Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Ablehnung einer Strafaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von mehr als zwei Dritteln der Strafe
Verfahrensgang
Tenor
1. Der Beschluß des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. April 1999 - 2 Ws 244/99 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
2. Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwalts H.-J. Dupré.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung einer Strafaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von mehr als zwei Dritteln der Strafe.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Trier vom 5. Dezember 1994 wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in 48 Fällen, davon in 32 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Kindern und in elf Fällen in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Freiheitsstrafe verbüßt er derzeit in der Justizvollzugsanstalt Diez. Zwei Drittel der Strafe waren am 3. Dezember 1997 verbüßt; das Strafende ist auf den 4. September 1999 vorgemerkt.
2. a) Mit Beschluß vom 21. Oktober 1997 lehnte die Strafvollstreckungskammer trotz befürwortender Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt die Strafaussetzung zur Bewährung ab. Ohne Erprobung in Vollzugslockerungen könne in aller Regel eine Entlassung zur Bewährung in Freiheit nach § 57 Abs. 1 StGB nicht verantwortet werden. Dies gelte vor allem für Verurteilte, die lange Freiheitsstrafen verbüßten. Eine Erprobung des Beschwerdeführers in Vollzugslockerungen habe die Justizvollzugsanstalt aber wegen eines Restrisikos, das bei der Prognose menschlichen Verhaltens nicht ausgeschlossen werden könne, für nicht verantwortbar gehalten, so daß sich die Kammer auch unter Berücksichtigung des beanstandungsfreien Vollzugs- und Arbeitsverhaltens und der Tatsache seiner erstmaligen Bestrafung außerstande sehe, derzeit eine günstige Sozialprognose zu stellen.
b) Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht mit Beschluß vom 20. Januar 1998 als unbegründet. Der Senat könne nicht verläßlich beurteilen, ob die von der Oberpsychologierätin S. beschriebenen Persönlichkeitsdefizite, die diese aufgrund von Explorationsgesprächen im Jahre 1996 festgestellt habe, aufgearbeitet worden seien. Die Gutachterin habe seinerzeit nicht bescheinigen können, daß der Beschwerdeführer langfristig die Kraft aufbringen könne, sich nicht mehr – auch wenn er sich dies gezielt vornehme – an einem Kind zu vergehen. Aus diesem Grund seien bei dem Senat Bedenken bezüglich des von Oberpsychologierat D. bescheinigten Erfolgs der von ihm durchgeführten 15monatigen Einzeltherapie geblieben, zumal dieser bei Feststellung von tatauslösenden psychodynamischen Faktoren von einem den Urteilsgründen widersprechenden Sachverhalt ausgegangen sei und sich nicht ausreichend mit der abweichenden Stellungnahme von Oberpsychologierätin S. auseinandergesetzt habe.
c) Eine allein gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer gerichtete Verfassungsbeschwerde nahm die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluß vom 2. Juli 1998 - 2 BvR 910/98 - nicht zur Entscheidung an. Dabei wies sie darauf hin, daß eine Auslegung des § 11 Abs. 2 StVollzG, die eine Gewährung von Vollzugslockerungen an jeglichem noch so entfernt liegenden „Restrisiko” scheitern lassen würde, offenbar gegen Sinn und Zweck dieser Norm verstoße und eine strafvollstreckungsrechtliche Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB, die eine darauf beruhende Versagung von Vollzugslockerungen ihrer Prognose zugrundelegen würde, verfassungswidrig wäre.
3. a) Die Strafvollstreckungskammer lehnte mit Beschluß vom 23. Juni 1998 trotz positiver Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt, die insbesondere auf die mit Erfolg abgeschlossene Einzeltherapie des Beschwerdeführers hingewiesen hatte, erneut die Strafaussetzung zur Bewährung ab. Eine Erprobung des Beschwerdeführers in Vollzugslockerungen habe bisher noch nicht stattgefunden. So könne die für eine Erprobung in Freiheit vorausgesetzte Persönlichkeitsfestigung bei ihm und die Verantwortbarkeit einer bedingten Entlassung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht festgestellt werden.
b) Die dagegen erhobene sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht mit Beschluß vom 24. August 1998 als unbegründet. Eine Änderung der für den vorangegangenen Senatsbeschluß maßgeblich gewesenen Umstände sei nicht feststellbar. Allein durch den Zeitablauf habe aber die Prognose, die der Senat seinerzeit als ungünstig angesehen habe, keine entscheidende Änderung erfahren.
c) Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen diese Entscheidungen nahm die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluß vom 10. Februar 1999 - 2 BvR 1701/98 - nicht zur Entscheidung an, weil die Einholung einer weiteren sachverständigen Beurteilung auch in Anbetracht der einander widersprechenden gutachterlichen Äußerungen verfassungsrechtlich noch nicht geboten gewesen sei. Für die erneut anstehende Prüfung einer bedingten Entlassung wies sie allerdings darauf hin, daß die zeitnahe Einholung eines externen Sachverständigengutachtens naheliege.
4. Mit Beschluß vom 26. März 1999 lehnte die Strafvollstreckungskammer trotz erneut befürwortender Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt die bedingte Entlassung des Beschwerdeführers wiederum ab und erklärte die Stellung eines weiteren Antrags auf Strafaussetzung vor Strafende als unzulässig. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht mit Beschluß vom 29. April 1999 als unbegründet. Eine bedingte Entlassung des Beschwerdeführers könne nach wie vor nicht verantwortet werden. Die Schwere der von ihm begangenen Straftaten und die Entwicklung des Beschwerdeführers im Vollzug ließen bereits in der Vergangenheit das mit einer vorzeitigen Entlassung verbundene Risiko als unvertretbar hoch erscheinen. Hieran habe sich auch in der Folgezeit substantiell nichts geändert. Die Justizvollzugsanstalt sei zwar in ihrer Stellungnahme vom 11. Februar 1999 – wie schon zuvor – von einer günstigen Prognose ausgegangen. Mit der vom Senat in seinen bisherigen Entscheidungen angesprochenen und fortbestehenden Problematik, daß die bisher dort durchgeführten Therapiemaßnahmen noch nicht zu einer genügend verläßlichen Aufarbeitung der Entwicklungs- und Persönlichkeitsdefizite des Beschwerdeführers geführt hätten, habe sie sich indes nicht auseinandergesetzt. Wenn eine günstige Veränderung der Verhältnisse auch insoweit eingetreten sei, als dem Beschwerdeführer zwischenzeitlich die Eignung zum offenen Vollzug zuerkannt worden sei und er sich seit 15. Februar 1999 – offenbar ohne Beanstandungen – im Freigängerhaus befinde, sehe der Senat diese Zeitspanne in Übereinstimmung mit der Strafvollstreckungskammer angesichts des Gewichts der bei einem Rückfall drohenden Gefahren als zu knapp an, als daß sie das Aussetzungsrisiko maßgeblich herabzusetzen vermöchte. Im übrigen gebe das Beschwerdevorbringen zu anderer Bewertung keinen Anlaß. Insbesondere widerspreche die Ablehnung der Strafaussetzung zur Bewährung nicht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach dürfe ein Vollstreckungsgericht die Ablehnung einer bedingten Entlassung zwar dann nicht mit fehlenden Vollzugslockerungen begründen, wenn diese ihrerseits ohne hinreichenden Grund und mit bloßen pauschalen Wertungen abgelehnt worden seien. Vorliegend habe die Strafvollstreckungskammer indes nicht auf die Nichtgewährung von Vollzugslockerungen, sondern auf deren für eine günstige Prognose zu kurze Zeitspanne abgestellt. Die angefochtene Entscheidung beruhe mithin nicht auf einer möglicherweise fehlerhaften Versagung von Vollzugslockerungen.
5. Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 15. Februar 1999 im offenen Vollzug, seit 26. März 1999 ist es mindestens fünf Mal zur Gewährung von Urlaub an insgesamt 35 Tagen gekommen. Anlaß zur Beanstandung hat der Beschwerdeführer dabei nicht gegeben.
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere die Mißachtung des Rechtsstaatsprinzips. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts stehe im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Verweigerung der bedingten Strafaussetzung nicht mit rechtswidrig nicht gewährten Vollzugslockerungen abgelehnt werden dürfe. Auch sei kein zeitnahes Gutachten eines externen Sachverständigen – wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 10. Februar 1999 angegeben habe – eingeholt worden. Im übrigen macht er (sinngemäß) eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts geltend. Der Vollzug der restlichen Freiheitsstrafe mache keinen Sinn, weil in der Justizvollzugsanstalt seit längerer Zeit keine therapeutische Behandlung mehr erfolge, da diese nach Auffassung der Anstaltspsychologen erfolgreich abgeschlossen sei. Es sei im übrigen nicht zu erkennen, was geschehen müsse, damit er nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts geeignet sei, bedingt entlassen zu werden.
III.
Das Justizministerium des Landes Rheinland-Pfalz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme; es hat davon keinen Gebrauch gemacht.
IV.
Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, da dies zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Kammer ist zur Entscheidung befugt, da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet ist.
1. Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 104 Abs. 1 und 2 GG) darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪307≫). Daraus ergeben sich für die Strafgerichte Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung, die nicht nur im strafprozessualen Hauptverfahren, sondern auch bei den im Vollstreckungsverfahren zu treffenden Entscheidungen zu beachten sind. Sie setzen unter anderem Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine hinreichende tatsächliche Grundlage richterlicher Entscheidungen. Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, daß Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE a. a. O.).
2. Um eine den genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegende Entscheidung im strafprozessualen Vollstreckungsverfahren handelt es sich, wenn darüber zu befinden ist, ob die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird.
a) Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn zwei Drittel der verhängten Strafe verbüßt sind, der Verurteilte einwilligt und dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB sind bei der danach anstehenden Prüfung, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird, namentlich seine Persönlichkeit, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, sein Verhalten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind. Damit ist den Strafvollstreckungsrichtern eine prognostische Gesamtwürdigung abverlangt.
b) Bei der nach § 57 Abs. 1 StGB zu treffenden Entscheidung handelt es sich zunächst um die Auslegung und Anwendung von Gesetzesrecht, die Sache der Strafgerichte ist. Sie wird vom Bundesverfassungsgericht nur daraufhin nachgeprüft, ob das Strafvollstreckungsgericht in objektiv unvertretbarer Weise vorgegangen ist oder die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts – hier insbesondere des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 und 2 GG verbürgten Freiheitsrechts – verkannt hat (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f., 96≫; 72, 105 ≪113 ff.≫).
Die aus dem Freiheitsrecht abzuleitenden Anforderungen an die richterliche Aufklärungspflicht treffen insbesondere die Prognoseentscheidung. Für ihre tatsächlichen Grundlagen gilt von Verfassungs wegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪309≫). Es verlangt, daß der Richter die Grundlagen seiner Prognose selbständig bewertet, verbietet mithin, daß er die Bewertung einer anderen Stelle überläßt. Darüber hinaus fordert es vom Richter, daß er sich ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft (vgl. BVerfGE a. a. O. S. 310 f.; ferner Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1997 - 2 BvR 517/97 -, in JURIS veröffentlicht).
3. Diesem Maßstab genügt der angegriffene Beschluß nicht.
Das Oberlandesgericht lehnt eine günstige Sozialprognose ab, weil das mit einer vorzeitigen Entlassung verbundene Risiko – wie es schon in den vorangegangenen Beschlüssen vom 20. Januar und 24. August 1998 dargelegt hatte – schon in der Vergangenheit unvertretbar hoch erschienen sei und sich daran in der Folgezeit substantiell nichts geändert habe.
Diese Einschätzung wird dem Umstand nicht gerecht, daß mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzugs der Anspruch des Verurteilten auf Achtung seiner Menschenwürde und seiner freien Persönlichkeit zunehmendes Gewicht auch für die Anforderungen gewinnt, die an die für die Prognoseentscheidung notwendige Sachverhaltsaufklärung zu stellen sind. Darüber hinaus berücksichtigt sie nicht hinreichend die Entwicklung des Beschwerdeführers, wie sie in der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 11. Februar 1999 und der seit 15. Februar 1999 beanstandungsfreien Führung des Beschwerdeführers im offenen Vollzug ihren Ausdruck findet.
a) Die negative Sozialprognose des Oberlandesgerichts in seinen Beschlüssen vom 20. Januar und 24. August 1998 gründet auf einer Stellungnahme der Oberpsychologierätin S., der Explorationsgespräche aus dem Jahre 1996 zugrundeliegen. Soweit der Senat in diesen Entscheidungen angesichts der von dieser beschriebenen Persönlichkeitsstruktur der positiven Einschätzung von Oberpsychologierat D. nach seiner 15monatigen Einzeltherapie nicht zu folgen vermochte, lag dies noch im Rahmen der Anwendung und Auslegung einfachen Rechts, die verfassungsrechtlicher Nachprüfung entzogen ist. Je länger aber der Freiheitsentzug des Beschwerdeführers dauerte und je näher das Ende des Strafvollzugs rückte, umso weniger durfte sich das Oberlandesgericht bei seiner Einschätzung auf länger zurückliegende Erkenntnisse stützen. Zwar war der Senat nicht gehindert, weiterhin noch auf die gutachterlichen Äußerungen von Oberpsychologierätin S. zurückzugreifen. Das Oberlandesgericht hat allerdings nicht berücksichtigt, daß das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung, dem in einem solchen Fall die Bedeutung eines Verfassungsgebots zukommt, zu weiteren Nachforschungen drängen mußte. Immerhin hatte sich der Senat bei seiner Prüfung, ob die Aussetzung des Strafrestes unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden könne, mit der Frage auseinanderzusetzen, ob von dem Beschwerdeführer zum jetzigen Zeitpunkt, also im Jahre 1999, noch die Begehung rechtswidriger Taten drohe. Sich dabei allein auf das Jahr 1996 zurückgehende gutachterliche Erkenntnisse zu stützen, begegnet umso mehr verfassungsrechtlichen Bedenken, als sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Entscheidung immerhin zweieinhalb Monate als Freigänger im offenen Vollzug befand und ihm darüber hinaus auch Urlaub nach dem Strafvollzugsgesetz gewährt worden war. Bei dieser Sachlage wäre es von Verfassungs wegen zumindest geboten gewesen, die Justizvollzugsanstalt um eine Ergänzung ihrer vor Beginn des offenen Vollzugs abgegebenen Stellungnahme zu bitten, um abzuklären, ob sich der Beschwerdeführer in Wahrnehmung der gewährten Vollzugslockerungen bewährt hat oder nicht. Soweit das Oberlandesgericht stattdessen lediglich unterstellt hat, es sei offenbar nicht zu Beanstandungen gekommen, kann dies die Einholung einer neuen Stellungnahme nicht ersetzen.
Im übrigen hätte auch die zur Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage führende Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens nahegelegen (vgl. Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 1999 - 2 BvR 1701/98 -). Sofern schon damals abzusehen war, daß im Hinblick auf den hierfür notwendigen Zeitaufwand der grundrechtlich garantierte Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers durch einen Richterentscheid zeitgerecht nicht mehr hätte realisiert werden können (vgl. BVerfGE 86, 288 ≪328≫), hätte es sich zumindest aufgedrängt, die einer positiven
Prognoseentscheidung entgegenstehenden gutachterlichen Äußerungen der Oberpsychologierätin S. aktualisieren und auf ihre Bedeutung im Jahr 1999 überprüfen zu lassen.
b) Das Oberlandesgericht mißt bei seiner Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes, wie schon die Strafvollstreckungskammer, den dem Beschwerdeführer gewährten Vollzugslockerungen angesichts ihrer kurzen Dauer überhaupt kein Gewicht bei. Dies wird auch daran deutlich, daß der Senat eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse bis zum vorgemerkten Strafende im September 1999 ausschließt und gegen die von der Strafvollstreckungskammer für die Stellung eines neuerlichen Antrags auf bedingte Entlassung angeordnete Sperrfrist (§ 57 Abs. 6 StGB) keine Bedenken hat. Soweit darin zum Ausdruck kommt, daß auch eine mögliche über sechs Monate andauernde Bewährung in Vollzugslockerungen ohne Einfluß auf eine hinsichtlich des Beschwerdeführers zu treffende Prognoseentscheidung bleibt, hält dies – ungeachtet der Frage, ob angesichts der auf eine verfassungsrechtlich bedenkliche Begründung gestützten Verweigerung von Vollzugslockerungen zu Lasten des Beschwerdeführers überhaupt berücksichtigt werden durfte, daß die später gewährte Lockerung nicht von langer Dauer war (vgl. Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 1998 - 2 BvR 910/98) - verfassungsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Für den Richter erweitert sich die Basis der prognostischen Beurteilung, wenn dem Gefangenen Vollzugslockerungen gewährt worden sind. Dieser erhält Gelegenheit, sich in der Wahrnehmung der gewährten Vollzugslockerungen zu bewähren;
sein hierbei an den Tag gelegtes Verhalten ist „Verhalten im Vollzug” im Sinne des § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB. Vollzugslockerungen machen es dem Gefangenen darüber hinaus möglich, nach langem Freiheitsentzug wenigstens ansatzweise Orientierung für ein normales Leben zu suchen und zu finden. Je nach dem Erfolg dieser Orientierungssuche stellen sich die Lebensverhältnisse des Gefangenen und die von der Aussetzung der Strafvollstreckung für ihn zu erwartenden Wirkungen günstiger oder ungünstiger dar. Mithin werden die Chancen, daß das Gericht, das über die Aussetzung zu entscheiden hat, zu einer zutreffenden Sozialprognose gelangen werde, durch die vorherige Gewährung von Vollzugslockerungen verbessert und durch deren Versagung verschlechtert (vgl. Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 1998, NStZ 1998, 373). Wenn ein Vollstreckungsgericht aber, wie hier auch das Oberlandesgericht, die Erfahrungen und den Umgang eines Verurteilten mit ihm gewährten Vollzugslockerungen – mögen sie auch zeitlich beschränkt sein – aus seiner prognostischen Beurteilung völlig ausblendet, versperrt es sich damit den Weg zu einer auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhenden Entscheidung, die dem durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 und 2 GG verbürgten Freiheitsrecht hinreichend Rechnung trägt.
c) Die angegriffene Entscheidung ist aufzuheben, die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen, das im Sinne eines effektiven Grundrechtsschutzes zeitnah über die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers zu entscheiden hat.
4. Da der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde durchdringt, ist der Anspruch einer vollen Auslagenerstattung – auch für die Zuziehung eines Rechtsanwalts – angebracht (§ 34a Abs. 2 BVerfGG). Demgemäß erledigt sich der Antrag über die Gewährung von Prozeßkostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dupré.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Hassemer, Broß
Fundstellen
Haufe-Index 543542 |
NJW 2000, 501 |
StV 1999, 548 |