Verfahrensgang
OLG Hamm (Beschluss vom 08.10.2007; Aktenzeichen 1 Ws - L - 603/07) |
LG Wuppertal (Beschluss vom 31.05.2007; Aktenzeichen 2 StVK 302/07 b) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 8. Oktober 2007 – 1 Ws – L – 603/07 – und der Beschluss des Landgerichts Wuppertal vom 31. Mai 2007 – 2 StVK 302/07 b – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Wuppertal zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Ablehnung der Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung bei lebenslanger Gesamtfreiheitsstrafe nach Verbüßung der durch die besondere Schuldschwere bedingten Zeit gemäß § 57a StGB.
I.
Der Beschwerdeführer befand sich seit dem 3. Oktober 1986 zunächst in Untersuchungshaft und ist seit dem 20. Februar 1988 in Strafhaft. Er verbüßt eine lebenslange Gesamtfreiheitsstrafe aus einem Urteil des Landgerichts Aachen vom 23. Oktober 1987 wegen Mordes an seiner ersten Ehefrau und versuchten Mordes an seiner zweiten Ehefrau. Nach den Feststellungen des Gerichts hatte er jedenfalls die erste Tat begangen, um eine außerehelich eingegangene Liebesbeziehung fortzusetzen. Im Strafurteil wird der Beschwerdeführer als außergewöhnlich skrupelloser Täter bezeichnet, dessen Tatverhalten von einem kaum zu überbietenden Maß an Kaltblütigkeit gekennzeichnet sei.
Ein psychiatrisches Gutachten aus dem Jahre 1996 kam zu dem Ergebnis, dass zwar beide Taten ohne die spezifische Persönlichkeitsproblematik des Beschwerdeführers nicht denkbar seien. Sie seien aber im Kontext lebensphasischer Ereignisse geschehen, deren Wiederholung in dieser Zuspitzung nicht zu erwarten sei. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt kam in einem 1997 erstellten Zehnjahresbericht ebenfalls zu dem Ergebnis, dass davon auszugehen sei, dass der Beschwerdeführer nach seiner Haftentlassung ohne Straftaten in geordneten Verhältnissen leben werde. Der Beschwerdeführer wurde 1998 in den offenen Vollzug verlegt. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt befürwortete in einer Stellungnahme aus dem Jahre 2000 vor dem Hintergrund des durchweg positiven Vollzugsverlaufs eine vorzeitige Entlassung.
Das Landgericht Bonn lehnte am 9. Januar 2001 eine Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes ab und setzte die aus Gründen der besonderen Schwere der Schuld gebotene Mindestvollstreckungsdauer der lebenslangen Freiheitsstrafe auf 20 Jahre fest. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht Hamm verworfen. In der Folgezeit befand sich der Beschwerdeführer weiterhin beanstandungsfrei im offenen Vollzug.
Im Jahre 2005 wurde wegen des anstehenden Ablaufs der Mindestverbüßungsdauer erneut ein Reststrafenaussetzungsverfahren eingeleitet. In einer Stellungnahme vom 14. November 2005 befürwortete der Leiter der Justizvollzugsanstalt wegen des positiven Vollzugsverhaltens zunächst eine Reststrafenaussetzung. Der Beschwerdeführer sei bezüglich seiner Straftat und Verurteilung zu einer realitätsbezogenen Sichtweise und Auseinandersetzung in der Lage. In zahlreichen Gesprächen sei glaubwürdig und nachvollziehbar deutlich gemacht worden, dass er nicht mehr straffällig werden wolle. Der Beschwerdeführer sei eine in sich ruhende Persönlichkeit mit einem hohen moralischen Anspruch. Auch die betreuende Psychologin habe sich über ihn nur positiv geäußert. Aus behandelnder Sicht seien keinerlei Gründe ersichtlich, die eine weitere Inhaftierung in irgendeiner Weise sinnvoll erscheinen ließen. In einer Stellungnahme vom 5. Januar 2006 relativierte der Leiter der Justizvollzugsanstalt seine Einschätzung. Es sei bekannt geworden, dass der Beschwerdeführer zwei während des offenen Vollzugs eingegangene Liebesbeziehungen verschwiegen habe. Um die zweite Beziehung zu beenden, habe er an sich selbst und an die Frau fingierte anonyme Drohbriefe verfasst. Seine Erklärungen hierzu seien unreif. Daher sei er verpflichtet worden, sich bei einem externen Psychotherapeuten in Behandlung zu begeben. Er sei hinreichend motiviert, von der psychotherapeutischen Arbeit profitieren zu können. Sollte sich dies bewahrheiten, werde eine vorzeitige Haftentlassung weiterhin für realistisch erachtet. Aufgrund der Vorkommnisse wurde der Beschwerdeführer auf Weisung des Präsidenten des Landesjustizvollzugsamts am 24. März 2006 in den geschlossenen Vollzug verlegt. Der Beschwerdeführer beantragte seine Rückverlegung in den offenen Vollzug. Dies lehnte der Leiter der Justizvollzugsanstalt am 24. Juli 2006 ab. Zuvor war eine Stellungnahme der Anstaltspsychologin vom 7. Juli 2006 eingeholt worden. Nachdem der Beschwerdeführer im Juli 2006 selbst auf eine bedingte Entlassung verzichtet hatte, stellte das Landgericht Bonn das Verfahren auf Aussetzung der Restfreiheitsstrafe ein.
Am 1. Oktober 2006 hatte der Beschwerdeführer die zwanzigjährige Mindestvollstreckungsdauer verbüßt. Mit Beschluss vom 31. Mai 2007 lehnte das Landgericht Wuppertal die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ab. Dem Beschwerdeführer könne gegenwärtig keine günstige Sozialprognose gestellt werden. Unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit könne nicht verantwortet werden zu erproben, ob er außerhalb des Strafvollzugs keine schwerwiegenden Straftaten mehr begehen werde. Eine Aussetzung gemäß § 57a StGB, das heißt, wenn sich der Täter schwerster Taten gegen das Leben schuldig gemacht habe, komme nicht in Betracht, wenn auch nur entfernt damit gerechnet werden könne, dass er ein neues schweres Verbrechen begehen werde. Zweifel gingen zu Lasten des Verurteilten. Die Kammer schließe sich den Zweifeln des Leiters der Justizvollzugsanstalt in einer Stellungnahme vom 10. April 2007 an. Danach sei ein konkretes, nicht hinreichend sicher ausschließbares Risiko gegeben, dass der Beschwerdeführer erneut schwere, gegen das Leben gerichtete Straftaten begehen könnte, indem er eine konfliktreiche, intime Beziehung zu einer Frau ähnlich destruktiv wie im Tatgeschehen auflöse. Diese Befürchtung gründe auf den fingierten Drohbriefen und dem nachträglichen Erklärungsverhalten des Beschwerdeführers. Er habe auf diese Weise in die Beziehung eine aggressive Komponente hineingebracht, wie sie auch bei seinen Straftaten eine Rolle gespielt habe. Der Beschwerdeführer habe in seiner Anhörung die Zweifel an einer günstigen Prognose nicht ausräumen können. Er habe sein Verhalten als „Riesendummheit” abgetan, ohne eine plausible Begründung dafür zu liefern. Sein Verhalten offenbare fortbestehende Schwierigkeiten, Beziehungen zu Frauen regulär zu beenden. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens habe es vor diesem Hintergrund nicht bedurft.
Der Beschwerdeführer legte sofortige Beschwerde ein. Die Kammer beanstande das Fehlen einer plausiblen Erklärung für den Vorfall, habe sich aber nur unzureichend um eine Aufklärung bemüht. Sie habe sich infolge des Amtsermittlungsgrundsatzes eine fehlende Tatsachenbasis zu verschaffen. Da er Erklärungen für sein Verhalten selbst nicht habe geben können, hätte ein Sachverständiger hinzugezogen werden müssen. Er habe ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten vom 13. Dezember 2006 vorgelegt, das konkrete Anhaltspunkte enthalte, wie der motivatorische Hintergrund des fraglichen Geschehens zu deuten sei. Die Kammer habe sich hiermit nicht auseinandergesetzt. Er habe im offenen Vollzug eine Therapie begonnen, die durch die Verlegung in den geschlossenen Vollzug jäh beendet worden sei. Seither seien ihm keine Therapiemöglichkeiten eingeräumt worden. Die „aggressive Komponente” sei unzureichend erläutert worden.
Das Oberlandesgericht Hamm verwarf die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 8. Oktober 2007. Das vom Beschwerdeführer vorgelegte Gutachten führe zu keiner anderen Bewertung. Es basiere allein auf einer sechsstündigen psychiatrischen Untersuchung, den Angaben des Beschwerdeführers und dem 1996 erstellten Sachverständigengutachten. Die Vollzugsakten hätten dem Gutachter nicht vorgelegen. Zudem befasse sich das Gutachten nicht mit der für die Prognoseentscheidung relevanten Frage, wie sich der Beschwerdeführer – der den Mord an seiner ersten Frau offensichtlich immer noch leugne – mit seinen Taten auseinandergesetzt habe. Auch fehle eine kritische Auseinandersetzung mit dem nicht nachvollziehbaren Verhalten des Beschwerdeführers in Zusammenhang mit der Lösung von partnerschaftlichen Konflikten. Der Beschwerdeführer habe dem Gutachter das Geschehen offensichtlich anders geschildert als die betreffende Frau gegenüber der Vollzugsbehörde. Das Gutachten hätte die Angaben des Beschwerdeführers nicht unkritisch übernehmen dürfen. Das Fehlverhalten des Beschwerdeführers wiege bereits schwer. Sein anschließendes leugnendes und taktierendes Verhalten zur Verschleierung seiner Urheberschaft der anonymen Drohbriefe setze das Verhalten zusätzlich ins Zwielicht. Der Beschwerdeführer stelle ersichtlich keine Gefahr für eine anonyme – ihm nicht näher bekannte – Allgemeinheit dar. Seine Gefährlichkeit äußere sich vielmehr in seinem unkontrollierten und bedrohlichen Verhalten in Zusammenhang mit der Lösung partnerschaftlicher Konflikte. Gerade hier habe er sich erneut in bedenklichem Maße als unzuverlässig erwiesen.
Entscheidungsgründe
II.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, dass ihm Vollzugslockerungen und eine anstaltsinterne fachpsychologische Hilfestellung zu Unrecht verweigert würden. Daher könnten die angegriffenen Beschlüsse nicht mit Zweifeln an einer günstigen Sozialprognose begründet werden. Die Beschlüsse seien pauschal und generalisierend. Ohne genaue Analyse und konkrete Darlegung von relevanten Gefährdungssachverhalten werde eine „aggressive Komponente” in seinem Verhalten behauptet. In einer isolierten Betrachtungsweise sei die Qualität des von ihm vorgelegten Gutachtens angegriffen worden. Auch das Oberlandesgericht habe festgestellt, dass er für die (anonyme) Allgemeinheit nicht gefährlich sei. Bestehe keine generelle Gefährlichkeit, sei nicht nachvollziehbar, weshalb er nach über 20 Jahren weiterhin inhaftiert bleiben solle.
2. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hatte Gelegenheit zur Äußerung; es hat keine Stellungnahme abgegeben. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Strafverfahrensakten und das Vollstreckungsheft vorgelegen.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
1. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.
a) Der Strafrest einer lebenslangen Freiheitsstrafe wird frühestens zur Bewährung ausgesetzt, wenn fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB). § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB bestimmt, dass eine Aussetzung des Strafrestes einer lebenslangen Freiheitsstrafe nur möglich ist, wenn nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet. Damit sollte nach dem Willen des Gesetzgebers ein konkreter Zeitpunkt für eine mögliche Aussetzung des Strafrestes unter Berücksichtigung des Unrechts- und Schuldgehalts der zugrunde liegenden Taten festgelegt werden. Allerdings hat der Gesetzgeber an der lebenslangen Freiheitsstrafe als solcher festgehalten und wollte es auch für den Fall einer guten Kriminalprognose nicht zu einer Art „Entlassungsautomatik” kommen lassen. Die bedingte Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe setzt nach Verbüßung der durch die besondere Schuldschwere bedingten Zeit voraus, dass diese unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, und der Verurteilte einwilligt (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB i.V.m. § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 StGB). Bei der Entscheidung sind die in § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB angeführten Umstände zu berücksichtigen (§ 57a Abs. 1 Satz 2 StGB). Die hierdurch von Gesetzes wegen eröffnete Möglichkeit der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe über den durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus aus Gründen der Gefährlichkeit des Straftäters verletzt weder die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) noch das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪88 ff.≫).
b) Ob im jeweiligen Einzelfall die weitere Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach §§ 57a, 57b StGB zur Bewährung über den durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus ausgesetzt werden kann, ist zunächst eine Frage der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. Das Bundesverfassungsgericht prüft gerichtliche Entscheidungen nur in einem eingeschränkten Umfang nach. Ihm obliegt keine umfassende Kontrolle daraufhin, ob Gerichtsentscheidungen das jeweilige Fachrecht „richtig” im Sinne einer größtmöglichen Gewähr der Gerechtigkeit anwenden. Es greift vielmehr nur ein, wenn die Gerichte übersehen, dass ihre Entscheidung Grundrechte berührt, oder wenn sie die Bedeutung und Tragweite von Grundrechten nicht hinreichend berücksichtigen oder wenn sie sonst aus sachfremden und damit objektiv willkürlichen Gründen entscheiden (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f., 96≫).
c) Vorliegend haben die Fachgerichte das aus der besonderen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts gemäß Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG folgende Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung verletzt.
aa) In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Entscheidungen darüber, ob im Einzelfall die weitere Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach §§ 57a, 57b StGB zur Bewährung über den durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus ausgesetzt werden kann, geklärt.
(1) Unter dem Gesichtspunkt des Art. 1 Abs. 1 GG und des Rechtsstaatsprinzips gehört zu den Voraussetzungen einer menschenwürdigen Strafvollstreckung, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden. Fallgestaltungen, die es strikt verwehrten, dem innerlich gewandelten, für die Allgemeinheit ungefährlich gewordenen Gefangenen die Wiedergewinnung der Freiheit zu gewähren, sind dem Strafvollzug unter der Herrschaft des Grundgesetzes grundsätzlich fremd (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪95≫ m.w.N.).
(2) In materieller Hinsicht wird mit Blick auf das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG diese Chance auf Wiedererlangung der Freiheit durch eine strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sichergestellt. Je länger der Freiheitsentzug andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges. Der nachhaltige Einfluss des gewichtiger werdenden Freiheitsanspruchs stößt jedoch dort an Grenzen, wo es im Blick auf die Art der von dem Betroffenen drohenden Gefahren, deren Bedeutung und Wahrscheinlichkeit vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Betroffenen in die Freiheit zu entlassen (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪97 ff.≫ m.w.N.).
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung sind die von dem Betroffenen ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen. Auf der einen Seite hat der grundsätzliche Freiheitsanspruch des Verurteilten wegen der regelmäßig zurück gelegten langen Haftzeit großes Gewicht. Dies schließt es mit ein, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird. Die Vertretbarkeit des Restrisikos ist dabei nicht allein von den im Falle eines Rückfalls bedrohten Rechtsgütern abhängig, sondern auch vom Grad der Wahrscheinlichkeit erneuter Straffälligkeit. Daher steht auch bei schweren Gewalt- oder Sexualdelikten die bloße theoretische Möglichkeit eines Rückfalls, die angesichts der Begrenztheit jeder Prognosemöglichkeit nie sicher auszuschließen ist, der Aussetzung nicht von vornherein entgegen. Vielmehr ist die Ablehnungsentscheidung durch konkrete Tatsachen zu belegen, die das Risiko als unvertretbar erscheinen lassen (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪98 f.≫).
Auf der anderen Seite verlangt die im Rahmen der Aussetzungsentscheidung zu treffende Prognose die Verantwortbarkeit der Aussetzung mit Rücksicht auf unter Umständen zu erwartende Rückfalltaten. Je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind, desto geringer muss das Rückfallrisiko sein. Bei Straftaten, die wie der Mord (§ 211 StGB) mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, kommt dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit naturgemäß eine besonders hohe Bedeutung für die Frage zu, ob es verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird. Daher kommt hier wegen der Art der im Versagensfall zu befürchtenden Taten eine bedingte Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe nur unter strengen Voraussetzungen in Betracht. Bestehen irgendwelche konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Verurteilte ein neues schweres Verbrechen begehen werde, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Strafvollstreckungsgerichte von einer Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe absehen (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪99≫ m.w.N.).
Wenn eine fortbestehende Gefährlichkeit des Verurteilten positiv festgestellt werden kann, ist der weitere Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe erforderlich, um die Allgemeinheit zu schützen. Die besonders hohe Wertschätzung des Lebens rechtfertigt darüber hinaus auch dann die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe, wenn nach Erfüllung des verfassungsrechtlichen Gebots einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung keine günstige Gefährlichkeitsprognose gestellt werden kann. Es ist verfassungsrechtlich auch im Hinblick auf den Umstand, dass die verhängte lebenslange Freiheitsstrafe als die schuldangemessene Strafe ausgesprochen worden ist, nicht zu beanstanden, wenn die in diesen Fällen verbleibenden Zweifel an einer hinreichend günstigen Prognose zu Lasten des Verurteilten gehen (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪100 f.≫ m.w.N.).
(3) Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben sich darüber hinaus besondere verfahrensrechtliche Anforderungen an einen lang andauernden Freiheitsentzug, die der hohen Bedeutung des Freiheitsrechts Rechnung tragen müssen.
Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben. Im Rahmen des unbefristet wirkenden Freiheitsentzugs gebietet das Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung, einen erfahrenen Sachverständigen zu Rate zu ziehen, der die richterliche Prognose durch ein hinreichend substantiiertes und zeitnahes Gutachten vorbereitet. Die Entscheidung über die Fortdauer der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe hat sich daher im Regelfall auch über den eigentlichen Anwendungsbereich des § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO hinaus auf ein Sachverständigengutachten zu stützen, das der besonderen Tragweite dieser Entscheidung gerecht wird. Dabei ist darauf Bedacht zu nehmen, dass das ärztliche Gutachten anerkannten wissenschaftlichen Standards genügt. Der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen muss der Richter durch eine sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪105 f.≫).
Die Strafvollstreckungskammer darf für den Fall, dass sie eine bedingte Entlassung in Erwägung zieht, zum Schutz der Allgemeinheit bei ihrer Entscheidung nicht allein auf Beurteilungen der Justizvollzugsanstalt vertrauen, sondern hat gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO zusätzlich das Gutachten eines Sachverständigen namentlich darüber einzuholen, „ob keine Gefahr mehr besteht, dass die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten fortbesteht” (Gefährlichkeitsprognose) (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪106≫).
In den Fällen, in denen die lebenslange Freiheitsstrafe einen längeren Zeitraum über den Zeitpunkt der gebotenen Vollstreckung wegen der besonderen Schwere der Schuld hinaus vollstreckt wird, darf das Gericht andererseits zum Schutz des Inhaftierten ein neues Gutachten nicht allein mit der Begründung verweigern, dass es eine Strafrestaussetzung nicht beabsichtige. Vielmehr muss der Entscheidung auch in diesen Fällen ein zeitnahes wissenschaftlich fundiertes Gutachten der Prognoseentscheidung zugrunde gelegt werden (vgl. BVerfGE 117, 71 ≪107≫).
bb) Dem verfahrensrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachaufklärung tragen die angegriffenen Entscheidungen nicht hinreichend Rechnung.
Die angegriffenen Beschlüsse betreffen die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe nach dem am 1. Oktober 2006 erfolgten Ablauf der aus Gründen der besonderen Schwere der Schuld gebotenen Mindestvollstreckungsdauer. Sie wurden nicht auf Sachverständigengutachten gestützt, sondern allein auf eine Stellungnahme des Leiters der Justizvollzugsanstalt vom 10. April 2007 und die Anhörung des Beschwerdeführers.
Ein Gutachten aus dem Jahre 1996 kam zu dem Ergebnis, dass die Taten im Kontext lebensphasischer Ereignisse geschehen seien, deren Wiederholung in dieser Zuspitzung nicht zu erwarten sei. Weitere Gutachten wurden in der Folgezeit nicht eingeholt. Die Entscheidung des Landgerichts Bonn vom 9. Januar 2001 beruhte nicht auf einem Prognosegutachten. In dem Verfahren über eine Reststrafenaussetzung aus dem Jahre 2005 gab lediglich der Leiter der Justizvollzugsanstalt Stellungnahmen ab. Die Stellungnahme vom 14. November 2005 war überaus positiv. In der Stellungnahme vom 5. Januar 2006 wurde diese Einschätzung zwar relativiert, eine vorzeitige Haftentlassung mit Ablauf der Mindestverbüßungszeit aber immer noch für realistisch gehalten. Die Versagung der Rückverlegung in den offenen Vollzug im Jahre 2006 beruhte auf einer Stellungnahme des psychologischen Fachdezernenten des Landesjustizvollzugsamtes und Stellungnahmen der Anstaltspsychologin.
In Anbetracht der Länge des Freiheitsentzugs und der lange Zeit zurück liegenden Anlasstaten (1977 und 1986) hätte der Prognoseentscheidung in den angegriffenen Entscheidungen ein wissenschaftlich fundiertes, anstaltsfremdes Gutachten zugrunde gelegt werden müssen.
Anlass hierfür gab insbesondere das vom Beschwerdeführer vorgelegte, ausführliche Privatgutachten vom 13. Dezember 2006, in welchem es auszugsweise heißt:
„Völlig unzutreffend ist die weitere Schlussfolgerung, dass in seinem Verhalten ‚ein nicht hinnehmbares Risiko zu sehen ist, erneut eine Beziehung gewalttätig zu beenden’. Für eine derartige Schlussfolgerung sehe ich nach den Ergebnissen eigener Untersuchungen, die sich darüber hinaus auf die erhobenen neuropsychologischen Befunde am 21.11.2006 stützen, nicht den geringsten Ansatz. Hier wird ein Konstrukt aufgebaut, das zu sehr weitreichenden Konsequenzen führt, was umso fragwürdiger erscheint, als keinerlei durch Dritte überprüfbare Befunde und Untersuchungsergebnisse mitgeteilt werden, auf die die – eigentlich zu weit reichenden – Schlussfolgerungen, die in dieser Form hypothetisch bleiben, Bezug nehmen. … Weder die medizinisch-psychiatrischen Untersuchungsergebnisse noch die innerhalb der neuropsychologischen Diagnostik erhobenen Befunde lassen bei Herrn K. weder manipulative Bestrebungen, Simulations- / Aggravationstendenzen erkennen noch ein anderes gefährdendes Gewaltpotential ausmachen.”
Das Gutachten baut auf einem fachpsychologischen Gutachten vom 10. Dezember 2006 auf, das auf verschiedenen Testuntersuchungen des Beschwerdeführers beruht. Nach diesem Gutachten findet sich der Skalenwert für spontane Aggressionen im unauffälligen Durchschnittsbereich. Nur der Skalenwert für den Bereich Selbstaggression/Depression sei geringwertig erhöht. Alle übrigen aggressionsspezifischen Skalen seien sämtlich extrem niedrig ausgeprägt. Wichtig für die Abschätzung eines latenten Aggressionspotentials bei dem Probanden sei der Wert der Kontrollskala Offenheit, der im völlig unauffälligen Bereich liege.
Von diesen Feststellungen sind die Fachgerichte ohne Einholung eines ergänzenden Sachverständigengutachtens abgewichen und zum gegenteiligen Ergebnis gekommen. Zwar hat das Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 31. Mai 2007 ausgeführt, dass es das Gutachten vom 13. Dezember 2006 für unzureichend halte, weil dem Sachverständigen die Vollzugsakten nicht vorgelegen hätten und sich das Gutachten nicht mit der Frage befasse, wie sich der Beschwerdeführer mit seinen Taten auseinandergesetzt habe. Auch habe der Gutachter offenbar die Darstellungen des Beschwerdeführers unkritisch übernommen. Auf die von diesen Einwänden unabhängigen, im Gutachten vom 10. Dezember 2006 beschriebenen Testergebnisse ist das Oberlandesgericht hingegen nicht eingegangen. Jedenfalls in Anbetracht der Testergebnisse hätte es den Gutachter zumindest zum Inhalt der vom Gericht für wesentlich erachteten Vollzugsakten ergänzend anhören oder selbst ein Prognosegutachten einholen müssen, bevor es gegenteilige prognostische Schlussfolgerungen zog.
2. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG, die Entscheidung über die Auslagenerstattung auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Voßkuhle, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen