Verfahrensgang
AG Berlin-Mitte (Urteil vom 20.05.2005; Aktenzeichen 109 C 3424/03) |
Tenor
Das Schlussurteil des Amtsgerichts Mitte (Berlin) vom 20. Mai 2005 – 109 C 3424/03 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit darin die Kosten des zweiten Rechtszugs gegeneinander aufgehoben wurden. Insoweit wird das Schlussurteil aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht Mitte (Berlin) zurückverwiesen.
Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde ist gegen eine amtsgerichtliche Kostenentscheidung gerichtet.
Der Beschwerdeführer war Beklagter im amtsgerichtlichen Ausgangsverfahren. Er wurde neben einer weiteren Beklagten auf Zahlung von Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch genommen und verteidigte sich gegen die Klage mit der Einrede der Verjährung. Daneben erklärte er hilfsweise die Aufrechnung mit eigenen geltend gemachten Schadensersatzansprüchen gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens. Zugleich erhob er hilfsweise Widerklage gegen den Kläger und einen Drittwiderbeklagten und beantragte die Verurteilung des Klägers und des Drittwiderbeklagten in Höhe von 1.773,32 Euro wegen eines geltend gemachten eigenen Schadensersatzanspruchs. Im weiteren Verfahren erließ das Amtsgericht ein Teil-, Versäumnis- und Endurteil. Die Klage gegen den Beschwerdeführer wurde abgewiesen. Die Hilfswiderklage und die Hilfsdrittwiderklage des Beschwerdeführers wurden ebenfalls abgewiesen. Die Zweitbeklagte des Ausgangsverfahrens wurde wegen ihrer Säumnis durch Teilversäumnisurteil zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt. Zur Begründung für die Abweisung der Klage gegen den Beschwerdeführer sowie dessen Hilfswiderklage und Hilfsdrittwiderklage führte das Amtsgericht aus, dass der Klageforderung gegen den Beschwerdeführer bereits der vom Beschwerdeführer erhobene Einwand der Verjährung entgegenstehe. Über die Hilfswiderklage und die Hilfsdrittwiderklage des Beschwerdeführers sei zu entscheiden gewesen, da die Klageforderung nicht erst wegen der Hilfsaufrechnung unbegründet sei. Die Hilfswiderklage und die Hilfsdrittwiderklage seien jedoch unbegründet, da sich auch der Beschwerdeführer die Einrede der Verjährung entgegenhalten lassen müsse.
Gegen das Teilversäumnisurteil legte die Zweitbeklagte Einspruch ein. Der Beschwerdeführer legte Berufung gegen die Abweisung der Hilfswiderklage und der Hilfsdrittwiderklage ein. Er machte im Berufungsverfahren geltend, dass über die Hilfswiderklage und die Hilfsdrittwiderklage nicht hätte entschieden werden dürfen. Ausdrücklich habe er im ersten Rechtszug die Begründetheit der Klage zur Bedingung für die Erhebung der Widerklage und der Drittwiderklage gemacht. Diese Bedingung sei nicht eingetreten. Das Berufungsgericht hob auf die Berufung des Beschwerdeführers das Teil-, Versäumnis- und Endurteil des Amtsgerichts auf, soweit dort über die Hilfswiderklage und die Hilfsdrittwiderklage entschieden worden war, und wies die Sache zur Entscheidung über die weiteren Ansprüche des Klägers und über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich derjenigen des zweiten Rechtszugs an das Amtsgericht zurück.
Das Amtsgericht verhandelte sodann über den Einspruch der Zweitbeklagten des Ausgangsverfahrens gegen das Teilversäumnisurteil und erhob weiteren Beweis. Sodann verkündete es das mit der am 30. Juni 2005 erhobenen Verfassungsbeschwerde angegriffene und dem Beschwerdeführer am 30. Mai 2005 zugestellte Schlussurteil. Es hob das zuvor verkündete Teilversäumnisurteil auf und wies die Klage auch gegen die Zweitbeklagte des Ausgangsverfahrens ab. Von den Kosten des Rechtsstreits hatte die Zweitbeklagte vorab die durch ihre Säumnis im Termin entstandenen Kosten zu tragen. Die Kosten des zweiten Rechtszugs wurden gegeneinander aufgehoben. Die übrigen Kosten des Rechtsstreits wurden dem Kläger auferlegt. In den Entscheidungsgründen führte das Amtsgericht aus, warum die Klage gegen den Zweitbeklagten abzuweisen war. Zur Begründung der Kostenentscheidung führte es nur aus, dass die Nebenentscheidung auf den §§ 91, 92, 708 Nr. 11, § 711 ZPO beruhten.
Der Beschwerdeführer stellte daraufhin den Antrag auf Berichtigung des Urteils und erhob hilfsweise Gegenvorstellung. Er war der Auffassung, dass eine offenbare Unrichtigkeit vorliege, weil die Kosten des zweiten Rechtszugs auch dem Kläger vollständig hätten auferlegt werden müssen. Es sei willkürlich, ihm die Kosten des zweiten Rechtszugs teilweise aufzuerlegen, obwohl er in der Sache obsiegt habe.
Das Amtsgericht wies den Antrag auf Berichtigung des Schlussurteils zurück. Die Voraussetzungen für eine Berichtigung der Kostenentscheidung gemäß § 319 ZPO lägen nicht vor. Die im Schlussurteil getroffene Kostengrundentscheidung beruhe auf den §§ 91, 92 ZPO, der Tenor enthalte keine Schreibfehler, Rechenfehler oder ähnliche Unrichtigkeiten.
Entscheidungsgründe
II.
Der Beschwerdeführer greift mit der Verfassungsbeschwerde die Kostenentscheidung im Schlussurteil an, soweit die Kosten des zweiten Rechtszugs gegeneinander aufgehoben wurden und er insoweit mit Kosten des Berufungsverfahrens belastet wurde. Er rügt die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und aus Art. 3 Abs. 1 GG. Es sei willkürlich, ihn mit Kosten des zweiten Rechtszugs zu belasten. Er sei mit der Berufung erfolgreich gewesen. Er habe in dem Verfahren vollends obsiegt, so dass die Kosten des zweiten Rechtszugs auch voll dem Kläger des Ausgangsverfahrens hätten auferlegt werden müssen. Die Kostenentscheidung verstoße deshalb eklatant gegen die gesetzlichen Vorschriften. Es handele sich hier auch um eine krasse Fehlentscheidung des Gerichts.
III.
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ist gemäß § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG angezeigt. Das Schlussurteil des Amtsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
a) Die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist gewahrt.
b) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht auch nicht entgegen, dass diese sich (lediglich) gegen eine Kostenentscheidung richtet und nicht (auch) gegen die damit verbundene Entscheidung in der Hauptsache. Der Verfassungsbeschwerde fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis; denn der Beschwerdeführer hat in einem Fall wie diesem, in dem er sich lediglich gegen die Kostenentscheidung und nicht auch zugleich gegen die Hauptsacheentscheidung wendet, keine Möglichkeit, sich gegen eine selbständig in der Kostenentscheidung enthaltene Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte zur Wehr zu setzen (vgl. BVerfGE 74, 78 ≪90≫).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
a) Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Kostenentscheidung des Amtsgerichts verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
aa) Willkürlich ist ein Richterspruch, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung allerdings nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Eine Maßnahme ist willkürlich, die im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will, tatsächlich und eindeutig unangemessen ist (vgl. BVerfGE 83, 82 ≪84≫; 86, 59 ≪63≫). Schuldhaftes Handeln eines Richters ist nicht erforderlich (vgl. BVerfGE 87, 273 ≪278 f.≫; 89, 1 ≪13 f.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Mai 2004 – 1 BvR 2682/03 –, DAR 2004, S. 514).
bb) Gemessen an diesem Maßstab verstößt das Schlussurteil des Amtsgerichts gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot, soweit die Kosten des Berufungsverfahrens gegeneinander aufgehoben wurden. Die Kostenentscheidung ist der Prozesssituation nicht angemessen. Sie ist unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr verständlich. Das Amtsgericht ließ weder im Schlussurteil noch im Beschluss über die Zurückweisung des Berichtigungsantrags und der Gegenvorstellung erkennen, warum es trotz des Obsiegens des Beschwerdeführers in der Sache diesen mit den Kosten des Berufungsverfahrens teilweise belastete. Es liegt ein eindeutiger und nicht nachvollziehbarer Verstoß gegen die Grundsätze der Kostentragungspflicht nach den §§ 91 ff. ZPO vor. Nach der Aufhebung des Teilurteils hinsichtlich der Entscheidung über die Hilfswiderklage und Hilfsdrittwiderklage und der Zurückverweisung des Rechtsstreits insoweit an das Amtsgericht hatte dieses die Kosten des Rechtsstreits im Verhältnis zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens und dem Beschwerdeführer nach den Grundsätzen der §§ 91 ff. ZPO zu verteilen. Denn im Falle der Aufhebung und Zurückverweisung ist über die Kostentragungspflicht hinsichtlich der Kosten der Berufung nach den Grundsätzen der §§ 91 ff. ZPO zu entscheiden (vgl. Stein/Jonas-Bork, ZPO, 22. Aufl., § 91 Rz. 15; Thomas/Putzo-Hüßtege, ZPO, 27. Aufl., § 97 Rz. 9; Saenger, Handkommentar-ZPO-Gierl, § 97 Rz. 14; Zöller-Herget, ZPO, 25. Aufl., § 97 Rz. 7; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann-Hartmann, ZPO, 64. Aufl., § 97 Rz. 76). Da der Beschwerdeführer wegen der Klageabweisung voll obsiegte, hatte nicht er nach § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits einschließlich des Berufungsverfahrens zu tragen, sondern der Kläger als unterlegene Partei. Die offensichtlich einschlägige Norm des § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO wurde vom Amtsgericht bei der Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens nicht beachtet.
b) Da die Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG bereits die Aufhebung der angegriffenen Kostenentscheidung rechtfertigt, kann die Frage, ob auch eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) vorliegt, dahinstehen.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
4. Die Festsetzung des Gegenstandswerts für die anwaltliche Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in Verbindung mit den Grundsätzen für die Festsetzung des Gegenstandswerts im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 f.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Haas, Hömig, Bryde
Fundstellen