Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Verfahrensgang
Hamburgisches OVG (Beschluss vom 25.11.2004; Aktenzeichen 3 Nc 301/04) |
Tenor
Die Vollziehung der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 25. November 2004 wird für die Dauer von sechs Monaten, längstens jedoch bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, einstweilen ausgesetzt.
Gründe
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Entziehung eines ihr in erster Instanz durch das Verwaltungsgericht vorläufig zuerkannten Studienplatzes.
1. Die Beschwerdeführerin bewarb sich bei der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) um einen Studienplatz im Fach Humanmedizin für das Wintersemester 2003/04. Ihr Antrag wurde abgelehnt; auch im Nachrückverfahren wurde ihr kein Studienplatz zugeteilt. Mit Schriftsatz vom 15. März 2004 stellte die Beschwerdeführerin bei der Universität Hamburg Antrag auf Zulassung zum Medizinstudium außerhalb der festgesetzten Zulassungszahl nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemesters 2003/04. Am gleichen Tag hat sie mit der Begründung nicht ausgelasteter Studienkapazitäten beim Verwaltungsgericht Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf vorläufige Zulassung zum Studium gestellt.
Die Universität hat den Antrag durch Bescheid vom 24. März 2004 abgelehnt. Das Verwaltungsgericht hat jedoch durch einstweilige Anordnung vom 5. August 2004 die Universität verpflichtet, die Beschwerdeführerin vorläufig, bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit einer Entscheidung in der Hauptsache, zum Studiengang Medizin nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemesters 2003/04 zuzulassen. Die Beschwerdeführerin ist daraufhin vorläufig immatrikuliert worden.
Auf die Beschwerde der Universität gegen diese Entscheidung hat das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss vom 25. November 2004 die einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts aufgehoben. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung fehle es vorliegend an einem Anordnungsgrund, weil die Beschwerdeführerin die einstweilige Anordnung erst nach Abschluss des Vorlesungsbetriebs, nämlich am 15. März 2004, beantragt habe. Nach der ständigen Rechtsprechung des Beschwerdegerichts sei der Anordnungsgrund aber stets dann zu verneinen, wenn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel einer vorläufigen Zulassung zum Studium später als am ersten Vorlesungstag des Bewerbungssemesters gestellt werde. Dies gelte erst recht dann, wenn – wie hier – zu dem Zeitpunkt, zu dem das Gericht angerufen werde, eine Teilnahme an den Lehrveranstaltungen nicht mehr möglich sei, weil diese bereits beendet seien. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Februar 2003 veranlasse das Beschwerdegericht nicht, seine gefestigte Rechtsprechung aufzugeben. Das Bundesverfassungsgericht habe in der Sache noch nicht Stellung bezogen, sondern lediglich eine einstweilige Anordnung aufgrund einer Interessenabwägung erlassen. Eine bindende Wirkung für das vorliegende Verfahren komme seiner Entscheidung nicht zu. Insbesondere liege darin noch keine Missbilligung der Rechtsprechung des Beschwerdegerichts.
2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG sowie von Art. 19 Abs. 4 GG. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, ihr Anspruch auf effektiven Rechtsschutz werde verletzt. Die durch das Oberverwaltungsgericht aufrecht erhaltene Rechtsprechung, dass für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes auf einen bestimmten Stichtag abzustellen sei, stehe mit der Verpflichtung, Rechtsschutz zu gewähren, nicht in Einklang. Zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung habe es eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die vorläufige Verteilung außerkapazitärer Studienplätze noch nicht gegeben; das Gericht habe ihren Antrag daher in die Entscheidungsfindung ohne Weiteres mit einbeziehen können.
3. Zugleich mit der Verfassungsbeschwerde hat die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, um ihre – durch die Universität zum Ende des Wintersemesters 2004/05 angekündigte – Exmatrikulation zu verhindern.
4. Wegen der besonderen Dringlichkeit hat die Kammer gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG davon abgesehen, den Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
5. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag ist von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (stRspr; vgl. BVerfGE 84, 286 ≪288≫).
Danach ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattzugeben. Die Beschwerdeführerin kann ihr Studium daher vorläufig fortsetzen.
a) Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die Beschwerdeführerin kann nicht darauf verwiesen werden, zunächst das verwaltungsgerichtliche Verfahren in der Hauptsache durchzuführen. Hier steht prozessuales Vorgehen im Eilrechtsschutz in Frage, welches der Natur der Sache nach im Hauptsacheverfahren keiner Klärung zugeführt werden kann.
b) Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird vor allem die Frage zu klären sein, ob es mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar ist, den Anordnungsgrund nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO davon abhängig zu machen, ob der vorläufige Rechtsschutz vor oder nach dem ersten Vorlesungstag in Anspruch genommen wird, obwohl das Verwaltungsgericht bis zum Tag der Antragstellung durch die Beschwerdeführerin über die Eilanträge der Mitbewerber um außerkapazitäre Studienplätze noch nicht entschieden hatte. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage bereits in vergleichbaren Eilverfahren aufgeworfen (vgl. BVerfG-K 1, S. 26 ff.; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, NVwZ 2003, S. 857 f.; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. April 2003 – 1 BvR 710/03 –, Juris). Der vorliegende Fall bietet in gleicher Weise Anlass, dieser Frage nachzugehen. Dabei ist im Hinblick auf eine mögliche Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG unerheblich, dass die Beschwerdeführerin ihren Antrag erst nach Abschluss des Vorlesungsbetriebs im Bewerbungssemester gestellt hat. Entscheidend ist vielmehr, dass es dem Verwaltungsgericht ohne Weiteres möglich war, den später als üblich gestellten Antrag in die noch laufenden Eilverfahren über die Zuteilung außerkapazitärer Studienplätze mit einzubeziehen.
Die danach gebotene Abwägung der eintretenden Folgen fällt zugunsten der Beschwerdeführerin aus.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, würde der Beschwerdeführerin die Chance genommen, ihr Studium auf dem ihr vorläufig zugeteilten Studienplatz fortzusetzen. Nachdem das Verwaltungsgericht vorläufig offenbar vorhandene Kapazitäten festgestellt hat und deshalb ohnehin der Studienplatz der Beschwerdeführerin zu besetzen wäre, wiegt der für die Beschwerdeführerin entstehende Nachteil bedeutend schwerer als die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen, die Verfassungsbeschwerde aber später zurückgewiesen würde. Insoweit sind die Interessen der übrigen Bewerber sowie der Universität berührt. Die Rechtsschutzgewähr für die übrigen Studienbewerber fällt jedoch bei einer Beteiligung einer weiteren Bewerberin im noch ausstehenden Verteilungsverfahren nicht nennenswert ins Gewicht; denn es geht lediglich um eine relative Minderung der Erfolgschancen für alle. Für die Universität sind derzeit keine Nachteile erkennbar, weil die noch freien Kapazitäten nicht von der Anzahl der Bewerber abhängen.
Unterschriften
Papier, Steiner, Gaier
Fundstellen
Haufe-Index 1335965 |
NJW 2005, 2216 |
NVwZ 2005, 681 |
WissR 2005, 275 |