Verfahrensgang

LAG Brandenburg (Urteil vom 04.12.1992; Aktenzeichen 4 Sa 298/92)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Urteil eines Landesarbeitsgerichts, in dem eine ordentliche Kündigung im öffentlichen Dienst des Beitrittsgebietes, die das beklagte Land unter Berufung auf Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 der Anlage I zum Einigungsvertrag (EV) ausgesprochen hat, für wirksam befunden worden ist.

I.

Die 1941 geborene Beschwerdeführerin ist gelernte Biologin. Seit 1981 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Pflanzenschutzamt Potsdam beschäftigt, das dem Rat des Bezirks Potsdam unterstand. Zuletzt war sie als Leiterin des Diagnoselabors tätig. Sie hat zwei Kinder im Alter von 29 und 27 Jahren. Im Zeitpunkt der Kündigung war sie beiden Kindern, ab Januar 1992 nur noch einem Kind zum Unterhalt verpflichtet. 1991 wurde der Mitarbeiterbestand des Pflanzenschutzamtes von 360 auf 145 reduziert. Von den vier im Diagnoselabor beschäftigten Arbeitnehmern wurde zwei Arbeitnehmern gekündigt, darunter der Beschwerdeführerin. Der Arbeitnehmerin S…, die 15 Jahre jünger als die Beschwerdeführerin ist, erst seit 1988 beschäftigt und von Januar 1989 bis November 1990 im Erziehungsurlaub war, wurde nicht gekündigt. Die Auswahl zwischen den betroffenen Arbeitnehmern wurde durch eine Auswahlkommission in Zusammenarbeit mit dem Personalrat getroffen. Die Kommission schlug die Beschwerdeführerin zur Kündigung vor. Das beklagte Land kündigte der Beschwerdeführerin, weil die Arbeitnehmerin S… als Spezialistin für Pflanzenschutz für die geforderte Tätigkeit besser qualifiziert sei und weil sie drei minderjährige unterhaltsberechtigte Kinder zu versorgen habe, während die Beschwerdeführerin nur zwei volljährige Kinder habe.

Das Landesarbeitsgericht wies die Kündigungsschutzklage ab. Hinsichtlich der Kündigungsgründe im Sinne von Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 der Anlage I EV liege ein noch ausreichendes Vorbringen des beklagten Landes vor. § 1 Abs. 3 KSchG finde im Rahmen der Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 EV keine Anwendung. Das Landesarbeitsgericht verweist insoweit auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 24. September 1992 (NZA 1993, S. 362). Dafür, daß die Auswahl der Arbeitnehmerin S… sittenwidrig oder willkürlich sei, lägen keine Anhaltspunkte vor.

II.

Mit ihrer fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, sie werde durch das angegriffene Urteil in ihrer Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes verletzt. Da ohnehin eine Auswahlkommission eingesetzt worden sei, hätte das beklagte Land eine Auswahlentscheidung nach Maßgabe des Kündigungsschutzgesetzes treffen können. Wenn aus wirtschaftlichen Gründen Personalkosten eingespart werden müßten, sei es für den Einspareffekt unerheblich, welche Personen entlassen würden. Bei verfassungskonformer Auslegung des Abs. 4 EV hätte daher eine Sozialauswahl durchgeführt werden müssen.

III.

Über die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist gemäß Art. 8 des Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 2. August 1993 (BGBl. I S. 1442) – ÄndG – nach §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung des Art. 1 ÄndG zu entscheiden. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.

  • Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs. 2 Buchst. a BVerfGG). Diese ist nur gegeben, wenn die Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, über deren Beantwortung ernsthafte Zweifel bestehen. Zudem muß bereits bei der Prüfung der Annahme absehbar sein, daß sich das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung über die Beschwerde mit der Grundsatzfrage beschäftigen muß. Kommt es auf diese Frage hingegen nicht entscheidungserheblich an, ist eine Annahme nach § 93a Abs. 2 Buchst. a BVerfGG nicht geboten (vgl. Beschluß des Ersten Senats vom 8. Februar 1994 – 1 BvR 1693/92 –, Umdruck S. 5).

    Die Frage, ob Art. 12 Abs. 1 GG eine Auslegung des Sonderkündigungstatbestandes der Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Nr. 2 und 3 EV dahin gebietet, daß auch bei ordentlichen Kündigungen, die auf diese Sonderkündigungsrechte gestützt werden, eine Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG stattzufinden hat, würde sich bei einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde nicht stellen. Sie ist daher nicht entscheidungserheblich.

    Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert bei Vorschriften, die grundrechtliche Schutzpflichten erfüllen, nur, ob die Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften durch die Fachgerichte den vom Grundrecht vorgezeichneten Schutzzweck grundlegend verfehlt. Wie die Gerichte den Schutz im einzelnen gewährleisten und ob die Auslegung der Schutznorm den bestmöglichen Schutz sichert, unterliegt dagegen nicht der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluß des Ersten Senats vom 16. November 1993 – 1 BvR 258/86 –, EuGRZ 1994, S. 135 ≪138≫).

    Das Landesarbeitsgericht hat geprüft, ob die angefochtene Kündigung willkürlich oder sittenwidrig war. Wenn es von diesem Ausgangspunkt her die getroffene Auswahl nicht beanstandet hat, so wird dadurch Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf freie Wahl des Arbeitsplatzes nicht verkannt. Denn das beklagte Land hat bei seiner Entscheidung, welcher Arbeitnehmerin es kündigen wollte, die soziale Schutzbedürftigkeit der Beschwerdeführerin berücksichtigt und damit dem Schutz, den dieses Grundrecht gewährt, hinreichend Rechnung getragen. Die Frage, ob der Arbeitgeber bei Kündigungen nach Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Nr. 2 oder 3 EV eine Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG zu treffen hat, würde sich daher bei einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde nicht stellen.

  • Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Ein besonders schwerer Nachteil durch die Versagung einer Entscheidung zur Sache entsteht der Beschwerdeführerin jedenfalls deshalb nicht, weil die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (vgl. Beschluß des Ersten Senats vom 8. Februar 1994 – 1 BvR 1693/92 –, Umdruck S. 6, 7). Daß die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes aus Art. 12 Abs. 1 GG durch die angegriffene Entscheidung nicht verletzt wird, ist bereits dargelegt worden.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Herzog, Söllner, Kühling

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1084342

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