Verfahrensgang
OLG Köln (Beschluss vom 30.07.2010; Aktenzeichen 2 Ws 459/10) |
LG Aachen (Beschluss vom 01.06.2010; Aktenzeichen 33 StVK 415/10 K) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 30. Juli 2010 – 2 Ws 459/10 – und der Beschluss des Landgerichts Aachen vom 1. Juni 2010 – 33 StVK 415/10 K – verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes und Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Nordrhein-Westfalen haben dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen jeweils zur Hälfte zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus in einem sogenannten „Altfall” im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB.
I.
1. a) Der 1960 geborene Beschwerdeführer wurde seit 1982 wiederholt zu Freiheitsstrafen verurteilt. Unter anderem wurde er 1982 wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und neun Monaten und 1984 wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Zuletzt wurde er durch Urteil des Landgerichts Duisburg vom 22. Juli 1991 wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit gemeinschaftlicher Nötigung, sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und gemeinschaftlicher Nötigung sowie versuchter sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Zugleich ordnete das Landgericht die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an.
b) Die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung wird seit dem 4. Januar 1997 vollzogen. Am 3. Januar 2007 war er seit zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung untergebracht. In einem Beschluss vom 16. Oktober 2008 lehnte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Aachen es ab, die Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären, weil weiterhin die Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden.
c) Mit Schriftsatz vom 26. Mai 2010 beantragte der Beschwerdeführer, „ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen”. Mit Beschluss vom 1. Juni 2010 lehnte die Strafvollstreckungskammer diesen Antrag ebenso wie eine Erledigterklärung der Sicherungsverwahrung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass nach der seinerzeit geltenden Rechtslage die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht auf zehn Jahre befristet sei. Der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (NJW 2010, S. 2495 ff.) komme keine unmittelbare innerstaatliche Wirkung zu. Für deutsche Gerichte gelte die verbindliche Feststellung im Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2004 (BVerfGE 109, 133 ff.), dass der Wegfall der Höchstfrist für eine erstmalig angeordnete Sicherungsverwahrung mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Im Überprüfungsbeschluss vom 16. Oktober 2008 sei ausgeführt worden, dass die Gefahr bestehe, der Beschwerdeführer werde infolge seines Hanges ohne die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung erhebliche Straftaten begehen, welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer schädigen würden. In der für das laufende Überprüfungsverfahren eingeholten Stellungnahme der Leiterin der Justizvollzugsanstalt werde das beanstandungsfreie Verhalten des Beschwerdeführers im geschlossenen Vollzug in einer offenen Abteilung des Hafthauses beschrieben. Auch die Anstaltspsychologin habe sich positiv geäußert und festgestellt, dass sich die Entwicklung zu einem stabileren Haftverhalten weiter fortgesetzt habe. Sie habe jedoch zugleich eine gutachterliche Überprüfung angeregt, welchen strukturellen und handlungsorientierten Rahmen der Beschwerdeführer benötige, damit bestehenden Restrisiken entgegengewirkt und eine Entlassung aus der Sicherungsverwahrung ermöglicht werde. Die Kammer sei im Anschluss hieran der Auffassung, dass eine sofortige Entlassung aus der Sicherungsverwahrung ohne eine solche hinreichende gutachterliche Klärung und eine genügende Vorbereitung des Beschwerdeführers aus den letztlich noch fortdauernden Gründen des Beschlusses im letzten Überprüfungsverfahren nicht zu verantworten sei.
d) Mit Schriftsatz vom 15. Juni 2010 erhob der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde, die das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 30. Juli 2010 verwarf. Der Senat teile die Auffassung der Strafvollstreckungskammer, dass die vor Inkrafttreten des § 67d Abs. 3 StGB verhängte, über einen Zeitraum von zehn Jahren vollstreckte Sicherungsverwahrung aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte weder für erledigt zu erklären noch der Beschwerdeführer aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen sei, weil die Umsetzung dieses Urteils dem deutschen Gesetzgeber obliege.
e) Den Antrag des Beschwerdeführers, ihn im Wege der einstweiligen Anordnung unverzüglich aus der Haft zu entlassen, lehnte die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 13. September 2010 ab.
f) Mit Beschluss vom 27. Dezember 2011 lehnte es die Strafvollstreckungskammer erneut ab, die Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären. Auf Grundlage der verfügbaren Erkenntnisse zur Persönlichkeit des Beschwerdeführers, seines Vorlebens, der Tatumstände, des Gewichts der bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgüter, des Vollzugsverhaltens, der Lebensverhältnisse und der sonstigen prognostisch relevanten Gesichtspunkte sei weiterhin zu besorgen, dass er im Falle seiner Entlassung zum gegenwärtigen Zeitpunkt erneut Straftaten von erheblichem Gewicht begehen würde. Es sei davon auszugehen, dass die im Urteil des Landgerichts Duisburg festgestellte Gefährlichkeit des Beschwerdeführers fortbestehe. Dies gelte auch unter Berücksichtigung der strengen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 4. Mai 2011, die hier in Bezug auf die Überprüfung der Fortdauer der Maßregel zu beachten seien. Nach den Feststellungen der Sachverständigen leide der Beschwerdeführer unter einer kombinierten dissozialen und sadistischen Persönlichkeitsstörung. Dies sei nach Auffassung der Kammer für die Annahme einer psychischen Störung ausreichend. Darüber hinaus bestehe nach den Feststellungen der Sachverständigen, denen sich die Kammer anschließe, jedenfalls zur Zeit noch eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, die aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Beschwerdeführers abzuleiten sei.
g) Über die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen diesen Beschluss wurde bislang nicht entschieden.
2. Mit seiner gegen die im Jahr 2010 ergangenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG und Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sowie Art. 103 Abs. 2 GG.
Entscheidungsgründe
II.
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und das Bundesministerium der Justiz hatten Gelegenheit zur Äußerung. Dem Bundesverfassungsgericht hat das Vollstreckungsheft der Staatsanwaltschaft Duisburg vorgelegen.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Nach den Maßstäben, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärt sind (vgl. BVerfGE 128, 326 ff.), ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet (§ 93b, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der mit der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus einhergehende erhebliche Grundrechtseingriff (BVerfGE 128, 326 ≪389≫) lässt das Feststellungsinteresse des Beschwerdeführers trotz der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidung des Landgerichts Aachen vom 27. Dezember 2011 fortbestehen (vgl. BVerfGE 91, 125 ≪133≫; 108, 251 ≪268≫).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.
a) Der den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) ist, wie der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ff.) festgestellt hat, mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG und, soweit er in Verbindung mit § 2 Abs. 6 des Strafgesetzbuchs zur Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus auch bei Verurteilten ermächtigt, deren Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 begangen wurden, darüber hinaus mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar.
Aufgrund der Anordnung des Bundesverfassungsgerichts unter Nummer III.2. Buchstabe a des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 ist die Vorschrift längstens bis zum 31. Mai 2013 weiter anwendbar, mit der Maßgabe, dass die Fortdauer der Sicherungsverwahrung nur noch angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG) – Art. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) – leidet. Zudem haben die zuständigen Vollstreckungsgerichte unverzüglich zu überprüfen, ob die Voraussetzungen der Fortdauer einer Sicherungsverwahrung gegeben sind. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, ordnen sie die Freilassung der betroffenen Sicherungsverwahrten spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 an (vgl. Nummer III.2. Buchstabe b des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011). Die Überprüfungsfrist für die Erledigung der Sicherungsverwahrung beträgt überdies in der Konstellation des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB im Rahmen der Weitergeltung der Vorschrift abweichend von § 67e Abs. 2 des Strafgesetzbuchs ein Jahr (vgl. Nummer III.2. Buchstabe c des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011).
b) Dies zugrunde gelegt, verletzen die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der verfassungswidrigen Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) und genügen den Anforderungen nicht, die sich für eine verfassungsgemäße Entscheidung auf der Grundlage der für weiter anwendbar erklärten Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB aus den Maßgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ergeben. Die Gerichte haben namentlich nicht geprüft, ob nach diesen Maßstäben eine Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zulässig ist. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sie im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entscheidung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 nicht berücksichtigen konnten, weil diese Entscheidung noch nicht ergangen war (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 8. Juni 2011 – 2 BvR 2846/09 –, EuGRZ 2011, S. 413 ≪415 f.≫). Für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung kommt es allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Urteile im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (BVerfGE 128, 326 ≪408≫).
3. Es ist daher festzustellen, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Sie sind jedoch entgegen der Regel der § 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG nicht aufzuheben und an das Landgericht zurückzuverweisen, da sie durch die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vom 27. Dezember 2011 prozessual überholt sind und die Fachgerichte somit bereits mit der in Nummer III.2. Buchstabe b des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 angeordneten erneuten Sachprüfung begonnen haben.
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Lübbe-Wolff, Huber, Kessal-Wulf
Fundstellen