Entscheidungsstichwort (Thema)
Verspätete Zustellung von Berufungsentscheidungen
Beteiligte
Rechtsanwälte Dr. Gerhard Schäder und Koll. |
Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 15. April 1999 – 3 Sa 117/99 – verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Es wird aufgehoben.
Damit werden die Beschlüsse des Bundesarbeitsgerichts vom 20. Juli 2001 – 2 AZN 689/00 – und – 2 AZR 300/00 – gegenstandslos.
Die Sache wird an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts München zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 20.000 DM (in Worten: zwanzigtausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zwei Beschlüsse des Bundesarbeitsgerichts im Revisions- und Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren sowie gegen die Berufungsentscheidung eines Landesarbeitsgerichts, die dem Beschwerdeführer in vollständiger Fassung mehr als 30 Monate nach der Verkündung noch immer nicht zugestellt worden ist.
I.
Der Beschwerdeführer ist bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens als Arbeitnehmer beschäftigt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis durch Schreiben vom 12. Mai 1997 außerordentlich fristlos. Auf die hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage stellte das Arbeitsgericht durch Teilurteil vom 20. Mai 1998 fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die fristlose Kündigung nicht aufgelöst worden sei, sondern fortbestehe. Vollständig abgefasst wurde das Teilurteil des Arbeitsgerichts der Geschäftsstelle bisher nicht übergeben.
Das Landesarbeitsgericht gab der Berufung der Beklagten gegen das Teilurteil des Arbeitsgerichts durch Urteil vom 15. April 1999 statt und wies die Kündigungsschutzklage ab; die Revision ließ es nicht zu. Auch dieses Urteil wurde bisher nicht vollständig abgefasst und von allen beteiligten Richtern unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben.
Das Bundesarbeitsgericht verwarf die zunächst auf den Verfahrensmangel des § 551 Nr. 7 ZPO gestützte Revision des Beschwerdeführers und dessen spätere Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landesarbeitsgerichts durch zwei Beschlüsse vom 20. Juli 2001 jeweils als unzulässig. Die Beschlüsse wurden den Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 28. bzw. 31. August 2001 zugestellt.
II.
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner am 7. Juni 2001 eingegangenen Verfassungsbeschwerde die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG durch das Urteil des Landesarbeitsgerichts. Mit weiterem, am 13. September 2001 eingegangenem Schreiben, erstreckt er seine Verfassungsbeschwerde auf die beiden Beschlüsse des Bundesarbeitsgerichts. Zur Begründung beruft er sich auf die Entscheidung der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 – 1 BvR 383/00 –.
III.
Zur Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung sowie das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen Stellung genommen.
Das Bundesministerium hat mitgeteilt, dass es derzeit die Regelungen der Revisionszulassung im Arbeitsgerichtsgesetz (§§ 72, 72 a ArbGG) überprüfe. Es bestehe gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Es werde überlegt, zumindest in gewissem Umfang auch bei Vorliegen von Verfahrensfehlern sowie bei Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung, bei denen es sich nicht um tarifvertrags- oder koalitionsrechtliche Streitigkeiten handele, eine Zulassung der Revision zu ermöglichen. Die Gesetzesänderung müsse sowohl den Interessen der Recht suchenden Bürger gerecht werden als auch eine zu starke Belastung des Bundesarbeitsgerichts als Revisionsinstanz vermeiden. Allerdings werde das Vorhaben wegen seiner Bedeutung und Komplexität in der laufenden Legislaturperiode voraussichtlich nicht mehr abgeschlossen.
Das Bayerische Staatsministerium hat sich dahin geäußert, dass alleiniger Grund für die verspätete Zustellung des Urteils des Landesarbeitsgerichts der Gesundheitszustand des Kammervorsitzenden gewesen sei. Die Verzögerung werde außerordentlich bedauert.
Entscheidungsgründe
B.
I.
Die Kammer nimmt gemäß § 93 b BVerfGG die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der Verfassungsbeschwerde ist nach Maßgabe der Gründe stattzugeben. Die für die Beurteilung wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich des Urteils des Landesarbeitsgerichts zulässig und begründet.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die einschlägigen verfassungsrechtlichen Fragen zur Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) bereits entschieden.
Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪25 f.≫; 69, 381 ≪385≫). Gleichzeitig gebietet die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Pflicht zur Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes und zur Herstellung von Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 60, 253 ≪269≫; 88, 118 ≪124≫).
2. Nach diesem Maßstab verletzt die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).
Eine landesarbeitsgerichtliche Entscheidung, in der die Revision nicht zugelassen wurde und deren vollständige Gründe erst mehr als fünf Monate nach Verkündung unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden sind, kann keine geeignete Grundlage mehr für das Revisionsgericht sein, um das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen in rechtsstaatlicher Weise zu überprüfen. Ein Landesarbeitsgericht, das ein Urteil in vollständiger Fassung erst so spät absetzt, erschwert damit für die unterlegene Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise.
Wegen der weiteren Begründung wird verwiesen auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 – 1 BvR 383/00 –, AP Nr. 33 zu Art. 20 GG = NZA 2001, S. 982.
II.
Die angegriffene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben und die Sache – zur Vermeidung weiterer Verzögerungen – an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückzuverweisen.
Die ebenfalls angegriffenen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts werden damit gegenstandslos, sodass es keines weiteren Eingehens auf die insoweit erhobenen Rügen bedarf.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten, weil sich die Verfassungsbeschwerde als begründet erwiesen hat (§ 34 a Abs. 2 BVerfGG). Die Festsetzung des Wertes des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
Unterschriften
Jaeger, Hömig, Bryde
Fundstellen