Verfahrensgang
LG Braunschweig (Beschluss vom 19.11.2013; Aktenzeichen 50 StVK 861/13) |
Tenor
Der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 19. November 2013 – 50 StVK 861/13 – verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben.
Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits an das Landgericht Braunschweig zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den vorläufigen Rechtsschutz gegen eine Disziplinarmaßnahme im Strafvollzug.
I.
1. Nachdem im Haftraum des sehbehinderten strafgefangenen Beschwerdeführers in einer Mappe drei an Mitgefangene gerichtete behördliche und gerichtliche Schreiben gefunden worden waren, verhängte die Justizvollzugsanstalt am 13. November 2013 gegen den Beschwerdeführer als Disziplinarmaßnahme einen Ausschluss von gemeinschaftlichen Veranstaltungen und die getrennte Unterbringung während der Freizeit von zehn Tagen, weil der Beschwerdeführer gegen § 76 Abs. 1 NJVollzG verstoßen – die Schreiben also ungenehmigt in seinem Gewahrsam gehabt – habe. Die Vollstreckung der Disziplinarmaßnahme begann am selben Tag.
Gleichfalls unter dem 13. November 2013 stellte der Beschwerdeführer Antrag auf „Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG” sowie Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Disziplinarmaßnahme. Die Mitgefangenen hätten ihm die Schreiben vorgelesen und sie dann lediglich bei ihm vergessen und dies auch übereinstimmend ausgesagt. Ihm sei, als er seine eigenen Unterlagen in die Mappe geräumt habe, nicht bewusst gewesen, dass sich darunter auch die Schreiben an die Mitgefangenen befunden hätten. Eine Abgabe von Sachen im Sinne des § 76 NJVollzG habe daher nicht stattgefunden. Für die gegenteilige Annahme der Justizvollzugsanstalt fehle angesichts der übereinstimmenden Aussage der Mitgefangenen die notwendige Grundlage. Zudem wäre, selbst wenn es sich um eine Abgabe der Schreiben gehandelt hätte, eine Anwendung des § 76 NJVollzG ausgeschlossen. Anderenfalls wäre jede Abgabe von Sachen, und sei es nur einer Tasse Kaffee, ein schuldhafter Pflichtverstoß, der disziplinarisch geahndet werden könne. Dies sei lebensfremd.
2. Die Strafvollstreckungskammer wies mit angegriffenem Beschluss vom 19. November 2013 den Eilantrag zurück. Eine einstweilige Anordnung dürfe die Hauptsache nicht vorwegnehmen. Etwas anderes gelte nur, wenn dem Verurteilten ein schwerer, unzumutbarer, anders nicht abwendbarer Nachteil entstehen würde, der durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könne. Ein solcher Nachteil sei nicht ersichtlich.
3. Mit der am 28. November 2013 rechtzeitig eingegangen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG. Die Ablehnung seines Eilantrages mit der Begründung, dass die engen Voraussetzungen, unter denen eine die Hauptsache vorwegnehmende Entscheidung ergehen könne, nicht erfüllt seien, mache den Rechtsbehelf ineffektiv und lasse ihn für den Beschwerdeführer leerlaufen. Der vorläufige Rechtsschutz habe so weit wie möglich der Schaffung vollendeter Tatsachen zuvorzukommen. Bei sofort zu vollstreckenden Disziplinarmaßnahmen könnten die dadurch eingetretenen Nachteile später nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Strafvollstreckungskammer habe zudem den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt.
4. Das Niedersächsische Justizministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und in einem die Zuständigkeit der Kammer begründenden Sinne offensichtlich begründet.
1. Der angegriffene Beschluss das Landgerichts verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.
a) Für die Gerichte ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes Anforderungen auch für den vorläufigen Rechtsschutz. Die Auslegung und Anwendung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führt (vgl. BVerfGE 49, 220 ≪226≫; 77, 275 ≪284≫; BVerfGK 1, 201 ≪204 f.≫; 11, 54 ≪60≫). Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz ist verletzt, wenn die Gewährung von Eilrechtsschutz zu Unrecht mit der entscheidungstragenden Begründung abgelehnt wird, sie komme wegen Nichtvorliegens der besonderen Voraussetzungen für eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Betracht (vgl. BVerfGK 1, 201 ≪204 f.≫; 7, 403 ≪409≫; 8, 64 ≪65 f.≫; 11, 54 ≪60 f.≫; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. März 2009 – 2 BvR 2347/08 –, juris, Rn. 12, und vom 3. Mai 2012 – 2 BvR 2355/10, 2 BvR 1443/11 –, juris, Rn. 13). Eine – nur in Ausnahmefällen zulässige – Vorwegnahme der Hauptsache liegt vor, wenn die begehrte vorläufige Entscheidung faktisch keine vorläufige wäre, sondern einer endgültigen gleichkäme. Dies ist nicht der Fall, wenn die einstweilige Aussetzung einer Maßnahme begehrt wird, die bei entsprechendem Ausgang des Hauptsacheverfahrens wieder in Geltung gesetzt werden kann. Die bloße Tatsache, dass die vorübergehende Aussetzung als solche nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, macht die vorläufige Regelung nicht zu einer faktisch endgültigen. Die vorläufige Aussetzung ist vielmehr, sofern die Voraussetzungen für eine stattgebende Eilentscheidung im Übrigen vorliegen, gerade der typische, vom Gesetzgeber vorgesehene Regelungsgehalt des vorläufigen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen (vgl. BVerfG, jew. a.a.O.).
b) Danach steht der angegriffene Beschluss mit den Anforderungen effektiven Eilrechtsschutzes nicht in Einklang. Begehrt ein Gefangener Eilrechtsschutz gegen eine Disziplinarmaßnahme, so geht es um die vorläufige Aussetzung einer ihn belastenden Maßnahme; eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt darin nicht (vgl. BVerfGK 1, 201 ≪201 f., 206≫). Die Strafvollstreckungskammer hätte daher, ohne insoweit durch den Gesichtspunkt einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache gebunden zu sein, prüfen müssen, ob die Maßnahme gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG auszusetzen war (vgl. BVerfGK 1, 201 ≪206≫; zu den Maßstäben der Entscheidung nach dieser Vorschrift vgl. Arloth, StVollzG, 3. Aufl. 2011, § 114).
Der Grundrechtsverstoß entfällt nicht dadurch, dass der Beschwerdeführer selbst sein Eilrechtsschutzbegehren als Antrag auf „Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG” formuliert hatte. Rechtsschutzanträge sind vom Gericht zweckentsprechend auszulegen (vgl. BVerfGE 122, 190 ≪198≫; BVerfGK 7, 403 ≪408≫; 18, 152 ≪157≫). Diesem Gebot kommt bei der Auslegung von Anträgen nicht anwaltlich vertretener Gefangener angesichts deren besonderer Schwierigkeiten im Umgang mit den Kompliziertheiten der Rechtsordnung besondere Bedeutung zu (vgl. BVerfGK 10, 509 ≪516≫; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2012 – 2 BvR 166/11 –, NStZ-RR 2013, S. 120 ≪122≫, und vom 23. Oktober 2013 – 2 BvR 1541/13 –, juris, Rn. 7). Der Antrag des Beschwerdeführers war offensichtlich auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die verhängte Disziplinarmaßnahme, deren Vollstreckung bereits begonnen hatte, gerichtet. Dass die richtige Zuordnung dieses eindeutigen Rechtsschutzziels zu der einschlägigen Bestimmung des § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG dem Beschwerdeführer nicht gelungen war, änderte daran nichts. Die für die zutreffende rechtliche Einordnung eines Rechtsschutzbegehrens notwendigen Rechtskenntnisse sind nicht dem rechtsschutzsuchenden Gefangenen, sondern dem Gericht abzuverlangen.
2. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG. Nachdem hinsichtlich des im fachgerichtlichen Eilverfahren verfolgten Rechtsschutzziels Erledigung eingetreten ist und im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine Fortsetzungsfeststellungsentscheidung nicht in Betracht kommt (vgl. Arloth, StVollzG, 3. Aufl. 2011, § 115 Rn. 11, m.w.N.), erfolgt die Zurückverweisung nur noch zur erneuten Entscheidung über die Kosten. Die Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren sind dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG zu erstatten.
Unterschriften
Lübbe-Wolff, Landau, Kessal-Wulf
Fundstellen