Tenor

Das Urteil des Berufsgerichtshofs für die Heilberufe vom 3. Dezember 1997 – BG II/3/97 – und das Urteil des Berufsgerichts für die Heilberufe in Schleswig vom 27. Mai 1997 – BG 26/96 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Das Verfahren wird an das Berufsgericht für die Heilberufe in Schleswig zurückverwiesen.

Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer ist Orthopäde und betätigt sich hauptsächlich als Gutachter. Er wendet sich gegen eine Verwarnung wegen Verletzung seiner Berufspflichten als Arzt.

I.

1. Im Januar 1994 untersuchte der Beschwerdeführer im Auftrag der Quelle-Versicherungen AG die Versicherte G. H., die im Mai 1993 bei einem Unfall einen Teileinriss der Achillessehne im rechten Bein erlitten hatte. In seinem Gutachten stellte der Beschwerdeführer unter anderem fest, es liege bei der Versicherten eine reguläre Verheilung vor.

Der die Versicherte behandelnde Orthopäde Dr. Sp. bescheinigte ihr demgegenüber im Juni und im Oktober 1994 eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % und eine zu erwartende Minderung der Erwerbsunfähigkeit von 30 %.

Daraufhin beauftragte die Quelle-Versicherungen AG den Beschwerdeführer erneut mit der Erstellung eines Gutachtens. In dem Gutachten heißt es: Es sei von einer vollständigen Wiederherstellung auszugehen. Es werde von Dr. Sp. nicht ein einziger harter nachzuvollziehender Befund vorgetragen, der seine Auffassung stützen könne. Untersuchungsergebnisse mittels Kernspintomographie würden von dem Orthopäden in das Gegenteil verkehrt; er behaupte, durch die Untersuchungen sei einerseits die vielleicht in Ausheilung befindliche, jedoch mit Sicherheit degenerativ verbliebene Achillessehne als geschädigt nachweisbar. Aus dieser Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse schließe er, dass sich daraus die Beschwerden und eine erhebliche Einschränkung des Geh- und Stehvermögens der Patientin ergäben. Wörtlich heißt es dann im Weiteren:

In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass derjenige Arzt, der leichtfertig Atteste ausstellt und Krankschreibungen attestiert, sich schadensersatzpflichtig gegenüber dem Kostenträger macht. Nach meiner Auffassung liegt ein solcher Fall vor.

Hätte Dr. Sp. diese Äußerungen gegenüber einer Versicherung gemacht, diese darauf eine materielle Entschädigung gestützt, so wäre der Orthopäde hierfür rechtlich zu belangen, weil seine Äußerung abseits jedweder vertretbaren medizinischen Kompetenz sind.

2. Auf die von der Ärztekammer Schleswig-Holstein erhobene berufsgerichtliche Klage erkannte das Berufsgericht durch Urteil gegen den Beschwerdeführer auf eine Verwarnung und führte aus: Der Beschwerdeführer habe durch diese Äußerungen gegen die in § 19 der Berufsordnung normierte Verpflichtung, dass Ärzte sich untereinander kollegial und rücksichtsvoll zu verhalten hätten, verstoßen. Diese Vorschrift diene der Volksgesundheit. Die juristische Bewertung der Behandlungsweise von Dr. Sp. und seiner medizinischen Auffassung sei unzulässig. Die beanstandeten Formulierungen gingen über eine sachliche Kritik hinaus. Der Beschwerdeführer habe unterstellt, dass Dr. Sp. in vorsätzlich sittenwidriger Weise oder in betrügerischer Absicht versucht habe, seine Patientin zu bereichern oder Beihilfe zum Betrug zu leisten. Eine derartige Äußerung liege außerhalb der durch die Gutachtertätigkeit gedeckten Meinungsäußerungsfreiheit und sei unkollegial. Der Beschwerdeführer hätte sich mit seinem Anliegen an die Ärztekammer wenden müssen. Der Berufsgerichtshof bestätigte die Entscheidung des Berufsgerichts.

3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere die Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG. Im berufsgerichtlichen Verfahren seien die beanstandeten Äußerungen unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite der Meinungsäußerungsfreiheit zu Unrecht als Schmähkritik eingestuft worden.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Das Verhältnis von Meinungsfreiheit und den ihre Ausübung beschränkenden Rechten und Rechtsgütern wie beispielsweise dem Ehrenschutz ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich geklärt (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪215 ff.≫; 85, 248 ≪263≫; 93, 266 ≪288 ff.≫). Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Ihre Annahme ist zur Durchsetzung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

1. Die beanstandeten Äußerungen fallen in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).

Dieses Grundrecht gewährleistet jedermann das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Werturteile sind ohne weiteres von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt, Tatsachenbehauptungen jedenfalls insoweit, als sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit schützt allerdings nicht die erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptung (BVerfGE 61, 1 ≪7 f.≫). Bei der Äußerung des Beschwerdeführers handelt es sich um die Bewertung eines tatsächlichen Vorgangs. Die von dem Beschwerdeführer im Zusammenhang mit der Begutachtung geäußerte rechtliche Bewertung des ärztlichen Verhaltens des Dr. Sp. enthält zumindest auch die Bewertung eines tatsächlichen Vorganges. Anhaltspunkte dafür, dass die tatsächlichen Bestandteile der Äußerung von dem Beschwerdeführer bewusst der Wahrheit zuwider behauptet wurden, liegen nicht vor.

2. Die Verwarnung des Beschwerdeführers bewirkt einen Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts, der nicht durch die Schranken der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG) gerechtfertigt ist. Zu diesen Schranken gehören auch § 19 Abs. 1 der Berufsordnung der Ärztekammer Schleswig-Holstein vom 16. März 1994 und § 2 des Gesetzes über die Berufsgerichtsbarkeit der Heilberufe vom 22. Februar 1954.

Die Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften ist Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte. Diese haben jedoch das eingeschränkte Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG zu beachten; dessen wertsetzende Bedeutung muss auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleiben (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪208 f.≫). Im Zuge der Normanwendung verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die dem von der einschränkenden Norm geschützten Rechtsgut auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite droht. Voraussetzung jeder Abwägung ist, dass der Sinn einer Äußerung zutreffend erfasst wird. Der Einfluss des Grundrechts auf Meinungsfreiheit wird verkannt, wenn die Gerichte sich unter mehreren objektiv möglichen Deutungen für die zur Verurteilung führende entscheiden, ohne die anderen ohne Angabe überzeugender Gründe auszuschließen (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪295 f.≫; stRspr).

3. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht.

a) Bereits die Deutung der beanstandeten Äußerungen ist zu beanstanden. Nach dem Verständnis des Berufsgerichts hat der Beschwerdeführer seinem Berufskollegen Dr. Sp. unterstellt, er habe in vorsätzlich sittenwidriger Weise oder in betrügerischer Absicht versucht, seine Patientin zu bereichern oder Beihilfe zum Betrug zu leisten. Dass diese Bemerkungen aber nur in diesem Sinne zu verstehen sind, hat es nicht nachvollziehbar dargelegt. Der Beschwerdeführer hatte formuliert, eine Schadensersatzpflicht von Dr. Sp. sei gegenüber dem Kostenträger gegeben, weil er nach seiner Auffassung leichtfertig Atteste und Krankschreibungen ausgestellt habe. Leichtfertiges Handeln bedeutet gedankenloses fahrlässiges Verhalten und nicht vorsätzliches oder sogar sittenwidriges Handeln in betrügerischer Absicht. Der Beschwerdeführer war der Auffassung, Dr. Sp. wäre rechtlich zu belangen, hätte er seine ärztliche Bescheinigung gegenüber einer Versicherung abgegeben und diese darauf eine materielle Entschädigung gestützt. Die unpräzise Formulierung „rechtlich zu belangen” verweist indes nicht zwingend auf den Vorwurf sittenwidrigen oder sogar strafbaren Verhaltens, etwa eines Handelns in betrügerischer Absicht. Darauf aber ist die Verwarnung gestützt worden.

b) Das Berufsgericht hat ferner die gebotene fallbezogene Abwägung zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem Rechtsgut, dessen Schutz die einschränkende Norm bezweckt, nicht vorgenommen.

Eine derartige Abwägung war auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Schmähkritik entbehrlich. Liegt Schmähkritik vor, muss die Meinungsfreiheit allerdings stets zurücktreten (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪293 f.≫). Schmähkritik ist eine Äußerung nur dann, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern jenseits auch polemischer oder überstürzter Kritik die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl. BVerfGE 82, 272 ≪283 f.≫; stRspr). So liegt es hier aber nicht. Bei den Äußerungen des Beschwerdeführers handelt es sich nicht um eine Beschimpfung ohne Bezug zu der ärztlichen Tätigkeit von Dr. Sp., sondern um Wertungen, die sich darauf unmittelbar beziehen.

Das Berufsgericht hat zwar erkannt, dass § 19 der Berufsordnung der Erhaltung des Vertrauens in den Berufsstand des Arztes und darüber auch der Gesundheit der Patienten dient. In die Abwägung mit der Meinungsfreiheit ist daher das Schutzgut des Vertrauenserhalts einzubeziehen (vgl. dazu auch BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 2000, S. 3413 ≪3415≫; BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 2002, S. 1864 ≪1866≫). Dies aber hat das Gericht unterlassen. Es hebt allein auf den fehlenden inneren Zusammenhang mit dem Gutachtenauftrag ab.

Zu der Frage, in welchem Maße durch die Äußerungen das notwendige Vertrauen der Patienten zu ärztlichem Tun konkret beeinträchtigt werden könnte, enthält das angegriffene Urteil keine Ausführungen (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 2000, S. 3413 ≪3415≫). Die beanstandeten Äußerungen hatte der Beschwerdeführer allein gegenüber der privaten Unfallversicherung gemacht; nur die mit der Sache befassten Mitarbeiter der Unfallversicherung sowie die Versicherte erhielten davon Kenntnis. Der Vertrauensverlust bei dem Mitarbeiter der Versicherung dürfte auf Grund der gegebenen Sachkunde und Berufserfahrung eher als marginal einzustufen sein. Es ist auch nichts dafür dargetan, dass es für die Versicherte erheblich ist, ob die Kritik an Dr. Sp. zusätzlich zu der medizinischen Bewertung auch die rechtliche Würdigung eines juristischen Laien erfahren hat.

c) Das Urteil des Berufsgerichtshofs enthält zu den hier interessierenden Punkten keine über die Entscheidung des Berufsgerichts hinausgehenden Erwägungen. Der Berufsgerichtshof hat insoweit zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen des Berufsgerichts Bezug genommen.

4. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Gerichte bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden Vorgaben zu anderen Ergebnissen gekommen wären, beruhen die angegriffenen Entscheidungen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Da diese Entscheidungen keinen Bestand haben, braucht der Frage nicht nachgegangen zu werden, ob mit ihnen auch gegen die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) verstoßen wurde. Die Entscheidungen sind daher aufzuheben und die Sache ist an das Berufsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

5. Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Papier, Steiner, Hoffmann-Riem

 

Fundstellen

Haufe-Index 1267301

NJW 2003, 961

JuS 2003, 1023

MedR 2003, 296

VersR 2003, 1517

IVH 2003, 7

JURAtelegramm 2003, 196

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