Verfahrensgang
OLG München (Beschluss vom 15.06.2007; Aktenzeichen 1 Ws 638/07) |
LG Traunstein (Beschluss vom 30.05.2007; Aktenzeichen KLs 310 Js 14575/06 jug.) |
LG Traunstein (Beschluss vom 11.05.2007; Aktenzeichen KLs 310 Js 14575/06 jug.) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 15. Juni 2007 – 1 Ws 638/07 – und die Beschlüsse des Landgerichts Traunstein vom 11. Mai und 30. Mai 2007 – KLs 310 Js 14575/06 jug. – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufhebung eines Haftverschonungsbeschlusses wegen neu hervorgetretener Umstände im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO.
A. – I.
1. Dem Beschwerdeführer, einem deutschen Staatsangehörigen türkischer Herkunft, liegt sexuelle Nötigung in Tatmehrheit mit Vergewaltigung zur Last. Unter dem 19. Mai 2006 erließ das Amtsgericht Traunstein Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer. Als Haftgrund wurde Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) angegeben. Bei Würdigung aller Umstände bestehe die Gefahr, dass sich der Beschwerdeführer dem Strafverfahren entziehe.
2. Mit Beschluss vom 31. Mai 2006 hob das Amtsgericht den Haftbefehl vom 19. Mai 2006 mit der Begründung auf, dass kein dringender Tatverdacht mehr vorliege. Aus diesem Grunde sei auch keine Fluchtgefahr mehr gegeben. Hiergegen erhob die Staatsanwaltschaft unter dem 1. Juni 2006 Beschwerde mit der Begründung, dass sehr wohl ein dringender Tatverdacht bestehe. Darüber hinaus sei auch der Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben. Der Beschwerdeführer sei in der Türkei geboren und verfüge dort über mehrere Liegenschaften. Darüber hinaus beabsichtige er, am 13. Juni 2006 in die Türkei zu reisen. Diese Umstände begründeten in Zusammenschau mit der nicht unerheblichen Straferwartung einen hohen Fluchtanreiz, der auch durch die Integration des Beschwerdeführers im Inland nicht ausreichend relativiert werde.
3. Daraufhin erließ das Landgericht am 2. Juni 2006 erneut Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer wegen der bereits dem Haftbefehl vom 19. Mai 2006 zugrunde liegenden Vorwürfe. Auch dieser Haftbefehl wurde auf den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gestützt. Bei Würdigung aller Umstände bestehe die Gefahr, dass sich der Beschwerdeführer dem Strafverfahren entziehe. Er beabsichtige, am 13. Juni 2006 in die Türkei zu fliegen. Bei einer Verurteilung habe er mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Er sei in der Türkei geboren und könne sich daher leicht in sein Heimatland absetzen.
4. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 11. September 2006 setzte das Amtsgericht mit Beschluss vom selben Tage den Haftbefehl des Landgerichts vom 2. Juni 2006 mit der Auflage außer Vollzug, dass der Beschwerdeführer sich wöchentlich mindestens einmal bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden und sämtliche Reisedokumente bei der Staatsanwaltschaft zu hinterlegen habe.
5. Unter dem 27. November 2006 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zur Großen Strafkammer, Jugendschutzkammer des Landgerichts. Die Hauptverhandlung vor dem Landgericht begann am 24. April 2007 mit Fortsetzungsterminen am 25. April sowie 4., 8., 9. und 11. Mai 2007. Am 9. Mai 2007 beantragte der Vertreter der Staatsanwaltschaft die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen sexueller Nötigung in Tatmehrheit mit Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten. Der Verteidiger des Beschwerdeführers beantragte Freispruch, hilfsweise für den Fall einer Verurteilung maximal eine Strafe von zwei Jahren mit Bewährung.
6. Am 11. Mai 2007 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer wegen sexueller Nötigung in Tatmehrheit mit Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Gegen das Urteil wurde vom Verteidiger des Beschwerdeführers Revision eingelegt. Im Anschluss an die Urteilsverkündung hob das Landgericht den Außervollzugsetzungsbeschluss des Amtsgerichts vom 11. September 2006 auf und setzte den Haftbefehl des Landgerichts vom 2. Juni 2006 wieder in Vollzug.
7. Hiergegen erhob der Verteidiger des Beschwerdeführers unter dem 22. Mai 2007 Beschwerde. Zur Begründung trug er vor, die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO für einen Widerruf der Haftverschonung lägen nicht vor. Es seien keine neuen Umstände gegeben, die es rechtfertigten, den Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen. Bereits zum Zeitpunkt der Aussetzung des Haftbefehls am 11. September 2006 sei für den Beschwerdeführer klar gewesen, dass gegen ihn wegen sexueller Nötigung in Tatmehrheit mit Vergewaltigung ermittelt werde. Auch während der Hauptverhandlung habe eine Verurteilung immer im Raum gestanden. Schließlich sei der Beschwerdeführer am 11. Mai 2007 entsprechend der Anklage vom 27. November 2006 verurteilt worden. Die ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten habe noch unter der von der Staatsanwaltschaft am 9. Mai 2007 geforderten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten gelegen. Es könne daher keine Rede davon sein, dass die Verurteilung weit höher ausgefallen sei, als zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls hätte erwartet werden können. Es seien auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Beschwerdeführer das in ihn gesetzte Vertrauen missbraucht habe. Er habe sich dem Verfahren stets gestellt und zur Verfügung gehalten. Die gesamte Familie des Beschwerdeführers lebe in der Bundesrepublik Deutschland. Der Beschwerdeführer sei sozial eingebunden und voll umfänglich integriert. Über Auslandsbesitz verfüge er nicht. Lediglich sein Sohn sei Eigentümer einer in Istanbul belegenen Wohnung. Dies könne dem Beschwerdeführer jedoch nicht zum Nachteil gereichen. Von einem erhöhten Fluchtanreiz sei nicht auszugehen.
8. Mit Beschluss vom 30. Mai 2007 half das Landgericht der Beschwerde nicht ab und legte sie dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vor. Zur Begründung führte das Landgericht aus, die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO für einen Widerruf des Haftverschonungsbeschlusses lägen vor. Es seien neue Umstände hervorgetreten, die bei Würdigung des Wesens der Aussetzung zu deren Versagung geführt hätten. Zum einen müsse berücksichtigt werden, dass zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung am 11. September 2006 eine abschließende gutachterliche Stellungnahme zur Glaubwürdigkeit der Aussage der Geschädigten noch nicht vorgelegen habe. Das entsprechende Sachverständigengutachten sei erst unter dem 29. September 2006 erstellt worden. Zum anderen sei zu sehen, dass der Beschwerdeführer entsprechend seiner Verteidigungsstrategie davon ausgegangen sei, im streitgegenständlichen Verfahren freigesprochen zu werden. Insofern sei ein Unterschied zu machen zwischen dem Zeitraum bis zur Urteilsverkündung am 11. Mai 2007, in dem der Beschwerdeführer stets zur Hauptverhandlung erschienen sei, und der nunmehr gegebenen Situation, in der er nach Überzeugung der Kammer wegen sexueller Nötigung in Tatmehrheit mit Vergewaltigung mit einer Strafvollstreckung für die Dauer von drei Jahren und sechs Monaten zu rechnen habe. Insoweit gewönnen nunmehr die beim Beschwerdeführer bestehenden starken Auslandsverbindungen verschärft an Gewicht. Der Beschwerdeführer habe nicht nur starke familiäre Beziehungen in die Türkei, er verfüge dort auch über eine Eigentumswohnung und ein gesichertes wirtschaftliches Einkommen. Die zu ihm in engem sozialem Kontakt stehenden Freunde und Familienangehörigen könnten seine Geschäfte in Deutschland weiter betreiben und ihn auch finanziell unterstützen. Nach Überzeugung der Kammer sei daher eine erhöhte Fluchtgefahr gegeben.
9. In Erwiderung auf den Nichtabhilfebeschluss des Landgerichts vom 30. Mai 2007 wies der Verteidiger des Beschwerdeführers erneut darauf hin, dass keine Umstände gemäß § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vorlägen, die die Invollzugsetzung des Haftbefehls rechtfertigten. Soweit das Landgericht darauf verweise, dass zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls das Glaubwürdigkeitsgutachten noch nicht vorgelegen habe, verkenne es, dass sich die neu hervorgetretenen Umstände im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nicht auf den dringenden Tatverdacht beziehen dürften. Ohne Bedeutung sei weiterhin, dass der Beschwerdeführer einen Freispruch erstrebt habe. Sowohl der Haftbefehl als auch die Anklageschrift und der Eröffnungsbeschluss hätten dem Beschwerdeführer deutlich vor Augen geführt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit verurteilt werde. Der Tatvorwurf der Vergewaltigung eröffne einen Strafrahmen von zwei bis 15 Jahren, der der sexuellen Nötigung einen solchen von einem bis zu 15 Jahren. Da zwei Taten in Tatmehrheit angeklagt worden seien, sei für den Fall eines Schuldspruchs eine Strafe, die unter dem des vorliegenden Strafausspruchs liege, von vornherein höchst unwahrscheinlich gewesen. Der konkrete Strafausspruch entferne sich somit in keiner Weise von der bereits zum Zeitpunkt der Anklageerhebung und des Eröffnungsbeschlusses bestehenden Straferwartung. Die Verurteilung allein stelle unter dem Gesichtspunkt der Fluchtgefahr keinen neu hervorgetretenen Umstand dar.
10. Mit Beschluss vom 15. Juni 2007 verwarf das Oberlandesgericht die Beschwerde als unbegründet. Die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO für die erneute Invollzugsetzung des Haftbefehls lägen vor, da durch die Verurteilung neue Umstände im Sinne dieser Vorschrift hervorgetreten seien, die Verhaftung erforderlich machten. Aufgrund der Entwicklung der Haftfrage habe der Beschwerdeführer ab der Außervollzugsetzung des Haftbefehls und bei Beginn der Hauptverhandlung nicht in gesteigertem Maße mit einer Verurteilung rechnen müssen. Diese Einschätzung habe offensichtlich auch noch nach Durchführung der Hauptverhandlung bestanden, was sich daraus ergebe, dass der Beschwerdeführer sich dem Antrag seines Verteidigers auf Freispruch angeschlossen habe. Selbst für den Fall einer Verurteilung habe der Beschwerdeführer nach dem Antrag seines Verteidigers lediglich mit einer Bewährungsstrafe gerechnet. Demgemäß sei er auch zur Urteilsverkündung am folgenden Verhandlungstage, an dem die – noch nicht rechtskräftige – Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten erfolgt sei, erschienen. Diese stelle für den Beschwerdeführer einen gravierenden neuen Umstand dar. Insoweit habe sich nämlich weder die im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls bestehende noch die vom beim Beschwerdeführer angenommene Straferwartung realisiert, vielmehr sei er statt zu einer von ihm maximal zu erwartenden Bewährungsstrafe zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Dieser Umstand rechtfertige es, den außer Vollzug gesetzten Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen, da andernfalls die Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer sich nunmehr in Kenntnis der Verurteilung einer drohenden Strafvollstreckung entziehe. Ergänzend nahm das Oberlandesgericht auf die Ausführungen des Landgerichts im Nichtabhilfebeschluss vom 30. Mai 2007 Bezug.
II.
1. Der Verteidiger des Beschwerdeführers rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG. Die Aufhebung des Außervollzugsetzungsbeschlusses des Amtsgerichts vom 11. September 2006 durch den Beschluss des Landgerichts vom 11. Mai 2007, der Nichtabhilfebeschluss des Landgerichts vom 30. Mai 2007 und der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 15. Juni 2007 verletzten ihn in seinem Grundrecht der Freiheit der Person. Die Regelung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sei zudem in objektiv willkürlicher Weise zu seinen Lasten angewandt worden.
a) Neue Umstände im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO lägen nur dann vor, wenn sie die Tatsachenbasis des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschütterten, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn diese Umstände bereits bei der Entscheidung über die Außervollzugsetzung bekannt gewesen wären. Angesichts dessen sei für einen Widerruf der Haftverschonung erforderlich, dass die im Urteil des Landgerichts vom 11. Mai 2007 ausgesprochene Strafhöhe von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung, wie sie zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung bestanden habe, wesentlich zum Nachteil des Beschwerdeführers abweiche, so dass sich die Fluchtgefahr drastisch erhöhe. Davon könne jedoch keine Rede sein. Dem Verfahren habe von Anfang an der Vorwurf der sexuellen Nötigung in einem besonders schweren Fall (Vergewaltigung) zugrunde gelegen, die mit einer Mindeststrafe von zwei Jahren und einer Höchststrafe von 15 Jahren bedroht sei. Tateinheitlich zu diesem Vorwurf sei von Anfang an eine weitere sexuelle Nötigung hinzugetreten. Dies bedeute, dass die Prognose hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruches bei einer möglichen Verurteilung bereits zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls deutlich über der Mindeststrafe von zwei Jahren für einen der Tatvorwürfe gelegen habe. Im Vergleich hierzu erscheine eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten als geradezu moderat.
b) Der Beschwerdeführer habe sich über den gesamten Zeitraum der Außervollzugsetzung des Haftbefehls an die ihm auferlegten Bedingungen gehalten. Dem anwaltlich beratenen Beschwerdeführer sei deutlich vor Augen geführt worden, dass die Staatsanwaltschaft nach Erhebung der Anklage zur großen Strafkammer und nicht lediglich zum Schöffengericht eine Vollzugsstrafe anstrebe, die im Bereich von eher über vier Jahren als darunter liege und demzufolge eine Bewährungsstrafe nicht in Betracht komme. Selbst diese Erwartung habe den Beschwerdeführer nicht veranlasst, sich dem Verfahren zu entziehen. Dasselbe gelte für den Zeitraum nach dem 9. Mai 2007, an dem die Staatsanwaltschaft die Verhängung einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten beantragt habe. Auch nach diesem konkreten Strafantrag habe sich der Beschwerdeführer dem Verfahren weiter zur Verfügung gehalten und sei zur Urteilsverkündung erschienen. Das Oberlandesgericht habe diese Gesichtspunkte in objektiv willkürlicher Weise nicht zur Kenntnis genommen und damit den Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers verletzt.
2. Das Justizministerium des Freistaates Bayern hat von einer Stellungnahme abgesehen.
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und – in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer gemäß § 93c Abs. 1 BVerfGG eröffnenden Weise – auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
I.
1. a) In die materielle Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen eingegriffen werden (Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG). Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in einem unlösbaren Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪322≫; 58, 208 ≪220≫; 105, 239 ≪247≫). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪323≫; 29, 183 ≪195≫; 58, 208 ≪220≫; 105, 239 ≪247≫). Verstöße gegen die durch Art. 104 GG gewährleisteten Voraussetzungen und Formenfreiheitsbeschränkender Gesetze stellen daher stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person dar (BVerfGE 10, 302 ≪323≫; 58, 208 ≪220≫; 65, 317 ≪321 f.≫). Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze sind deshalb von den Gerichten so auszulegen und anzuwenden, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317 ≪322 f.≫; 96, 68 ≪97≫; 105, 239 ≪247≫).
b) Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben (vgl. hierzu OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24. Mai 1993 – 1 Ws 456/93 –, StV 1993, S. 480 ≪481≫; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. Februar 1988 – 3 Ws 142/88 –, StV 1988, S. 207; KG, Beschluss vom 14. Oktober 1996 – 4 Ws 168/96 –, StraFo 1997, S. 27; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., 2005, § 116 Rn. 22; Boujong, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl., 2003, § 116 Rn. 27; Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1997, § 116 Rn. 44), gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2005 – 2 BvR 1618/05 –, StV 2006, S. 26 ≪27≫, 1. Februar 2006 – 2 BvR 2056/05 –, StV 2006, S. 139 ≪140≫ und 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, Abs.-Nr. 15).
Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 8. November 2001 – 4 Ws 544/01 –, StV 2002, S. 207). Der erneute Vollzug des Haftbefehls durch den Richter kommt nach Nr. 3 jener Vorschrift nur dann in Betracht, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen (vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 16. September 2004 – 4 StR 84/04 –, NStZ 2005, S. 279 ≪280≫). Dagegen kann eine lediglich andere Beurteilung des unverändert gebliebenen Sachverhalts einen Widerruf nicht rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2005 – 2 BvR 1618/05 –, StV 2006, S. 26 ≪27≫, 1. Februar 2006 – 2 BvR 2056/05 –, StV 2006, S. 139 ≪140≫ und 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, Abs.-Nr. 16; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 3. Juni 2004 – 1 Ws 46/04 –, StV 2004, S. 493; Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 116 Rn. 44; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., 2001, Rn. 1093).
2. “Neu” im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 6. November 2000 – 1 Ws 139/00 –, StraFo 2001, S. 144; Beschluss vom 3. Juni 2004 – 1 Ws 46/04 –, StV 2004, S. 493; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. September 1999 – 4 Ws 250/99 –, StV 2000, S. 211; Beschluss vom 8. November 2001 – 4 Ws 544/01 –, StV 2002, S. 207). Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht mit anderen Worten in einem Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung (vgl. KG, Beschluss vom 27. März 1998 – 1 AR 301/98 – 4 Ws 61/98 –, ≪juris≫). Ob dies der Fall ist, erfordert vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) eine Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls (vgl. hierzu auch OLG Hamm, Beschluss vom 27. Dezember 2002 – 2 Ws 474/02 –, StV 2003, S. 512 ≪513≫).
Dabei sind die Grenzen, innerhalb derer eine Haftverschonung wegen neu hervorgetretener Umstände widerrufen werden kann, nach der einschlägigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte eng gesteckt (vgl. KG, Beschluss vom 27. März 1998 – 1 AR 301/98 – 4 Ws 61/98 –, ≪juris≫; OLG Frankfurt, Beschluss vom 3. Juni 2004 – 1 Ws 46/04 –, StV 2004, S. 493). Denn das Gericht ist an die Beurteilung der Umstände, auf denen die Aussetzung beruht, grundsätzlich gebunden (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 6. November 2000 – 1 Ws 139/00 –, StraFo 2001, S. 144 ≪145≫). Lediglich eine nachträglich andere Beurteilung bei gleichbleibender Sachlage rechtfertigt den Widerruf nicht (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 3. Juni 2004 – 1 Ws 46/04 –, StV 2004, S. 493). Vielmehr ist angesichts der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) die Schwelle für eine Widerrufsentscheidung grundsätzlich sehr hoch anzusetzen (vgl. KG, Beschluss vom 27. März 1998 – 1 AR 301/98 – 4 Ws 61/98 –, ≪juris≫; OLG Frankfurt, Beschluss vom 3. Juni 2004 – 1 Ws 46/04 –, StV 2004, S. 493). Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung stets zu berücksichtigen ist deshalb vor allem, dass der Angeklagte inzwischen Gelegenheit hatte, sein Verhalten gegenüber dem Strafverfahren zu dokumentieren (vgl. KG, Beschluss vom 27. März 1998 – 1 AR 301/98 – 4 Ws 61/98 –, ≪juris≫; OLG Frankfurt, Beschluss vom 3. Juni 2004 – 1 Ws 46/04 –, StV 2004, S. 493) und das in ihn gesetzte Vertrauen (vgl. hierzu § 116 Abs. 4 Nr. 2 StPO), namentlich durch strikte Beachtung der ihm erteilten Auflagen, zu rechtfertigen (vgl. hierzu bereits Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Februar 2006 – 2 BvR 2056/05 –, StV 2006, S. 139 ≪140 f.≫ und 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, Abs.-Nr. 18).
3. Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht (vgl. KG, Beschluss vom 27. März 1998 – 1 AR 301/98 – 4 Ws 61/98 –, ≪juris≫ m.w.N.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 6. November 2000 – 1 Ws 139/00 –, StraFo 2001, S. 144; Beschluss vom 3. Juni 2004 – 1 Ws 46/04 –, StV 2004, S. 493; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 8. November 2001 – 4 Ws 544/01 –, StV 2002, S. 207). Ob dies der Fall ist, ist durch Abwägung und Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu ermitteln (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 27. Dezember 2002 – 2 Ws 474/02 –, StV 2003, S. 512 ≪513≫). Die insoweit heranzuziehenden Umstände müssen sich jeweils auf die Haftgründe beziehen (vgl. näher Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1997, § 116 Rn. 50). In Betracht kommen vor allem Fälle, in denen ein weiterer Haftgrund zu dem im Haftbefehl aufgeführten hinzutritt oder sich der dem Haftbefehl zugrunde liegende Haftgrund verschärft (vgl. Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., 2001, Rn. 1095).
Neu hervorgetretene Umstände können sich dagegen nicht auf den (dringenden) Tatverdacht beziehen (vgl. Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1997, § 116 Rn. 50 m.w.N.). Dieser ist bereits Grundvoraussetzung für Erlass und Aufrechterhaltung jeden Haftbefehls (vgl. § 112 Abs. 1 StPO). Demgemäß ist ohne Bedeutung, dass sich der dem Haftbefehl oder der Anklage zugrunde gelegte dringende Tatverdacht aufgrund der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung bestätigt hat und damit noch “dringender” geworden ist (vgl. OLG München, Beschluss vom 27. Juli 1977 – 1 Ws 852/77 –, NJW 1978, S. 771 ≪772≫; OLG Frankfurt, Beschluss vom 6. November 2000 – 1 Ws 139/00 –, StraFo 2001, S. 144).
Der erneute Vollzug des Haftbefehls aufgrund von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO kommt auch in Betracht, wenn ein Beschuldigter unerwartet streng verurteilt wird oder wenn sonstige (auch zeitlich vor dem Aussetzungsbeschluss entstandene) schwerwiegende Tatsachen nachträglich bekannt werden, die das Gericht, hätte es sie im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung gekannt, zur Ablehnung der Haftverschonung veranlasst hätten (vgl. Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1997, § 116 Rn. 50). War dagegen schon zu diesem Zeitpunkt mit der später ausgesprochenen – auch höheren – Strafe zu rechnen und hat der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, liegt kein Fall des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vor (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. Februar 1988 – 3 Ws 142/88 –, StV 1988, S. 207: Sogar für den Fall einer lebenslangen Freiheitsstrafe; Beschluss vom 27. September 1999 – 4 Ws 250/99 –, StV 2000, S. 211; Beschluss vom 8. November 2001 – 4 Ws 544/01 –, StV 2002, S. 207; OLG Frankfurt, Beschluss vom 7. November 1997 – 1 Ws 161/97 –, StV 1998, S. 31; Beschluss vom 6. November 2000 – 1 Ws 139/00 –, StraFo 2001, S. 144; Beschluss vom 3. Juni 2004 – 1 Ws 46/04 –, StV 2004, S. 493; KG, Beschluss vom 27. März 1998 – 1 AR 301/98 – 4 Ws 61/98 –, ≪juris≫; Beschluss vom 21. November 2001 – 1 AR 1438/01 – 3 Ws 609/01 –, ≪juris≫; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Dezember 2002 – 2 Ws 474/02 –, StV 2003, S. 512 ≪513≫; erst jüngst auch BGH, Urteil vom 16. September 2004 – 4 StR 84/04 –, NStZ 2005, S. 279 ≪280≫).
Vor dem Hintergrund, dass Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze so auszulegen und anzuwenden sind, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317 ≪322 f.≫; 96, 68 ≪97≫; 105, 239 ≪247≫), fordert die Anwendung jener Norm nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausging (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 30. Juni 1999 – 2 Ws 392/99 und 399/99 –, StraFo 1999, S. 322 f.). Bloße Mutmaßungen können insoweit nicht genügen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. September 1999 – 4 Ws 250/99 –, StV 2000, S. 211 ≪212≫). Selbst der Umstand, dass der um ein günstigeres Ergebnis bemühte Angeklagte infolge des Schlussantrages der Staatsanwaltschaft oder gar durch das Urteil selbst die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern ihm die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen stand und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachkam (vgl. Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., 2001, Rn. 1095; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Dezember 2002 – 2 Ws 474/02 –, StV 2003, S. 512 ≪513≫). Insoweit setzt sich der vom Angeklagten auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzte Vertrauenstatbestand (vgl. § 116 Abs. 4 Nr. 2 StPO) als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch (vgl. bereits Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Februar 2006 – 2 BvR 2056/05 –, StV 2006, S. 139 ≪141≫ und 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, Abs.-Nr. 22).
4. Selbst wenn die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vorliegen, bleibt infolge des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stets zu prüfen, ob statt einer Rücknahme der Haftverschonung nicht mildere Mittel der Verfahrenssicherung – namentlich eine Verschärfung der Auflagen – in Betracht kommen (vgl. Boujong, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl., 2003, § 116 Rn. 32 a.E.).
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen werden die angefochtenen Entscheidungen nicht gerecht. Weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht haben in die von ihnen vorzunehmende Abwägung alle relevanten Gesichtspunkte mit dem ihnen von Verfassungs wegen zukommenden Gewicht einbezogen, die nach Lage der Dinge hätten einbezogen werden müssen. Vor allem haben sie nicht dargelegt, weshalb der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters vom 11. Mai 2007 von der Prognose des Haftrichters und dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft vom 9. Mai 2007 signifikant zum Nachteil des Beschwerdeführers abweicht und sich dadurch die Fluchtgefahr ganz wesentlich erhöht hat.
1. a) Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht haben den Widerruf der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit Beschluss vom 11. Mai 2007 in ihren Entscheidungen vom 30. Mai 2007 und 15. Juni 2007 im Wesentlichen damit begründet, dass mit der Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer (noch nicht rechtskräftigen) Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten ein neuer Umstand (§ 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO) eingetreten sei, der die Aufhebung der Außervollzugsetzung des Haftbefehls erforderlich mache, weil nunmehr die Gefahr, dass der Beschwerdeführer sich dem Verfahren entziehe, deutlich erhöht sei.
b) Damit haben beide Gerichte den oben beschriebenen verfassungsrechtlichen Rahmen des Widerrufs einer Haftverschonungsentscheidung (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) verkannt. Sie haben einseitig auf die Höhe der ausgeurteilten Strafe abgestellt und dem Umstand, dass der Beschwerdeführer durch das Befolgen der ihm erteilten Auflagen einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat und hierin grundsätzlich schutzwürdig ist, zu Unrecht nicht die ihm von Verfassungs wegen gebührende Bedeutung beigemessen. So haben sie im Ergebnis unberücksichtigt gelassen, dass der Beschwerdeführer nach der Haftverschonungsentscheidung über einen Zeitraum von acht Monaten hinweg Gelegenheit hatte, sein Verhalten gegenüber dem Strafverfahren zu dokumentieren und das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen und – wie sein gesamtes Verhalten während dieses Zeitraums zeigt – auch tatsächlich gerechtfertigt hat, obwohl er aufgrund der Schwere der ihm zur Last gelegten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von vornherein mit einer mehrjährigen, einer Aussetzung zur Bewährung nicht mehr zugänglichen Freiheitsstrafe rechnen musste.
c) Auch der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in seinem Urteil vom 16. September 2004 – 4 StR 84/04 –, NStZ 2005, S. 279 (280) ausdrücklich festgestellt, dass die mögliche Verurteilung als solche oder auch die Höhe einer zu erwartenden Strafe nicht als neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung des Angeklagten rechtfertigen, wenn schon bei der Aussetzungsentscheidung von der Möglichkeit der Verurteilung ausgegangen und für den Fall des Schuldnachweises mit einer erheblichen Freiheitsstrafe gerechnet worden war.
Nicht anders verhält es sich hier. Der Beschwerdeführer musste spätestens mit dem Erlass des Haftbefehls des Landgerichts am 2. Juni 2006 für den Fall eines Schuldnachweises – in den Worten des Landgerichts – “mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe” rechnen, “die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann”. Mit Erhebung der Anklage zur Großen Strafkammer des Landgerichts am 27. November 2006 und nicht lediglich zum Schöffengericht, hatte sich die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe nochmals deutlich erhöht. Erst recht gilt dies für den Zeitraum ab Erlass des Eröffnungsbeschlusses. Gleichwohl hat sich der Beschwerdeführer dem Verfahren weiter zur Verfügung gehalten und an allen Hauptverhandlungsterminen am 24. und 25. April sowie 4., 8., 9. und 11. Mai 2007 teilgenommen.
d) Besondere Bedeutung kommt insoweit dem Umstand zu, dass sich der Beschwerdeführer der Hauptverhandlung und Urteilsverkündung am 11. Mai 2007 gestellt hat, obwohl zuvor am 9. Mai 2007 die Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussvortrag die Verhängung einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Vergewaltigung beantragt hatte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Risiko einer Bestrafung, das im Übrigen während des gesamten Verfahrens im Raum gestanden hatte, so sehr verdichtet, dass der Beschwerdeführer auf einen ihm günstigen Ausgang des Verfahrens nicht mehr vertrauen durfte. Mit der Teilnahme an der Urteilsverkündung hat der Beschwerdeführer daher für jedermann sichtbar dokumentiert, dass er sich dem Verfahren und einer gegebenenfalls drohenden Strafvollstreckung im Falle des Scheiterns der Revision unter allen Umständen zur Verfügung halten will (vgl. insoweit OLG Hamm, Beschluss vom 27. Dezember 2002 – 2 Ws 474/02 –, StV 2003, S. 512 ≪513≫ zu einer vergleichbaren Konstellation; siehe im Übrigen auch Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Februar 2006 – 2 BvR 2056/05 –, StV 2006, S. 139 ≪142≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, Abs.-Nr. 31). Weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht haben dem die von Verfassungs wegen gebotene Bedeutung beigemessen. Im Gegenteil, ihre Ausführungen sind einzig und allein darauf gerichtet, den vom Beschwerdeführer auf der Grundlage von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO gesetzten Vertrauenstatbestand zu negieren.
e) Allein der Umstand, dass der um ein günstigeres Ergebnis bemühte Angeklagte infolge des Schlussantrages der Staatsanwaltschaft oder gar durch das Urteil selbst die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, wenn ihm – wie hier – die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen stand und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachkam (vgl. Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., 2001, Rn. 1095; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Dezember 2002 – 2 Ws 474/02 –, StV 2003, S. 512 ≪513≫). Insoweit setzt sich der vom Beschwerdeführer auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzte Vertrauenstatbestand (vgl. § 116 Abs. 4 Nr. 2 StPO) als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) durch (vgl. bereits Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Februar 2006 – 2 BvR 2056/05 –, StV 2006, S. 139 ≪141≫ und 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, Abs.-Nr. 32).
f) Der Beschwerdeführer ist weder unerwartet streng bestraft worden noch sind sonstige schwerwiegende Tatsachen nachträglich bekannt geworden. Er wurde am 11. Mai 2007 ausschließlich wegen derjenigen Taten verurteilt, die ihm bereits in den Haftbefehlen vom 19. Mai und 2. Juni 2006 sowie in der Anklageschrift vom 27. November 2006 zur Last gelegt wurden. Die Außervollzugsetzung des Haftbefehls ist auf Antrag der Staatsanwaltschaft in Kenntnis der Massivität der gegen den Beschwerdeführer bestehenden Vorwürfe erfolgt, obwohl die starken familiären Beziehungen des Beschwerdeführers in die Türkei und das dortige Vorhandensein einer mutmaßlich dem Sohn des Beschwerdeführers gehörenden Eigentumswohnung bekannt waren und von einem gesicherten wirtschaftlichen Einkommen des Beschwerdeführers auch in der Türkei bereits damals ausgegangen werden musste. Diese Umstände können dem Beschwerdeführer, sofern sich – wie hier – der Tatvorwurf nach der Außervollzugsetzung des Haftbefehls in keinem Punkt verändert hat und er allen Auflagen beanstandungsfrei nachgekommen ist, nicht als neu hervorgetretene Tatsachen im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO entgegengehalten werden.
g) Die angefochtenen Entscheidungen sind deshalb mit Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nicht zu vereinbaren. Ob mildere Mittel der Verfahrenssicherung – namentliche eine Verschärfung der Auflagen – in Betracht kommen, haben weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht geprüft. Auch dies verletzt das Grundrecht der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG).
2. Ohne jede Relevanz ist demgegenüber der Umstand, dass im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls am 11. September 2006 die abschließende gutachterliche Stellungnahme zur Glaubwürdigkeit zur Aussage der Geschädigten noch nicht vorgelegen hat, sondern erst am 29. September 2006 erstellt wurde. Neu hervorgetretene Umstände können sich nicht auf den (dringenden) Tatverdacht beziehen (vgl. Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1997, § 116 Rn. 50 m.w.N.). Dieser ist bereits Grundvoraussetzung für den Erlass und die Aufrechterhaltung jeden Haftbefehls (vgl. § 112 Abs. 1 StPO). Demgemäß ist ohne Bedeutung, dass sich der dem Haftbefehl oder der Anklage zugrunde gelegte dringende Tatverdacht aufgrund der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung bestätigt hat und damit noch “dringender” geworden ist (vgl. OLG München, Beschluss vom 27. Juli 1977 – 1 Ws 852/77 –, NJW 1978, S. 771 ≪772≫; OLG Frankfurt, Beschluss vom 6. November 2000 – 1 Ws 139/00 –, StraFo 2001, S. 144). Ungeachtet dessen drängt sich – jedenfalls vom Standpunkt des Landgerichts aus gesehen – die Frage auf, weshalb dieser Umstand dem Gericht nicht schon nach Eingang des Gutachtens im September 2006, sondern erst im Mai 2007 und damit über sieben Monate später Anlass zum Widerruf der Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegeben hat.
3. Ohne jede Grundlage ist des Weiteren auch die Annahme des Oberlandesgerichts, der Beschwerdeführer habe ab der Außervollzugsetzung des Haftbefehls und seit Beginn der Hauptverhandlung nicht in gesteigertem Maße mit einer Verurteilung rechnen müssen oder doch zumindest auf eine Bewährungsstrafe vertrauen dürfen. Sowohl der Inhalt des Haftbefehls vom 2. Juni 2006 als auch der der Anklageschrift vom 27. November 2006, spätestens jedoch der Verlauf der Hauptverhandlung und der Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten stehen dem entgegen.
4. Untersuchungshaft ist keine antizipierte Strafhaft. Sie steht dieser weder in ihren Wirkungen noch in ihren Voraussetzungen gleich. Der Begünstigte einer Haftverschonungsentscheidung hat grundsätzlich Anspruch, die Rechtskraft des Urteils in Freiheit zu erwarten (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, Abs.-Nr. 25). Diese verfassungsrechtliche Vorgabe ist auch für die Fachgerichte bindend; sie kann nicht unter Berufung auf eine wie auch immer geartete “richterliche Überzeugung” außer Kraft gesetzt werden.
III.
1. Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG durch den Widerruf der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit Beschluss des Landgerichts vom 11. Mai 2007, den Nichtabhilfebeschluss vom 30. Mai 2007 und die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts vom 15. Juni 2007 festzustellen.
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts ist unter Zurückverweisung der Sache aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Oberlandesgericht hat unter Berücksichtigung der angeführten Gesichtspunkte, vor allem aber unter Beachtung des bereits im Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Februar 2006 – 2 BvR 2056/05 –, StV 2006, S. 139 (140 f.) entwickelten und im Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 – Abs.-Nr. 14 ff. nochmals dargelegten Maßstabes erneut zu entscheiden. Liegen die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO für einen Widerruf der Haftverschonung nicht vor, müssen die Beschlüsse des Landgerichts vom 11. Mai und 30. Mai 2007 aufgehoben und muss der Haftbefehl vom 2. Juni 2006 erneut außer Vollzug gesetzt werden. Der Beschwerdeführer ist in diesem Fall unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Allenfalls kann eine Verschärfung der Meldeauflagen in Betracht gezogen werden.
3. Angesichts der festgestellten Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG bedarf es keiner ausdrücklichen Entscheidung mehr, ob die angefochtenen Beschlüsse auch gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen.
4. Die Entscheidung über die Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Broß, Mellinghoff, Gerhardt
Fundstellen
NStZ 2008, 138 |
wistra 2007, 417 |
NStZ-RR 2007, 379 |
NPA 2008 |
StRR 2007, 275 |