Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Verfahrensgang
LG Augsburg (Beschluss vom 22.12.2008; Aktenzeichen 6 Qs 802/08) |
AG Augsburg (Beschluss vom 28.10.2008; Aktenzeichen 1 Gs 2897/08) |
Tenor
1. Die Vollziehung der Beschlüsse des Amtsgerichts Augsburg vom 28. Oktober 2008 – 1 Gs 2897/08 – und des Landgerichts Augsburg vom 22. Dezember 2008 – 6 Qs 802/08 – wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde – längstens für die Dauer von sechs Monaten – ausgesetzt.
2. Der Freistaat Bayern hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen für das Verfahren der einstweiligen Anordnung zu ersetzen.
3. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, soweit er sich auf das Verfahren der einstweiligen Anordnung bezieht.
Tatbestand
I.
1. Der Antragsteller ist durch rechtskräftige Entscheidung des Amtsgerichts Augsburg vom 20. Oktober 2005 wegen Unterschlagung in Tateinheit mit Verletzung des Briefgeheimnisses in Tatmehrheit mit Bedrohung in Tatmehrheit mit versuchter Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Mit Beschluss vom 28. Oktober 2008 ordnete das Amtsgericht Augsburg gegen den Antragsteller die Entnahme einer Speichelprobe oder einer Blutprobe und die molekulargenetische Untersuchung der dadurch erlangten Körperzellen zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren gemäß § 81 f, § 81 g, § 162 Abs. 1 StPO an. Zur Begründung führte das Gericht aus:
Der Betroffene wurde […] zur Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr mit Bewährung […] verurteilt. […]
Die molekulargenetische Untersuchung dieses Spurenmaterials zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters sowie des Geschlechts ist zum Zweck der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren erforderlich.
Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
Weil wegen der Art der Tat, wegen der Ausführung der Tat und wegen der Persönlichkeit des Betroffenen Grund zu der Annahme besteht, dass gegen den Betroffenen künftig erneute Strafverfahren wegen einer der in § 81g StPO genannten Straftaten zu führen sind.
Der Betroffene hat eine Vielzahl von Straftaten begangen, bei denen (z. B. Unterschlagung) auch mit Hinterlassung von DNA-Spuren zu rechnen ist. Die Voraussetzungen gem. § 81g Abs. 1 S. 2 StPO liegen vor.
Über die Beschwerde des Antragstellers entschied das Landgericht Augsburg mit Beschluss vom 22. Dezember 2008 wie folgt:
Die Beschwerde des Betroffenen […] wird aus den im angefochtenen Beschluss angeführten, durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräfteten Gründen kostenpflichtig verworfen.
Die Voraussetzungen des § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO liegen vor.
2. Mit der am 6. Februar 2009 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Antragsteller die Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG. Er beantragt, die Vollziehung der im Tenor genannten Beschlüsse im Wege der einstweiligen Anordnung auszusetzen. Ferner beantragt er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
Entscheidungsgründe
II.
1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 103, 41 ≪42≫; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 99, 57 ≪66≫; stRspr).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
a) Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters greifen in das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein (vgl. BVerfGE 103, 21 ≪32 f.≫). Die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung des § 81g StPO gehalten, die Bedeutung und Tragweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung angemessen zu berücksichtigen. Deswegen muss das Gericht im Fall einer Anordnung nach § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO einzelfallbezogen darlegen, warum die wiederholte Begehung sonstiger Straftaten im Unrechtsgehalt einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichsteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 2007 – 2 BvR 1293/07 –, juris, Rn. 5). Es bedarf ferner einer Darlegung positiver, auf den Einzelfall bezogener Gründe, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftaten, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Weiter erhöhte Begründungsanforderungen bestehen, wenn ein anderes Gericht bereits im Rahmen der Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung eine günstige Sozialprognose getroffen hat (vgl. nur BVerfGE 103, 21 ≪35 ff.≫).
b) Dass die angefochtenen Entscheidungen diesen Anforderungen genügen, erscheint zweifelhaft. Einzelfallbezogene Erwägungen der beschriebenen Art finden sich in den beiden Beschlüssen nämlich nicht.
3. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so könnte die Anordnung der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen des Antragstellers in der Zwischenzeit vollzogen werden. Der mit einer solchen Vollziehung verbundene Eingriff in die Grundrechte des Antragstellers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG könnte auch durch eine spätere Löschung der erhobenen Daten nicht vollends rückgängig gemacht werden.
b) Gegenüber diesem irreparablen Rechtsverlust, der dem Antragsteller droht, wiegen die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde aber später keinen Erfolg hätte, weniger schwer. Zwar könnte in diesem Fall die gegen den Antragsteller ergangene Anordnung der Entnahme und Untersuchung von Körperzellen vorübergehend nicht vollzogen werden. Es ist aber nicht ersichtlich, dass wegen dieser Verzögerung ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre. Auf der Grundlage der angefochtenen Beschlüsse und des Beschwerdevortrags ist davon auszugehen, dass der Antragsteller seit 2005 ein straffreies Leben führt. Vor diesem Hintergrund haben offenbar auch die Strafverfolgungsbehörden die Entnahme und molekulargenetische Untersuchung von Körperzellen des Antragstellers nicht als besonders dringlich eingestuft. Die Anordnung der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen erfolgte erst ca. drei Jahre nach rechtskräftiger Aburteilung der Anlasstat.
4. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, soweit er sich auf das Verfahren der einstweiligen Anordnung bezieht.
Unterschriften
Di Fabio, Lübbe-Wolff, Landau
Fundstellen