Verfahrensgang
OLG München (Beschluss vom 04.07.2007; Aktenzeichen 1 Ws 549-551/07) |
LG Deggendorf (Beschluss vom 11.04.2007; Aktenzeichen StVK 86/01) |
Tenor
Dem Beschwerdeführer wird wegen der Versäumung der Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München vom 4. Juli 2007 – 1 Ws 549-551/07 – und des Landgerichts Deggendorf vom 11. April 2007 – StVK 86/01 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Deggendorf zur erneuten Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung in dem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen gerichtliche Entscheidungen, die die Fortdauer einer 1997 angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet haben.
I.
Hinsichtlich des Sachverhalts wird verwiesen auf den Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2380/06 –, der das vorangegangene Verfahren der Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus betraf.
1. Durch den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss des Landgerichts Deggendorf vom 11. April 2007 wurde die weitere Vollstreckung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht zur Bewährung ausgesetzt. Nach der Stellungnahme des behandelnden Arztes bestehe bei dem Beschwerdeführer unverändert eine schizoide Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und querulatorischen Zügen. Auch sonst seien sein Verhalten und sein Zustand seit Jahren unverändert. Lockerungen könnten dem Beschwerdeführer nicht gewährt werden. Es sei nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Beschwerdeführer außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Da der Beschwerdeführer jegliche Vorbereitungsmaßnahmen für Lockerungen, die einer Entlassung vorausgehen müssten, unterbinde, könnten ihm Verhältnismäßigkeitserwägungen nicht zugute kommen.
2. Die gegen den Beschluss des Landgerichts vom 11. April 2007 gerichtete sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht München mit dem durch die Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 4. Juli 2007. Das Landgericht habe seine Aufklärungspflichten nicht verletzt, da es der Beschwerdeführer an der notwendigen Mitwirkung, beispielsweise bei der Erstellung von Gutachten, fehlen lasse. Die Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses habe eine ausreichende Tatsachengrundlage für die Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung verschafft. Das Landgericht habe sich mit dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers und dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit auseinandergesetzt. Angesichts der gesundheitlichen Situation, der Anlasstaten und der Zukunftsprognosen liege auch kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor.
II.
Der Beschwerdeführer macht mit der Verfassungsbeschwerde die Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Absatz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 sowie Art. 3 Abs. 1 GG geltend. Die Strafvollstreckungsgerichte hätten ihrer Aufklärungspflicht nicht genügt. Sie hätten sich nicht mit den Änderungen der Lebenssituation des Beschwerdeführers, insbesondere der Beendigung der Erbstreitigkeit mit der Schwester, und deren Auswirkungen auf die Gefährlichkeitsprognose auseinandergesetzt. Die Stellungnahmen der Bezirksklinik seien unkritisch übernommen worden. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem für den Beschwerdeführer günstigen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. F… sei nicht erfolgt. Die angegriffenen Beschlüsse seien willkürlich, weil die Fortdauer der Unterbringung mit sachfremden Erwägungen begründet worden sei. Schließlich sei die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers unverhältnismäßig: Der Beschwerdeführer befinde sich seit zehn Jahren im Maßregelvollzug und sei in dieser Zeit – auch nicht im Verlauf von zwei Entweichungen in den Jahren 1998 und 2001 – durch aggressives Verhalten aufgefallen.
III.
1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hatte Gelegenheit zur Äußerung. Es hat von einer Stellungnahme abgesehen.
2. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten 106 Js 14879/95 samt Unterbringungsheft der Staatsanwaltschaft Passau vorgelegen.
IV.
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Wegen der Versäumung der Beschwerdefrist wird dem Beschwerdeführer antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, da er ohne eigenes Verschulden verhindert war, diese Frist einzuhalten.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.
a) Aus Art. 2 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 GG ergibt sich, dass die Freiheit der Person nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden darf. Im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verlangt das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden Rechtsgutsverletzungen nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauert, umso strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges sein (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪315≫).
Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG ergeben sich Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪308≫). Dabei muss nicht bei jeder Überprüfung der Unterbringung von Verfassungs wegen ein Sachverständigengutachten eingeholt werden. Soweit keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften bestehen, hängt es von dem sich nach den Umständen des einzelnen Falles bestimmenden pflichtgemäßen Ermessen des Richters ab, in welcher Weise er die Aussetzungsreife prüft (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪309 f.≫). In der Regel besteht jedoch die Pflicht, einen erfahrenen Sachverständigen zuzuziehen, wenn es um eine Prognoseentscheidung geht, bei der geistige und seelische Anomalien in Frage stehen (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪309≫); dies gilt insbesondere dort, wo die Gefährlichkeit eines in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten zu beurteilen ist (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. April 1995 – 2 BvR 1087/94 – NJW 1995, S. 3048 ≪3049≫). Der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen muss der Richter durch eine sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken. So wird es von Zeit zu Zeit geraten sein, einen anstaltsfremden Sachverständigen mit der Begutachtung zu beauftragen, um auszuschließen, dass anstaltsinterne Belange oder die Beziehung zwischen Therapeuten und Untergebrachtem das Gutachten beeinflussen (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪310 f.≫; 109, 133 ≪164≫).
Neben der Schaffung einer ausreichenden Tatsachengrundlage haben die Gerichte darzulegen, aufgrund welcher Tatsachen die Gefahr von Straftaten mit welcher Wahrscheinlichkeit besteht und aus welchen Gründen einer möglichen Gefahr von Straftaten nicht durch Hilfen außerhalb des Maßregelvollzugs in ausreichendem Maße begegnet werden kann (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪311 ff.≫).
b) Diesen Maßstäben halten die angegriffenen Beschlüsse nicht stand. Um der verfassungsrechtlich gebotenen bestmöglichen Sachaufklärung nachzukommen, hätten die Vollstreckungsgerichte sich ernsthaft darum bemühen müssen, zur Vorbereitung der angegriffenen Entscheidungen ein Sachverständigengutachten eines anstaltsfremden Sachverständigen einzuholen. Der Beschwerdeführer war annähernd zehn Jahre in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht, ohne dass innerhalb dieses Zeitraums wenigstens ein externes psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt wurde, das eine ausreichende Grundlage für die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung bildete. Das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. F… aus dem Jahr 2001 stellte aus den im Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2380/06 – dargelegten Gründen kein solches Gutachten dar.
Bemühungen zur Einholung eines externen Sachverständigengutachtens durften nicht bereits deshalb unterlassen werden, weil der Beschwerdeführer im Jahr 2002 nicht zu einer Exploration durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen bereit gewesen war. Auch dies wurde im genannten Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 ausführlich begründet.
3. Auf die weiteren vom Beschwerdeführer geltend gemachten Grundrechtsverletzungen kommt es nicht mehr an, weil jedenfalls eine Verletzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zum Erfolg der Verfassungsbeschwerde führt.
V.
Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG durch Landgericht und Oberlandesgericht festzustellen. Die angegriffenen Beschlüsse sind unter Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aufzuheben (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Bei der Vorbereitung der neuen Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung wird auch der seit 20. Juli 2007 geltende § 463 Abs. 4 StPO zu beachten sein. Danach soll das Gericht im Rahmen der Überprüfungen nach § 67e StGB nach jeweils fünf Jahren vollzogener Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus das Gutachten eines Sachverständigen einholen (§ 463 Abs. 4 Satz 1 StPO). Der Sachverständige darf weder im Rahmen des Vollzugs der Unterbringung mit der Behandlung der untergebrachten Person befasst gewesen sein noch in dem psychiatrischen Krankenhaus arbeiten, in dem sich die untergebrachte Person befindet (§ 463 Abs. 4 Satz 2 StPO). Dabei wird es sich im vorliegenden Fall empfehlen, nicht einen vom Beschwerdeführer bereits abgelehnten Gutachter als Sachverständigen zu beauftragen. Sollte es der Beschwerdeführer ohne berechtigten Grund erneut ablehnen, sich der Exploration durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen zu unterziehen, so wird zu prüfen sein, inwieweit ein Gutachten auf der Grundlage des Akteninhalts eine Verbreiterung der Beurteilungsgrundlage ermöglichen kann. Im Hinblick darauf, dass dem Erbrechtsstreit zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Schwester in den ärztlichen Stellungnahmen der letzten Jahre unterschiedliche Bedeutung für die Legalprognose beigemessen wurde, wird auch der aktuelle Stand des Erbrechtsstreites und seine Relevanz im Zusammenhang mit der Legalprognose geklärt werden müssen.
VI.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Broß, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen