdeführers sei im gesamten Rechtsstreit zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt worden.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Das Landgericht habe seine Einwände gegen das gerichtliche Sachverständigengutachten, gestützt auf vier Privatgutachten, und seine Anträge auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens in den angegriffenen Entscheidungen vollständig ignoriert.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten des Beschwerdeführers, hier des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG, angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 47, 182 ≪187 f.≫). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.
1. Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Daraus folgt zwar nicht, dass sie verpflichtet wären, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden (vgl. BVerfGE 88, 366 ≪375 f.≫ m.w.N.). Die wesentlichen, der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Gründen aber verarbeitet werden (vgl. BVerfGE 47, 182 ≪189≫). Geht ein Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 86, 133 ≪146≫).
b) Dieses Recht ist hier dadurch verletzt, dass die von Privatgutachten gestützten Einwände des Beschwerdeführers gegen das gerichtliche Sachverständigengutachten, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung waren, in dem angegriffenen Beschluss vom 3. Juni 2009 keine Berücksichtigung finden.
Das Landgericht beschränkt sich in seiner Argumentation auf eine weitgehend formelhafte Wiederholung der Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, ohne sich mit deren Inhalt und Bedeutung auseinanderzusetzen. Dabei verkennt es die Grenzen seiner Bindung an erstinstanzlich festgestellte Tatsachen, wonach konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ausreichen, um die Neubewertung der Tatsachengrundlage zu eröffnen. Im Hinblick auf die auf mehrere Privatgutachten gestützten Einwände des Beschwerdeführers hätte das Berufungsgericht zumindest eine logisch nachvollziehbare Begründung für sein Festhalten an dem gerichtlichen Sachverständigengutachten geben müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2009 – IV ZR 57/08 –, juris, Rn. 7). Eine solche Begründung fehlt. Das Landgericht verweist lediglich auf das Gutachten und macht sich dessen Schlussfolgerungen zu Eigen, ohne den sich aus den Privatgutachten ergebenden Beanstandungen nachzugehen. Die unkritische Übernahme des Gutachtens des gerichtlich bestellten Sachverständigen sowie die fehlende Erwähnung der Privatgutachten im angegriffenen Beschluss legen die Annahme nahe, dass das Landgericht den gegenteiligen Standpunkt des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen, ihn jedenfalls nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. Oktober 1996 – 1 BvR 520/95 –, juris, Rn. 19). Der Verstoß setzt sich in dem Beschluss über die Zurückweisung der Anhörungsrüge fort.
2. Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Es kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass das Landgericht bei gebührender Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers ein neues Sachverständigengutachten eingeholt hätte oder zumindest den gerichtlichen Sachverständigen zu den ihm widersprechenden Privatgutachten mündlich oder schriftlich angehört hätte und schließlich zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gelangt wäre.
3. Der aufgezeigten Grundrechtsverletzung kommt trotz der vergleichsweise geringen Klagesumme besonderes Gewicht zu. Indem sich das Landgericht selbst auf die Anhörungsrüge hin in keiner Weise mit den Privatgutachten auseinandergesetzt hat, hat es sich in leichtfertiger Weise über den grundrechtlich gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör hinweggesetzt. Dadurch hat es gegen die mit der Verfahrensgarantie des Art. 103 Abs. 1 GG verbundene Erwartung der Parteien verstoßen, sich bei der Streitbeilegung auf das staatliche Rechtsschutzsystem verlassen zu können (vgl. BVerfGK 7, 438 ≪442≫).
III.
Der Beschluss vom 3. Juni 2009 ist wegen dieses Verstoßes gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landgericht Stuttgart zurückzuverweisen. Der Beschluss vom 13. Juli 2009 wird damit gegenstandslos.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG; die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG und den Grundsätzen für die Festsetzung des Gegenstandswerts im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Unterschriften
Kirchhof, Schluckebier, Baer
Fundstellen
ArztR 2012, 228 |
AMK 2012, 3 |