Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei sechswöchiger Abwesenheit von der Wohnung
Leitsatz (redaktionell)
Wer eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend nicht benutzt – wie z. B. hier eine Studentin während einer sechswöchigen Abwesenheit in den Semesterferien –, braucht für diese Zeit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; StPO § 44
Verfahrensgang
LG Köln (Beschluss vom 10.12.1971; Aktenzeichen 37 Qs OWi 627/71) |
Gründe
A. – I.
1. Der Oberstadtdirektor in Köln – Amt für öffentliche Ordnung – verhängte gegen die Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 5. August 1971 wegen einer Ordnungswidrigkeit nach §§ 1, 38 StVO eine Geldbuße von 25.- DM. Zuvor war die Beschwerdeführerin von der Polizei als Beschuldigte vernommen worden. Der Bußgeldbescheid wurde der Beschwerdeführerin am 11. August 1971 durch Niederlegung bei der Postanstalt zugestellt. Nach ihren Angaben kehrte die Beschwerdeführerin erst am 30. August 1971 in ihre Wohnung zurück. Am 31. August 1971 holte sie den Bußgeldbescheid beim Postamt ab. Mit Schriftsatz vom selben Tage, beim Amt für öffentliche Ordnung eingegangen am 1. September 1971, legte sie Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein und beantragte hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist, da sie wegen einer sechswöchigen Abwesenheit den Bußgeldbescheid erst am 31. August 1971 habe abholen können.
2. Durch Beschluß vom 20. Oktober 1971 verwarf das Amtsgericht Köln den Einspruch als verspätet. Zugleich wies es den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück. Die Beschwerdeführerin habe den Versäumnisgrund nicht glaubhaft gemacht. Im übrigen habe sie, obwohl sie seit ihrer verantwortlichen Vernehmung durch die Polizei mit dem Erlaß eines Bußgeldbescheids habe rechnen müssen, keine Vorkehrungen dafür getroffen, daß eine Zustellung sie während ihrer Abwesenheit rechtzeitig erreiche.
3. Gegen diesen Beschluß erhob die Beschwerdeführerin durch ihren Verteidiger sofortige Beschwerde. Zur Begründung trug sie vor, ein Beschuldigter sei nicht gehalten, besondere Vorkehrungen für die Zeit der Urlaubsabwesenheit zu treffen. Seine eigene Erklärung reiche im Regelfall aus, die urlaubsbedingte Abwesenheit hinreichend wahrscheinlich zu machen.
4. Das Landgericht Köln verwarf die sofortige Beschwerde als unbegründet und führte dazu aus:
Die Beschwerdeführerin habe für die Dauer ihrer Abwesenheit im laufenden Verfahren, von dem sie ausreichende Kenntnis gehabt habe, keine Vorsorge dafür getroffen, daß Zustellungen sie rechtzeitig hätten erreichen können. Sie habe somit nicht ohne eigenes Verschulden zur Versäumung der Einspruchsfrist beigetragen. Bei dieser Sachlage könne von einem unabwendbaren Zufall im Sinne des § 44 StPO nicht die Rede sein.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen diesen Beschluß. Sie rügt die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die angefochtene Entscheidung verkenne den Sinngehalt des Art. 103 Abs. 1 GG, aus dem herzuleiten sei, daß die Anforderungen an ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht überspannt werden dürften. Dieses Verfassungsgebot müsse auch dann beachtet werden, wenn die Betroffene vor Erlaß des Bußgeldbescheids bei der Polizei Angaben zu der ihr vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit gemacht habe.
III.
Dem Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Er hat von einer Äußerung abgesehen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Hat ein Betroffener die Frist zum Einspruch gegen den Bußgeldbescheid versäumt, so hängt die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, davon ab, ob ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. In diesem Fall dürfen bei Auslegung und Anwendung prozeßrechtlicher Vorschriften die Anforderungen, was ein Betroffener zur Erlangung der Wiedereinsetzung und damit zur Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zu tun habe, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 25, 158 [166]; 26, 315 [318]; 31, 388 [390]).
Wer eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend nicht benutzt – wie z. B. hier eine Studentin während einer sechswöchigen Abwesenheit in den Semesterferien –, braucht für diese Zeit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen (vgl. BVerfGE 25, 158 [166]; 26, 315 [319]). Das gilt auch dann, wenn der Betroffene vor Erlaß des Bußgeldbescheides zu der Beschuldigung polizeilich vernommen worden ist. Der Staatsbürger muß damit rechnen können, daß er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten wird, falls ihm während seiner Urlaubsabwesenheit ein Bußgeldbescheid durch Niederlegung bei der Post zugestellt werden und er aus Unkenntnis dieser Ersatzzustellung die Einspruchsfrist versäumen sollte. Das gilt freilich nicht, wenn ihm ein anderes Verschulden zur Last gelegt werden kann, wenn er also z. B. die Abholung vernachlässigt hat oder sich einer erwarteten Zustellung vorsätzlich entziehen wollte.
Die angefochtene Entscheidung beruht auch auf der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Beschwerdeführerin Wiedereinsetzung gewährt worden wäre, wenn das Landgericht Bedeutung und Tragweite von Art. 103 Abs. 1 GG hinreichend beachtet hätte.
Da der angefochtene Beschluß gegen Art.103 Abs. 1 GG verstößt, ist er aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht zurückzuverweisen.
Die der Beschwerdeführerin entstandenen notwendigen Auslagen sind zu erstatten (§ 34 Abs. 4 BVerfGG). Die Erstattungspflicht trifft das Land Nordrhein-Westfalen, dem die erfolgreich gerügte Grundrechtsverletzung zuzurechnen ist.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Fundstellen
Haufe-Index 1697505 |
BVerfGE, 154 |
NJW 1973, 187 |
DRiZ 1973, 60 |
MDR 1973, 292 |