Verfahrensgang
OLG Celle (Beschluss vom 25.05.2010; Aktenzeichen 2 Ws 170/10) |
LG Lüneburg (Beschluss vom 19.03.2010; Aktenzeichen 17b StVK 49/09) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 25. Mai 2010 – 2 Ws 169/10 und 2 Ws 170/10 – und der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle vom 19. März 2010 – 17b StVK 49/09 – verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes und Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Lüneburg zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen haben dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen je zur Hälfte zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus in einem sogenannten „Altfall” im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB.
I.
1. a) Der 1951 geborene Beschwerdeführer wurde seit 1971 wiederholt zu Freiheitsstrafen verurteilt. Unter anderem wurde er 1978 wegen fortgesetzten schweren Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und 1985 wegen schweren Raubes in Tateinheit mit versuchter sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung sowie wegen schweren Raubes in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren – Einzelstrafen jeweils acht Jahre – verurteilt. Durch Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 23. April 1987 wurde der Beschwerdeführer wegen schweren Raubes und wegen versuchten schweren Raubes unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Jahres 1985 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Zugleich ordnete das Landgericht die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an.
b) Die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung wurde seit dem 2. Februar 2000 vollzogen. Am 1. Februar 2010 war der Beschwerdeführer seit zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung untergebracht.
c) Mit Beschluss vom 19. März 2010 lehnte die Strafvollstreckungskammer es ab, die Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären. Zuletzt habe es die Kammer mit Beschluss vom 11. Juni 2008 abgelehnt, die Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung auszusetzen, weil die bei der Verurteilung festgestellte Gefährlichkeit wegen der ablehnenden Haltung des Beschwerdeführers und der nicht aufgearbeiteten Persönlichkeitsstörung unverändert fortbestehe. Ausweislich der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 30. November 2009 interessiere sich der Beschwerdeführer weiterhin nicht für die ihm empfohlenen Behandlungsmaßnahmen zur Vorbereitung auf eine Sozialtherapie. Er habe seit dem Jahr 2002 die Teilnahme an einer stationären sozialtherapeutischen Behandlung sowie an den in der Justizvollzugsanstalt angebotenen gruppentherapeutischen und sozialpädagogischen Maßnahmen abgelehnt. Der Sachverständige habe in seinem Gutachten vom 13. Januar 2010 ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seiner Auffassung nach zu den Tätern gehöre, bei denen eine ungünstige Kriminalprognose und eine persönlichkeitsgebundene Bereitschaft zur Begehung von Straftaten zusammenträfen. Eine Relativierung dieser ungünstigen und gefährlichen Disposition sei bisher nicht erfolgt. Therapeutische Versuche seien nicht gelungen und Angebote im Vollzug bis jetzt nicht wahrgenommen worden. Dieser Auffassung schließe sich die Kammer nach eigener kritischer Würdigung an. Sie sei der Überzeugung, dass auch heute noch der Beschwerdeführer aufgrund seiner tief eingeschliffenen Persönlichkeitsstruktur den Hang habe, Straftaten zu begehen, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt würden. Solange eine therapeutische Aufarbeitung der straftatursächlichen Persönlichkeitsdefizite nicht erfolgt sei, dem Beschwerdeführer nicht das volle Ausmaß seiner Straftaten und deren Auswirkungen bewusst seien und sich nicht hieraus eine deutliche Verhaltensänderung entwickele, die dann auch noch in Vollzugslockerungen erprobt werden müsse, bestehe immer noch eine hohe Rückfallgefahr bezüglich schwerwiegender Gewaltdelikte mit sexuellen Übergriffen.
d) Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Celle mit Beschluss vom 25. Mai 2010. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (NJW 2010, S. 2495 ff.) müsse zwar nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Görgülü-Beschluss (BVerfGE 111, 307 ff.) berücksichtigt werden, dies aber nur im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Eine Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB dahingehend, dass Art. 7 Abs. 1 EMRK als andere gesetzliche Bestimmung in diesem Sinne anzusehen sei, sei jedoch mit Blick auf die Gesetzesmaterialien zum Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 methodisch nicht mehr vertretbar. Aus demselben Grund, also wegen des eindeutigen Willen des Gesetzgebers, scheide eine verfassungskonforme Auslegung des § 67d Abs. 3 StGB aus. Gegen eine schematische Übertragung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte spreche schließlich, dass es sich bei den Sicherungsverwahrungsfällen um mehrpolige Grundrechtsverhältnisse handele, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht berücksichtigt habe. Diese Erwägungen ließen sich sinngemäß auch auf Art. 5 Abs. 1 EMRK übertragen. Im Übrigen sei der Senat davon überzeugt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im konkreten Einzelfall wegen der Therapieverweigerung des Beschwerdeführers im vorliegenden Fall zu einem anderen Ergebnis gelangen würde.
e) Bereits mit Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 29. Juli 2009 war der Beschwerdeführer wegen zweier im Jahr 1981 begangener Morde zu lebenslanger Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden. Zugleich hatte das Landgericht erneut die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Mit Beschluss vom 6. Juli 2010 (NStZ-RR 2011, S. 41) verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts gemäß § 349 Abs. 2 StPO mit der Maßgabe als unbegründet, dass die erneute Anordnung der Sicherungsverwahrung entfalle. Seit dem 3. August 2010 befindet sich der Beschwerdeführer zur Vollstreckung der lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe wieder in Strafhaft.
2. Mit seiner gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 2 GG.
Entscheidungsgründe
II.
Das Justizministerium des Landes Niedersachsen und das Bundesministerium der Justiz hatten Gelegenheit zur Äußerung. Dem Bundesverfassungsgericht hat das Vollstreckungsheft der Staatsanwaltschaft Braunschweig vorgelegen.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Nach den Maßstäben, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärt sind (vgl. BVerfGE 128, 326 ff.), ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet (§ 93b, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Der den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) ist, wie der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ff.) festgestellt hat, mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG und, soweit er in Verbindung mit § 2 Abs. 6 des Strafgesetzbuchs zur Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus auch bei Verurteilten ermächtigt, deren Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 begangen wurden, darüber hinaus mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar.
Aufgrund der Anordnung des Bundesverfassungsgerichts unter Nummer III.2. Buchstabe a des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 ist die Vorschrift längstens bis zum 31. Mai 2013 mit der Maßgabe weiter anwendbar, dass die Fortdauer der Sicherungsverwahrung nur noch angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG) – Art. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) – leidet. Zudem haben die zuständigen Vollstreckungsgerichte unverzüglich zu überprüfen, ob die Voraussetzungen der Fortdauer einer Sicherungsverwahrung gegeben sind. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, ordnen sie die Freilassung der betroffenen Sicherungsverwahrten spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 an (vgl. Nummer III.2. Buchstabe b des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011). Die Überprüfungsfrist für die Erledigung der Sicherungsverwahrung beträgt überdies in der Konstellation des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB im Rahmen der Weitergeltung der Vorschrift abweichend von § 67e Abs. 2 des Strafgesetzbuchs ein Jahr (vgl. Nummer III.2. Buchstabe c des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011).
2. Dies zugrunde gelegt verletzen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der verfassungswidrigen Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160). Die Entscheidung der Fachgerichte, die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus anzuordnen, genügt jedoch den Anforderungen nicht, die sich für eine verfassungsgemäße Entscheidung auf der Grundlage der weiter geltenden Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB aus den Maßgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ergeben. Die Gerichte haben nicht geprüft, ob hiernach noch die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zulässig ist. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Fachgerichte im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entscheidung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 nicht berücksichtigen konnten, weil diese Entscheidung noch nicht ergangen war (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 8. Juni 2011 – 2 BvR 2846/09 –, EuGRZ 2011, S. 413 ≪415 f.≫). Für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung kommt es allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Urteile im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (BVerfGE 128, 326 ≪408≫).
3. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Sie sind daher aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Lüneburg zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG).
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Lübbe-Wolff, Huber, Kessal-Wulf
Fundstellen