Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstellung des Strafverfahrens. Körperliche Unversehrtheit. Durchführung der Hauptvrhandlung
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Zwischenurteil vom 24.07.2001; Aktenzeichen 6 KLs 180 Js 31000/96) |
Tenor
Der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 24. Juli 2001 – 6 KLs 180 Js 31000/96 – verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Stuttgart zurückverwiesen.
Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Strafverfahren einzustellen ist, wenn zu befürchten ist, dass die Durchführung der Hauptverhandlung das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Beschuldigten gefährden würde.
I.
Der 66 Jahre alte Beschwerdeführer, ein portugiesischer Staatsangehöriger, wurde auf Grund internationalen Haftbefehls in Spanien festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert. Das Landgericht Stuttgart eröffnete gegen ihn wegen des Vorwurfs, er habe in 101 Fällen Kapitalanleger betrogen und dadurch einen Gesamtschaden von über 100 Mio. DM verursacht, die Hauptverhandlung; wegen weiterer neun Fälle erstrebt die Staatsanwaltschaft Stuttgart eine Nachauslieferung.
Da der Beschwerdeführer an einer schwer wiegenden Herzinsuffizienz (NYHA III – IV) sowie an einer koronaren 1-Gefäßerkrankung, einem Diabetes mellitus und einer arteriellen Hypertonie leidet, ordnete das Landgericht auf seinen Antrag die Einholung eines internistisch-kardiologischen Sachverständigengutachtens zur Feststellung seiner Verhandlungsfähigkeit an. In den Gründen des Beschlusses betonte das Landgericht, da das durchzuführende Strafverfahren äußerst schwierig und umfangreich sei, die Staatsanwaltschaft beabsichtige, gegen den bestreitenden Beschwerdeführer die Verhängung von Sicherungsverwahrung zu beantragen, und ein abgekürztes Verfahren angesichts der gegensätzlichen Positionen von Staatsanwaltschaft und Angeschuldigtem als fern liegend erscheine, müssten ca. 600 Zeugen vernommen und „unzählige” Urkunden in den Prozess eingeführt werden. Durch den Umstand, dass der Beschwerdeführer kein Deutsch spreche und daher ein Dolmetscher für die englische Sprache erforderlich sei, werde das Verfahren auch in zeitlicher Hinsicht zusätzlich erschwert. Bei der von dem den Beschwerdeführer im Justizvollzugskrankenhaus behandelnden Arzt vorgeschlagenen Verfahrensweise von zwei bis maximal drei Verhandlungstagen zu je drei Stunden pro Woche müsse von einer mehrjährigen Verhandlungsdauer ausgegangen werden. Hierbei sei noch nicht berücksichtigt, dass die Staatsanwaltschaft möglicherweise Nachtragsanklage wegen weiterer Vorwürfe des Betrugs im Umfang von weiteren 80 Mio. DM erhebe, sollte die Nachtragsauslieferung bewilligt werden.
Die mit der Erstellung des Gutachtens beauftragten medizinischen Sachverständigen bestätigen in ihrem schriftlichen Gutachten vom 22. Juli 2001 die genannten Krankheiten des Beschwerdeführers: In erster Linie leide er unter einer ausgeprägten, durch Pumpschwäche und Vergrößerung des linken Herzens begründeten Herzinsuffizienz, die trotz ausgedehnter medikamentöser Behandlung voranschreite und zu schwersten Atemnotanfällen mit Erstickungsängsten führe. Diese Herzmuskelschwäche, die nicht auf die gleichzeitig bestehende, mit rezidivierenden Angina Pectoris-Anfällen verbundene, koronare Herzerkrankung zurückzuführen sei, habe innerhalb des letzten Jahres zu einer Undichtigkeit der Einflussherzklappe für das linke Herz und zu einer Vergrößerung der übrigen Herzkammern mit Rückstau des Blutes bis in die Leber geführt. Überlebensangaben für Patienten mit derart fortgeschrittener Herzinsuffizienz fänden sich in der Literatur von 50 % für einen Zeitraum zwischen zwei im kürzesten und sieben Jahren im längeren Fall.
Die Verhandlungsfähigkeit sei – wie in einem Vorgutachten des Leitenden Arztes der Abteilung für Innere Medizin des Justizvollzugskrankenhauses L. empfohlen – auf eine maximale Verhandlungszeit von zwei Mal je anderthalb Stunden an drei Tagen in der Woche beschränkt. Voraussetzung sei dabei, dass die Verbringung in den Gerichtssaal mit keinerlei körperlicher Anstrengung verbunden sei und der Beschwerdeführer die Möglichkeit einer halb sitzenden/halb liegenden Position während der Verhandlung habe. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen sei eine Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers mit über 50 % Wahrscheinlichkeit nur für das nächste viertel bis halbe Jahr vorhersagbar. Selbstverständlich führe die naturgemäß auftretende psychische Belastung während einer Verhandlung zu einer kardialen Mehrbelastung, insbesondere bei gleichzeitig bestehendem Bluthochdruck. Durch eine adäquate und vor allem auch regelmäßige Medikamentenbehandlung könne aber in den meisten Fällen eine befriedigende Einstellung gefunden werden. Gleichwohl fördere psychische Erregung bei Patienten mit erheblich vorgeschädigtem linken Herzen das Auftreten von gravierenden Herzrhythmusstörungen, die eine der Haupttodesursachen solcher Patienten darstellten. Da sie aber häufig auch durch Erregungen bzw. Stresshormonausschüttung im täglichen Leben, während alltäglicher psychischer Belastungssituationen (von Telefonaten bis Fußballspielen im Fernsehen) auftreten könnten, seien sie aus Sicht der Gutachter im Wesentlichen dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen. Die Gefahr für den Beschwerdeführer, in einer psychischen Stresssituation während der Verhandlung lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen zu erleiden, bestehe – wie einer der Sachverständigen später fernmündlich erläuterte – jederzeit; eine solche Komplikation führe dann selbst bei sofort eingeleiteter Defibrillation in 50 % der Fälle zum sofortigen Tod. Von einer hohen Wahrscheinlichkeit bzw. nahe liegenden konkreten Gefahr, dass der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung Herzrhythmusstörungen erleiden werde, könne man aber nicht sprechen; mehr als 50 % Wahrscheinlichkeit könne man nicht geben.
In dem schriftlichen Gutachten vom 22. Juli 2001 heißt es weiter, die ausgeprägte Herzinsuffizienz begründe angesichts des vom Gericht dargestellten langen Verlaufs des zu erwartenden Prozesses eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer während des laufenden Prozesses versterbe, da – je nach Studie – 50 % derartiger Patienten nach zwei bis sieben Jahren verstorben seien. Dieser Zeitraum beginne – so eine weitere fernmündliche Erläuterung des Sachverständigen – ab der ersten massiven Störung, die beim Beschwerdeführer erstmals vor ca. einem Jahr festgestellt worden sei, so dass sich bei ihm die genannte statistische Frist bereits um ein Jahr verkürzt habe. Nach dem Urteil der Gutachter muss wegen der fortschreitenden Herzschwäche während des Prozessverlaufs zudem mit andauernden Krankenhausaufenthalten gerechnet werden.
Die vorstehende Einschätzung teilt auch der den Beschwerdeführer im Justizvollzugskrankenhaus behandelnde Arzt.
Mit Schriftsatz vom 2. Juli 2001 beantragte der Beschwerdeführer, das Verfahren wegen seiner in dem Gutachten des S. festgestellten krankheitsbedingten dauerhaften Verhandlungsunfähigkeit einzustellen.
Das Landgericht lehnte eine Verfahrenseinstellung durch Beschluss vom 24. Juli 2001 mit der Begründung ab, der Beschwerdeführer sei – wenn auch nur eingeschränkt – verhandlungsfähig. Nach den vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 19. Juni 1979 (BVerfGE 51, 324 ≪343 ff.≫) aufgestellten Grundsätzen läge eine die Verfahrenseinstellung rechtfertigende Gefährdung der Grundrechte des Beschwerdeführers nur dann vor, wenn ernsthaft zu befürchten wäre, dass er bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwer wiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde. Für die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten aus rechtlicher Sicht sei zunächst maßgeblich, dass sowohl der Sachverständige L. als auch die Professoren S. und H. eine sachlich und zeitlich auf maximal ein halbes Jahr begrenzte Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers bejaht hätten. Die Dauer des Verfahrens könne gegenwärtig noch nicht abschließend vorhergesehen werden. Der Angeklagte bestreite den Tatvorwurf. Die Staatsanwaltschaft wolle bislang das Verfahren in vollem Umfang gegen den Beschwerdeführer betreiben und auch noch weitere Tatvorwürfe gegen ihn verfolgen, die noch nicht Gegenstand der Anklage seien. Eine vollumfängliche streitige Hauptverhandlung würde voraussichtlich ein mehrjähriges Großverfahren bedeuten. Ob das Verfahren unter diesen Umständen gleichwohl doch noch im Einvernehmen mit den Verfahrensbeteiligten oder etwa durch großzügige Verfahrensabtrennung wenigstens teilweise zum Abschluss gebracht werden könne, werde erst in der Hauptverhandlung zu klären sein. Deshalb müsse die Kammer bei der Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers auch die Möglichkeit einer relativ kurzen Hauptverhandlungsdauer in Betracht ziehen, für die – unter den angeführten Einschränkungen – aus ärztlicher Sicht die Durchführung der Hauptverhandlung für möglich erachtet werde.
Eine ernsthafte konkrete Leibes- oder Lebensgefahr des Beschwerdeführers, die bereits im gegenwärtigen Verfahrensstadium eine Verfahrenseinstellung erlauben und gebieten würde, liege nicht vor. Soweit im Gutachten der Professoren S. und H. ausgeführt sei, dass psychische Erregungen auch allgemeiner Natur bei dem Krankheitsbild des Beschwerdeführers für das Auftreten von gravierenden Herzrhythmusstörungen förderlich seien, diese Herzrhythmusstörungen die hauptsächliche Todesursache für solche Patienten darstellten und mit ihrem Auftreten jederzeit, auch in der Hauptverhandlung, gerechnet werden müsse, sei diese Gefahr – der medizinischen Einordnung der Gutachter folgend – dem Bereich des allgemeinen Lebensrisikos zuzuordnen, stelle also nach den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätzen ein vom Beschwerdeführer im Interesse einer wirksamen Rechtspflege hinzunehmendes Risiko dar. Nach der ergänzenden sachverständigen Äußerung sei der Beschwerdeführer zwar „potentiell gefährdet”, eine lebensbedrohliche Herzrhythmusstörung zu bekommen; jedoch liege eine hohe Wahrscheinlichkeit hierfür nicht vor, von einer konkreten Gefahr könne man nicht sprechen.
II.
Gegen den eine Verfahrenseinstellung ablehnenden Beschluss richtet sich die Verfassungsbeschwerde, mit der der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG rügt. Die Annahme des Landgerichts, er sei verhandlungsfähig, beruhe auf einer Verkennung der vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 19. Juni 1979 (BVerfGE 51, 324 ff.) aufgestellten verfassungsrechtlichen Grundsätze.
1. Die Zuordnung der dem Beschwerdeführer jederzeit – auch in der Hauptverhandlung – drohenden Gefahr, lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen zu erleiden, zum Bereich des allgemeinen, im Interesse einer wirksamen Rechtspflege hinzunehmenden Lebensrisikos, sei falsch und verfehle die auf die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts abstellenden verfassungsrechtlichen Vorgaben. Für den Beschwerdeführer bestehe nicht nur eine – nach den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätzen hinzunehmende – Möglichkeit, infolge einer bei Durchführung der Hauptverhandlung – angesichts der schwer wiegenden Vorwürfe, der zu erwartenden langjährigen Freiheitsstrafe und der von der Staatsanwaltschaft angestrebten Sicherungsverwahrung – zu erwartenden erheblichen Erregung lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen zu erleiden, sondern eine weit über den Normalfall hinausgehende Wahrscheinlichkeit, die der Sachverständige mit 50 % veranschlage. Dessen medizinische Einschätzung, es handele sich insoweit nicht um eine hohe Wahrscheinlichkeit bzw. nahe liegende konkrete Gefahr, sei für die rechtliche Beurteilung, ob eine ernsthafte Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers der Fortsetzung des Strafverfahrens entgegenstehe, unerheblich. Eine solche ernsthafte Gefährdung müsse bejaht werden, wenn – statistisch gesehen – von zwei Angeklagten mit dem Krankheitsbild des Beschwerdeführers einer eine lebensbedrohliche Komplikation erleide, die er mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % nicht überlebe.
2. Auch sei zu berücksichtigen, dass das Landgericht den Beschwerdeführer diesem erheblichen Risiko aussetzen wolle, obwohl allenfalls eine vage Hoffnung bestehe, innerhalb der ihm zumutbaren Zeitspanne eine Verfahrensbeendigung durch Urteil zu erreichen. Die Einschätzung, in der Hauptverhandlung werde sich klären lassen, ob das Verfahren nicht doch innerhalb kurzer Zeit abgeschlossen werden könne, entbehre jeglicher Grundlage. In dem angegriffenen Beschluss weise das Landgericht selbst darauf hin, dass der Beschwerdeführer den Tatvorwurf bestreite und die Staatsanwaltschaft das Verfahren in vollem Umfang gegen ihn betreiben und auch noch weitere Tatvorwürfe gegen ihn verfolgen wolle, so dass eine vollumfängliche streitige Hauptverhandlung voraussichtlich ein mehrjähriges Großverfahren bedeuten werde. Das Landgericht beabsichtige also, ihn einer erheblichen Lebensgefahr auszusetzen, obwohl das Verfahren aller Voraussicht nach zu keinem Ergebnis führen werde.
III.
Das Land Baden-Württemberg hat von der Möglichkeit, eine Stellungnahme im Verfassungsbeschwerde-Verfahren abzugeben, keinen Gebrauch gemacht.
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§§ 93b, 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden; die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
I.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Die mangelnde Erschöpfung des Rechtswegs steht dem nicht entgegen. Dem Beschwerdeführer droht nach seinem auf das vom Landgericht eingeholte Sachverständigengutachten gestützten Vorbringen bei Durchführung der Hauptverhandlung ein mit stressbedingten Herzrhythmusstörungen verbundenes, in der Hälfte der Fälle tödliches Kammerflimmern, also eine später nicht mehr zu behebende Grundrechtsbeeinträchtigung. Unter diesen Umständen kann ihm nicht zugemutet werden, vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde zunächst den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten und gegebenenfalls im Revisionsrechtszug zu rügen, dass die Hauptverhandlung vor der Strafkammer nicht hätte stattfinden dürfen (§ 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG; vgl. BVerfGE 51, 324 ≪342 f.≫).
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.
Der angegriffene Beschluss verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).
1. Nach den vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 19. Juni 1979 (vgl. BVerfGE 51, 324 ≪343 f.≫) entwickelten Grundsätzen rechtfertigt die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine wirksame Rechtspflege zu gewährleisten und zu diesem Zweck das Strafverfahren auch gegen „Manipulationen” von Seiten des Beschuldigten zu sichern, nicht in jedem Fall eines hinreichenden Tatverdachts die Durchführung eines Strafverfahrens (vgl. a.a.O., S. 344/345). Vielmehr ist, wenn angesichts des Gesundheitszustands des Beschuldigten zu befürchten ist, dass er bei Durchführung des Strafverfahrens sein Leben einbüßen oder schwer wiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen werde, das Spannungsverhältnis zwischen der Verpflichtung zu einer wirksamen Rechtspflege und dem rechtsstaatlichen Gebot, die Grundrechte des Beschuldigten zu wahren, nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch eine insbesondere Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens sowie Art und Intensität der zu befürchtenden Schädigung berücksichtigende Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen (vgl. a.a.O., S. 345/346). Besteht die nahe liegende, konkrete Gefahr, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder einen schwer wiegenden, irreparablen Schaden an seiner Gesundheit nehmen werde, so verletzt ihn die Durchführung des Verfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Unter diesen Umständen ist eine Grundrechtsgefährdung einer Grundrechtsverletzung gleich zu achten (vgl. a.a.O., S. 346/347).
Dabei kann allerdings nur eine hinreichend sichere Prognose über den Schadenseintritt die Einstellung des Verfahrens vor der Verfassung rechtfertigen: Die unterhalb der Wahrscheinlichkeitsgrenze liegende bloße Möglichkeit des Todes oder einer gesundheitlichen Schädigung des Beschuldigten berechtigt das Gericht nicht, von der Durchführung der Hauptverhandlung Abstand zu nehmen. Diese stellt auch für den gesunden Beschuldigten regelmäßig eine erhebliche psychische und oftmals auch eine nicht geringe physische Belastung dar. Die Möglichkeit, dass er solchen Anspannungen nicht gewachsen ist, lässt sich letztlich niemals ausschließen. Derartige Risiken sind unvermeidbar und müssen im Interesse einer wirksamen Rechtspflege hingenommen werden (vgl. a.a.O., S. 348).
Die Grenze, bis zu der aus verfassungsrechtlicher Sicht in Kauf genommen werden kann und muss, dass die Durchführung der Hauptverhandlung das Leben oder die Gesundheit des Beschuldigten gefährden würde, wird nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch einen spezifischen Wahrscheinlichkeitsgrad gekennzeichnet, der sich regelmäßig einer genaueren Quantifizierung entziehen dürfte, aber jedenfalls nicht unerheblich unterhalb einer mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit liegt (vgl. a.a.O., S. 349). Das Gericht betont in diesem Zusammenhang, dass die Entscheidung des Strafrichters über die Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten nicht schon dann verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, wenn er ihr einen unbedenklichen, den Normen und Prinzipien des Grundgesetzes Rechnung tragenden Maßstab zugrundelegt. Vielmehr muss der Richter in Anwendung dieses Maßstabs die für seine Entscheidung maßgebenden Gesichtspunkte gegeneinander abwägen, wobei dem unterschiedlichen Gewicht der einzelnen Abwägungselemente für das zu findende Ergebnis entscheidende Bedeutung zukommen kann. Dazu gehört die Berücksichtigung aller wesentlichen persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls.
2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht.
Die vom Landgericht vorgenommene Zuordnung der dem Beschwerdeführer nach den sachverständigen Feststellungen bei Durchführung der Hauptverhandlung drohenden Gefahr, lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen zu erleiden, zum Bereich des generell hinzunehmenden allgemeinen Lebensrisikos ist mit den vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hergeleiteten Grundsätzen unvereinbar. Denn danach hängt die Entscheidung darüber, ob einem Beschuldigten mit der Durchführung einer Hauptverhandlung für ihn verbundene schwer wiegende Gesundheitsgefahren unzumutbar sind, von der Höhe der Wahrscheinlichkeit ab, mit der ein Schadenseintritt zu erwarten ist. Demgegenüber hat das Landgericht seine Einschätzung, der Beschwerdeführer habe die ihm drohende Gefahr hinzunehmen, in der Hauptverhandlung lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen zu erleiden, darauf gestützt, dass die Gefahr einer solchen Komplikation für ihn auch in Alltagssituationen bestehe und daher – der medizinischen Einordnung der Gutachter folgend – zu seinem allgemeinen Lebensrisiko gehöre. Das Landgericht hat die Frage der Zumutbarkeit also schon vor, d. h. außerhalb der nach den vorstehenden verfassungsrechtlichen Grundsätzen gebotenen Wahrscheinlichkeitsprognose beantwortet und den vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Entscheidungsmaßstab durch eine von den ärztlichen Sachverständigen übernommene medizinische Bewertung ersetzt.
Der angegriffene Beschluss genügt den vom Bundesverfassungsgericht im 51. Entscheidungsband an die Interessenabwägung gestellten Anforderungen auch nicht deswegen, weil ch das Landgericht in den weiteren Beschlussgründen der Bewertung des Sachverständigen S. anschließt, es liege nur eine potentielle, keine konkrete Gefährdung des Beschwerdeführers bzw. keine hohe Wahrscheinlichkeit einer lebensbedrohlichen Komplikation vor. Denn das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich hervorgehoben, dass der Strafrichter seiner Entscheidung über die Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten nicht nur einen unbedenklichen, den Normen und Prinzipien des Grundgesetzes entsprechenden Maßstab zugrundelegen muss, sondern darüber hinaus in Anwendung dieses Maßstabs die für seine Entscheidung maßgebenden Gesichtspunkte umfassend gegeneinander abzuwägen und dabei die einzelnen Abwägungselemente zu gewichten hat. Daher hätte sich das Landgericht nicht darauf beschränken dürfen, die medizinische Wahrscheinlichkeitsbeurteilung des Sachverständigen zu übernehmen; es hätte vielmehr die von diesem durch Zahlenangaben konkretisierte Schadensprognose nach den vorgenannten verfassungsrechtlichen Grundsätzen selbständig rechtlich würdigen müssen.
Auf diesen Verfassungsverstößen beruht die angegriffene Entscheidung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht bei Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze die Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers verneint und das Strafverfahren eingestellt hätte.
Ob die Entscheidung auch deshalb verfassungsrechtlich zu beanstanden ist, weil das Landgericht die bei regulärem Ablauf der Hauptverhandlung zu erwartende Dauer des anstehenden Strafverfahrens nicht hinreichend berücksichtigt hat, kann hiernach dahinstehen.
Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Broß, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 645130 |
NJW 2002, 51 |
NStZ 2002, 101 |
NPA 2002, 0 |
StV 2001, 659 |