Verfahrensgang
OLG Rostock (Beschluss vom 08.02.2012; Aktenzeichen I Ws 6-7/12) |
LG Rostock (Beschluss vom 20.12.2011; Aktenzeichen 18 StVK 601/11) |
Tenor
Dem Beschwerdeführer wird wegen der Versäumung der Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 8. Februar 2012 – I Ws 6-7/12 – und der Beschluss des Landgerichts Rostock vom 20. Dezember 2011 – 18 StVK 601/11 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse werden aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Rostock zurückverwiesen.
Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung.
I.
1. Der mehrfach einschlägig vorbestrafte Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Rostock im März 2004 wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit Diebstahl und vorsätzlicher Körperverletzung und wegen räuberischer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Neben der Strafe wurde die Sicherungsverwahrung angeordnet. Der Beschwerdeführer hatte insbesondere einem Geschädigten, der danach drei Tage lang stationär in einer Zahnklinik behandelt werden musste, das Portemonnaie sowie das Mobiltelefon weggenommen und ihn drei bis vier Mal mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Außerdem hatte der Beschwerdeführer einen arglosen Geschädigten, der gerade sein Fahrrad aufschließen wollte, mit dem Fuß ins Gesicht getreten, wobei er Turnschuhe getragen hatte. Sodann hatte er ihn mit dem Tode bedroht und Geld von ihm gefordert. In beiden Fällen war der Beschwerdeführer erheblich alkoholisiert gewesen, ohne hierdurch jedoch in seiner Einsichtsfähigkeit oder Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt gewesen zu sein.
2. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) entschied das Landgericht Rostock im August 2011, die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung auszusetzen. Als Auflage wurde unter anderem erteilt, der Beschwerdeführer dürfe keine alkoholischen Getränke oder andere berauschende Mittel („Drogen”) zu sich nehmen und müsse alle zwei Tage zum Nachweis seiner Abstinenz eine Atemalkoholkontrolle durchführen lassen.
3. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft wurde vom Oberlandesgericht Rostock mit Beschluss vom 10. Oktober 2011 als unbegründet verworfen. Gerade wegen der Einordnung der Anlassdelikte „am unteren Rand der Bandbreite” der schweren Gewalttaten sei ein besonders hohes Rückfallrisiko für die Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Sicherungsverwahrung erforderlich. Ein solches Risiko sei unter anderem deshalb nicht anzunehmen, weil der Verurteilte bereit sei, an Maßnahmen zur Verhinderung von Substanzmittelmissbrauch aktiv mitzuwirken.
4. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 20. Dezember 2011 widerrief das Landgericht Rostock die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung wegen eines „gröblichen und beharrlichen” Weisungsverstoßes. Der Beschwerdeführer habe Alkohol getrunken und bei der Atemalkoholkontrolle behauptet, der Atemalkohol sei auf die Benutzung eines Asthmasprays zurückzuführen, was durch eine Blutalkoholkontrolle widerlegt worden sei. Laut den Schilderungen seiner früheren Verlobten gegenüber Polizeibeamten sowie in einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung habe er bereits am Tag der Haftentlassung Alkohol getrunken. Außerdem habe er sie einmal halb über den Rand des Balkons gehalten und ihr mit dem Hinunterwerfen gedroht, weil sie ihm ihr Mobiltelefon nicht habe geben wollen. Ein anderes Mal habe er sie gewürgt und an die Wand gestoßen. Wiederum ein anderes Mal habe er mit einer Nagelschere auf ihren Hals einstechen wollen und ihr dann in die Rippen getreten, wodurch sie einen Rippenbruch erlitten habe. Er sei dabei stets alkoholisiert gewesen und aus nichtigem Anlass gewalttätig geworden.
Die Zeugin wurde trotz eines entsprechenden Antrags des Beschwerdeführers nicht gerichtlich vernommen, sondern abgeladen, nachdem sich ein Zeugenbeistand für sie gemeldet hatte und der Kammer berichtet hatte, die Zeugin sei aufgrund der tätlichen Angriffe so stark verängstigt, dass ihr eine Aussage ohne Zeugenbeistand nicht zuzumuten sei.
5. Die Beschwerde des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht Rostock mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 8. Februar 2012, ihm zugegangen am 16. Februar 2012. Dabei setzte sich das Gericht insbesondere mit der Beweiswürdigung des Landgerichts auseinander und betonte, die Aussage der früheren Verlobten des Beschwerdeführers sei glaubhaft. Die jetzige Freundin des Beschwerdeführers, die bei ihrer Vernehmung durch die Kammer bekundet habe, der Beschwerdeführer habe zwar das Lokal, in dem sie bediene, aufgesucht, dort aber keinen Alkohol getrunken, habe ihn hingegen entlasten wollen und deshalb die Unwahrheit gesagt. Die gröblichen und beharrlichen Weisungsverstöße verschlechterten die Risikoprognose so erheblich, dass die Sicherungsverwahrung auch unter Berücksichtigung des strikten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nunmehr wieder vollstreckt werden müsse. Der erneute Konsum von Alkohol und die Kontaktaufnahme mit früheren Bekannten führten zu verfestigten Verhaltensmustern.
6. Aktuell wird die Sicherungsverwahrung bereits wieder vollstreckt.
Entscheidungsgründe
II.
Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse vor allem in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und 2 GG verletzt. Es liege ein Verstoß gegen die Aufklärungspflicht vor, weil das Landgericht – und ihm folgend das Oberlandesgericht – seine Entscheidung allein auf die staatsanwaltschaftliche Vernehmung der früheren Verlobten des Beschwerdeführers gestützt habe, anstatt die Zeugin selbst zum Anhörungstermin zu laden. Die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung lägen nicht vor, da es nie zu schweren Tatfolgen gekommen sei. Der am 14. März 2012 per Fax und am 16. März 2012 per Post eingegangenen Verfassungsbeschwerde waren die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Rostock vom 10. Oktober 2011 und des Landgerichts Rostock vom 20. Dezember 2011 nicht vollständig beigefügt.
III.
1. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Stellungnahme betont, das Oberlandesgericht habe zur Beurteilung der Aussage der früheren Verlobten des Beschwerdeführers weitere indizielle Kriterien herangezogen.
2. Dem Bundesverfassungsgericht hat das Bewährungsheft ebenso vorgelegen wie insbesondere das Führungsaufsichtsheft.
IV.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen – insbesondere hinsichtlich des Gebotes bestmöglicher Sachaufklärung – bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 70, 297 ≪308 ff.≫), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Zwar hat der Beschwerdeführer den angegriffenen Beschluss des Landgerichts Rostock vom 20. Dezember 2011 und den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 10. Oktober 2011, auf den die später ergangene landgerichtliche Entscheidung Bezug nimmt, innerhalb der am 16. März 2012 endenden Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für die Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht vollständig vorgelegt und die fehlenden Passagen auch nicht in einer Weise wiedergegeben, die eine Beurteilung erlaubten, ob die angegriffene Entscheidung mit dem Grundgesetz im Einklang steht. Die Verfassungsbeschwerde genügte deshalb zunächst den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG an eine hinreichend substantiierte Begründung nicht (vgl. BVerfGE 88, 40 ≪45≫; 93, 266 ≪288≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. April 2011 – 1 BvR 791/11 –, juris, Rn. 2).
Nachdem der Beschwerdeführer am 27. Juni 2012 die vollständigen Beschlüsse zu den Akten gereicht hat, ist ihm jedoch gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Satz 4 BVerfGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zu gewähren. Er war ohne eigenes Verschulden oder ein Verschulden seines Bevollmächtigten (§ 93 Abs. 2 Satz 6 BVerfGG) verhindert, die Frist einzuhalten. Erst durch den Hinweis des Berichterstatters ist der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers darauf aufmerksam geworden, dass die beiden Beschlüsse nicht vollständig vorlagen. Nachdem ihm zuvor durch das Allgemeine Register ausdrücklich nur mitgeteilt worden war, dass einzelne Seiten des Beschlusses des Landgerichts vom 15. August 2011 fehlten, musste er keine Veranlassung sehen, von sich aus zu prüfen, ob der Kopierfehler seiner Rechtsanwaltsfachangestellten, der nach seinem glaubhaft gemachten Vortrag (§ 93 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG) ursächlich war für die Unvollständigkeit des Beschlusses vom 15. August 2011, auch zur unvollständigen Übersendung der Beschlüsse vom 10. Oktober 2011 und 20. Dezember 2011 geführt hatte. Auf den Hinweis des Berichterstatters hat er diese innerhalb der Zweiwochenfrist des § 93 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nachgereicht, so dass die Wiedereinsetzung insoweit gemäß § 93 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG auch ohne ausdrücklichen Antrag gewährt werden kann.
2. Die Instanzgerichte haben gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 und Art. 20 Abs. 3 GG verstoßen, indem sie die frühere Verlobte des Beschwerdeführers nicht persönlich als Zeugin vernommen haben.
a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person” und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich” bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. BVerfGE 35, 185 ≪190≫; 109, 133 ≪157≫; 128, 326 ≪372≫).
Kollidiert der Freiheitsanspruch der Person mit der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder dem Erfordernis, die Allgemeinheit vor zu erwartenden Rechtsgutverletzungen zu schützen, sind beide Belange gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerfGE 90, 145 ≪172≫; 109, 133 ≪157≫; 128, 326 ≪372 f.≫). Dabei gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Freiheit der Person nur beschränkt werden darf, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist. Die verfassungsrechtlich gerechtfertigten Eingriffstatbestände haben insoweit auch eine freiheitsgewährleistende Funktion, da sie nicht nur den Eingriff in ein grundrechtlich geschütztes Interesse erlauben, sondern zugleich die äußersten Grenzen zulässiger Grundrechtseinschränkungen bestimmen (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪307≫; 75, 329 ≪341≫; 126, 170 ≪195≫).
Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben sich auch verfahrensrechtliche Anforderungen, die der hohen Bedeutung des Freiheitsrechts ausreichend Rechnung zu tragen haben (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪308≫; 109, 133 ≪162≫; 128, 326 ≪372 f.≫; siehe auch BVerfGE 86, 288 ≪326≫; 117, 71 ≪102≫). Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben (vgl. BVerfGE 86, 288 ≪317≫; 109, 133 ≪162≫; 117, 71 ≪105≫; BVerfGK 15, 390 ≪397 f.≫). Insbesondere mit zunehmender Dauer des drohenden Freiheitsentzuges steigen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung. Dem verfahrensrechtlichen Gebot einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung kommt gerade in einem solchen Fall die Bedeutung eines Verfassungsgebots zu (vgl. BVerfGE 58, 208 ≪222 f.≫; 70, 297 ≪308 ff.≫; 117, 71 ≪105≫). Da bei der Handhabung der richterlichen Aufklärungspflicht das Gewicht des Freiheitsanspruchs zu beachten ist, gilt auch in denjenigen Verfahren, die dem sogenannten Freibeweis unterliegen, die richterliche Aufklärungspflicht, wie sie für die Hauptverhandlung im Strafprozess in § 244 Abs. 2 StPO ihren Niederschlag gefunden hat („Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung” – vgl. BVerfGE 70, 297 ≪309≫; 117, 71 ≪105≫). Dabei enthält § 244 Abs. 2 StPO zwar kein Verbot, mittelbare und damit sachferne Beweise zu erheben. Dies gilt insbesondere, wenn der Beweis durch das sachnähere Beweismittel nicht möglich ist, weil es untergegangen oder unerreichbar ist. Hat das Gericht aber die Auswahl unter mehreren Beweismitteln, darf es sich regelmäßig nicht damit begnügen, den mit der Gefahr größerer Unzuverlässigkeit behafteten sachferneren Beweis zu erheben, sofern qualitativ bessere Beweismittel zur Verfügung stehen (vgl. BVerfGE 57, 250 ≪277≫).
b) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Da es sich bei der Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung der Sicherungsverwahrung um einen besonders starken Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers handelt, hätte angesichts widersprechender Zeugenaussagen auch die einzige Belastungszeugin – wie vom Beschwerdeführer beantragt – persönlich vernommen werden müssen, um dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung Rechnung zu tragen. Den angegriffenen Entscheidungen lassen sich keine ausreichenden Gründe für den Verzicht auf die Einvernahme der Zeugin entnehmen.
aa) Zwar sprechen mehrere Anhaltspunkte für die Glaubhaftigkeit der bisherigen Aussagen der Zeugin. So sagte die Zeugin – wie sich aus den beigezogenen Akten ergibt – gegenüber der Staatsanwaltschaft, den Polizeibehörden und der Bewährungshelferin des Beschwerdeführers höchst detailliert und emotional aus. Gegen eine Belastungstendenz spricht auch, dass die Zeugin nicht selbst die Polizei einschaltete, sondern den Beschwerdeführer anfangs nach dem Eindruck der Führungsaufsichtsstelle eher noch entlasten wollte. Ferner benannte sie eine weitere Zeugin für Übergriffe des Beschwerdeführers. Zudem liegen weitere Umstände vor, die für die Richtigkeit der Aussage der Zeugin sprechen. So versäumte der Beschwerdeführer mindestens eine Alkoholkontrolle und wurde bei einer weiteren Kontrolle des Alkoholkonsums überführt. Ferner hatte der Beschwerdeführer angegeben, seine neue Freundin auf dem Weihnachtsmarkt, nicht in einer Gaststätte, kennengelernt zu haben, und wurde diesbezüglich – wie auch bereits bei der Alkoholkontrolle – der Lüge überführt.
bb) Andererseits steht einem Verzicht auf die mündliche Anhörung der Zeugin entgegen, dass es widersprechende Aussagen des Beschwerdeführers und seiner jetzigen Freundin gibt. Außerdem ist die Aussage der Zeugin nicht frei von Widersprüchen, die Anlass zu weiterer Überprüfung hätten geben müssen. So hat sie sich ausweislich der beigezogenen Akten unterschiedlich geäußert, ob sie bei dem Vorfall auf dem Balkon auf den Rücken geschlagen wurde oder nicht. Auch bleibt unklar, wann und wodurch sie den Rippenbruch erlitten hat, nachdem sie bei ihrer polizeilichen Vernehmung unmittelbar nach dem Übergriff durch den Beschwerdeführer angegeben hatte, bereits seit zwei Tagen Schmerzen im Bereich der linken Seite zu verspüren. Vor diesem Hintergrund hätte es sowohl bezüglich des Alkoholkonsums als auch bezüglich der Gewalttätigkeit des Beschwerdeführers einer gerichtlichen Einvernahme der Zeugin bedurft, zumal bisher weder der Beschwerdeführer noch sein Verteidiger die Möglichkeit hatten, die Zeugin mit den Ungereimtheiten und den widersprechenden Aussagen zu konfrontieren, so dass aus deren Reaktion Rückschlüsse für oder gegen die Glaubwürdigkeit hätten gezogen werden können.
cc) Dass die Zeugin psychisch stark belastet ist, kann in der vorliegenden Konstellation und wegen der Bedeutung des dem Beschwerdeführer drohenden unbefristeten Freiheitsentzugs sowie wegen ihrer Rolle als einziger Belastungszeugin keine Rolle spielen, zumal eine Vernehmungsunfähigkeit der Zeugin nicht nachgewiesen und lediglich die Zulassung eines Zeugenbeistands beantragt wurde.
dd) Die Aussage der Zeugin kann auch nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Widerruf der Aussetzung entfällt, da lediglich eine positive Alkoholkontrolle und die Aussage der jetzigen Freundin des Beschwerdeführers, dieser habe ein bestimmtes Lokal besucht, aber dort keinen Alkohol getrunken, nicht genügen, um einen „gröblichen oder beharrlichen” Weisungsverstoß gemäß § 67g Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB annehmen zu können.
3. Die Frage, ob die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪406≫) gegeben sind, ist angesichts des Verstoßes gegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung derzeit nicht zu entscheiden.
4. a) Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG.
b) Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG zu erstatten.
c) Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen
NStZ-RR 2013, 115 |
NPA 2013 |
StV 2013, 574 |