Verfahrensgang
OVG Berlin (Beschluss vom 09.11.1994; Aktenzeichen 1 S 141.94) |
Tenor
Der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 9. November 1994 – OVG 1 S 141.94 – verletzt Artikel 8 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen einen oberverwaltungsgerichtlichen Beschluß, mit dem die erstinstanzliche Entscheidung abgeändert und der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen zwei Versammlungsauflagen abgelehnt worden ist.
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist Mitglied einer Verkehrsinitiative in Berlin. Sie meldete als Versammlungsleiterin für den 9. November 1994 eine von der Initiative veranstaltete Demonstration unter dem Motto “Bei Grün darf jede gehen” beim Polizeipräsidenten an. Die Veranstaltung, zu der etwa 500 Teilnehmer und Teilnehmerinnen erwartet wurden, sollte vom Kottbusser Tor auf die Oberbaumbrücke führen. Dort war auch die Abschlußkundgebung vorgesehen. Sie richtete sich gegen die Freigabe der Oberbaumbrücke für den Individualverkehr, die für diesen Tag im Anschluß an die offizielle Feier der “Eröffnung der ersten Bauabschnittsübergabe der Oberbaumbrücke” stattfinden sollte.
Mit Bescheid vom 3. November 1994 machte der Antragsgegner des Ausgangsverfahrens – das Land Berlin, vertreten durch den Polizeipräsidenten – die Kundgebung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung von zwei Auflagen abhängig: Danach war der Aufzug ab Schlesische Straße zur Falckensteinstraße zu führen und hatte dort vor der Nr. 46 zu enden. Die Einschränkung war den Demonstrationsteilnehmern am Ort des Zusammentretens bekanntzugeben. Der Antragsgegner begründete diese Auflagen damit, daß die Oberbaumbrücke am Vormittag des 9. November 1994 für den Kfz-Verkehr freigegeben werde. Bei Durchführung der Abschlußkundgebung auf der Brücke werde diese blockiert. Blockadeaktionen seien nicht erlaubt. Bei der Abwägung zwischen den Rechtsgütern der Versammlungsfreiheit einerseits und der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs andererseits habe das Interesse der Beschwerdeführerin, gerade die Brücke für die Abschlußkundgebung zu nutzen, zurückzustehen.
Im Rahmen des Verfahrens auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ergänzte der Antragsgegner seine Begründung dahin, daß anläßlich der Abschlußkundgebung Sachbeschädigungen zu befürchten seien. Er wies auf einen Artikel unter dem Titel “Krach um Oberbaumbrücke” in der Zeitung “Interim” vom 3. November 1994 hin. Der Artikel beschäftigt sich mit dem feierlichen Eröffnungsakt sowie den dabei vorgesehenen Schutzmaßnahmen und endet mit einem Zitat, in dem mit Verweis auf die Veranstaltungen zum Tag der Deutschen Einheit in Bremen 1994 eine Randale als “was Feines” und “völlig korrekt” dargestellt wird. Darüber hinaus wies der Antragsgegner auf den in derselben Ausgabe der Zeitung erfolgten Abdruck von Versen Theodor Fontanes hin, denen eine versteckte Aufforderung zu Sachbeschädigungen und weiteren Aktionen entnommen werden könne. Es handelt sich dabei um einen gekürzten, im übrigen aber originalgetreuen Abdruck des Gedichts “Die Brück' am Tay”. Weiter führte der Antragsgegner ein Flugblatt an, in dem es unter Hinweis auf die Demonstration heißt: “Zeigen wir Nagel, Haase, Hassemer und den anderen Pfeifen, was wir von ihnen halten.” Abschließend machte der Antragsgegner auf Sachbeschädigungen im Verlauf der Bauarbeiten aufmerksam.
2. Mit Beschluß vom 8. November 1994 stellte das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wieder her. Die Auflage, den Aufzug zur Falckensteinstraße zu führen und dort zu beenden und damit die Abschlußkundgebung von der Oberbaumbrücke fernzuhalten, beeinträchtige die Veranstaltung unter Berücksichtigung des Versammlungszwecks nachhaltig. Die Öffnung der Oberbaumbrücke stelle ein Kernstück der Wiederherstellung des in der Öffentlichkeit umstrittenen Innenstadtrings dar. Angesichts des Umstandes, daß auch eine offizielle Eröffnungsfeier auf der Brücke stattfinde, durch die die Verkehrsfreigabe sich um etwa drei Stunden verzögere, könne den Veranstaltern der Protestdemonstration nicht vorgehalten werden, ihnen gehe es offensichtlich nur um eine einstündige Verkehrsblockade. Gegenüber der Bedeutung, die gerade der gewählte Ort der Abschlußkundgebung im Hinblick auf das Demonstrationsanliegen habe, wögen die zu erwartenden Verkehrserschwernisse bei einer Sperrung der bis zur Freigabe dem Verkehr ohnehin nicht offenstehenden Brücke für höchstens eine Stunde nicht besonders schwer. Hinreichend konkrete Anhaltspunkte für unfriedliche Aktionen während der Abschlußkundgebung auf der Oberbaumbrücke könnten den vorgelegten Texten aus der Zeitung “Interim” nicht entnommen werden.
3. Gegen diese Entscheidung legte der Antragsgegner mit am Abend des 8. November 1994 eingegangenem Telefax Beschwerde ein, die er in Wiederholung des bisherigen Vorbringens mit der Erwartung von Verkehrsbeeinträchtigungen und der Befürchtung unfriedlicher Aktionen begründete. Im Nachtrag dazu reichte er am 9. November 1994 um 9.18 Uhr per Telefax eine Erklärung der “Anti-Auto-Autonomen (AAA)” nach, die am 8. November 1994 bei der Berliner Morgenpost eingegangen und noch am selben Tage an den Antragsgegner weitergeleitet worden war. Die Erklärung lautete:
Oberbaumbrücke bleibt Stadtringlücke Auto-Mehner in der Skalitzerstr. wurde Autos abgefackelt. – gegen den Autowahn- gegen seine Bullenunterstützung- gegen das neue Bürohaus in der Mariannenstr. 9-10 ebenso ging ein Bagger am Schlesischen Tor in Flammen auf. AAA (Anti-Auto-Autonome).
Der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin erhielt die Beschwerdebegründung, nachdem die Sache an das Oberverwaltungsgericht abgegeben worden war, am 9. November 1994 um 12.50 Uhr per Telefax mit Gelegenheit zur Stellungnahme bis 14.00 Uhr, die er wahrnahm. Der Nachtrag wurde ihm um 14.22 Uhr ohne weitere Frist zur Stellungnahme übermittelt.
Nachdem das Verwaltungsgericht mit Beschluß vom 9. November 1994 der Beschwerde nicht abgeholfen hatte, änderte das Oberverwaltungsgericht mit dem angegriffenen, dem Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin um 15.32 Uhr übermittelten Beschluß die erstinstanzliche Entscheidung und lehnte den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ab. Die angefochtenen Auflagen seien rechtlich nicht zu beanstanden. Nach den im summarischen Verfahren erkennbaren Umständen – insbesondere der Selbstbezichtigungserklärung der Anti-Auto-Autonomen – erscheine die öffentliche Sicherheit und Ordnung bei Durchführung der Versammlung in der geplanten Weise gefährdet. Es sei auch nicht ausgeschlossen, daß sich die Gefahren auf die wiederhergestellte Brücke auswirken könnten, sofern die Abschlußkundgebung dort stattfände.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Verfassungsbeschwerde mit der Rüge der Verletzung der Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Die Beschwerdeführerin trägt vor, daß die Behandlung ihres Rechtsschutzbegehrens im Eilverfahren insbesondere das Grundrecht der Versammlungsfreiheit verletze. Konkrete Anzeichen für unfriedliche Aktionen während der Demonstration und der Kundgebung hätten ersichtlich nicht vorgelegen. Dies sei vom Antragsgegner in der Beschwerdebegründung sogar selbst eingeräumt worden. Trotzdem habe das Oberverwaltungsgericht dies unterstellt und zum Anlaß für eine Bestätigung des rechtswidrigen Auflagenbescheides gemacht. Es gebe keinen Zusammenhang zwischen den Versammlungsveranstaltern und den angeblichen Verfassern des Selbstbezichtigungsschreibens. An dessen Authentizität bestünden sogar Zweifel, weil eine Gruppierung mit dem Namen “Anti-Auto-Autonome” bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in Erscheinung getreten sei. Der Beschluß verletze außerdem den Anspruch auf rechtliches Gehör. Das Selbstbezichtigungsschreiben habe dem Polizeipräsidenten bereits am 8. November 1994 vorgelegen, sei aber nachgereicht worden. Das Gericht habe keine weitere Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt. Trotzdem habe es seine Entscheidung ganz wesentlich auf den nachgereichten Vortrag gestützt. Hätte eine Gelegenheit zur Stellungnahme bestanden, hätten die Zweifel an der Authentizität des Schreibens und der fehlende Zusammenhang zwischen dessen Verfassern und den Veranstaltern der Versammlung vorgetragen werden können.
Ein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des angegriffenen Beschlusses bestehe unter anderem, weil wegen weiterer erheblicher Auseinandersetzungen um Verkehrsprojekte in Berlin damit zu rechnen sei, daß es zu erneuten Konfliktsituationen wie im vorliegenden Fall kommen werde.
5. Die Senatsverwaltung für Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Die Rügen einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG sind mangels Einschlägigkeit dieser Grundrechte unzulässig. Dagegen liegen die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c BVerfGG) hinsichtlich der Rüge einer Verletzung des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits entschieden (insbesondere BVerfGE 69, 315 ≪340 ff.≫). Der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts verletzt danach Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG.
1. Der Zulässigkeit der Rüge der Verletzung des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG steht weder der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde noch das Erfordernis eines Rechtsschutzinteresses entgegen.
Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache, wenn sich dort nach der Art des gerügten Grundrechtsverstoßes die Möglichkeit bietet, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (vgl. näher BVerfGE 77, 381 ≪400 ff.≫; 78, 290 ≪301 ff.≫; 79, 275 ≪278 f.≫; 80, 40 ≪45 ff.≫). Wird dagegen die Verletzung von Freiheitsrechten oder von Art. 19 Abs. 4 GG durch die gerichtliche Behandlung des Begehrens auf einstweiligen Rechtsschutz geltend gemacht, würden die insoweit gegebenenfalls bestehenden Verfassungsverletzungen durch die Entscheidung der Gerichte in der Hauptsache nicht mehr ausgeräumt (vgl. BVerfGE 53, 30 ≪53 f.≫; 59, 63 ≪83 ff.≫). Hier rügt die Beschwerdeführerin gerade die Mißachtung der Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 GG und des Art. 19 Abs. 4 GG bei der Zurückweisung ihres Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz. Ihre darauf gerichteten Einwände würden im Hauptsacheverfahren nicht mehr behandelt.
Das Rechtsschutzbedürfnis ist nicht dadurch entfallen, daß der Demonstrationstermin verstrichen und damit der Sofortvollzug der strittigen Auflagen gegenstandslos geworden ist. Sind verfassungsrechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung nicht (mehr) zu klären, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis auch nach Erledigung des ursprünglichen Begehrens im Falle einer Wiederholungsgefahr (BVerfGE 10, 302 ≪308≫; 21, 139 ≪143≫; 69, 257 ≪266≫; 81, 138 ≪140≫; 81, 208 ≪213≫; stRspr). Wiederholungsgefahr liegt vor, wenn ein Gericht die bereits herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht beachtet hat und zu befürchten ist, daß es diese auch in Zukunft verkennt. Sie setzt die hinreichend bestimmte Gefahr einer gleichartigen Entscheidung bei gleichartiger Sach- und Rechtslage voraus. Die Beschwerdeführerin ist Mitglied einer Verkehrsinitiative und rechnet angesichts der weiteren Auseinandersetzungen um Verkehrsprojekte in Berlin mit ähnlichen Konfliktsituationen, bei denen sie eine gleichartige Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts befürchten müßte.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist im Umfang ihrer Zulässigkeit begründet.
a) Art. 8 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Dies schließt das Recht ein, über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung selbst zu bestimmen (BVerfGE 69, 315 ≪343≫). Art. 19 Abs. 4 GG garantiert die Effektivität des Rechtsschutzes. Im Verfahren auf (Wieder-)Herstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs, die für den Regelfall sicherstellt, daß die Verwaltungsbehörden keine irreparablen Maßnahmen durchführen, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft haben (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪401 f.≫), ist der Rechtsschutzanspruch des Bürgers um so stärker, je schwerer die ihm auferlegte Belastung wiegt und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken (BVerfGE 35, 382 ≪402≫; 67, 43 ≪61 f.≫; 69, 315 ≪363≫). Bei Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlaß bezogen sind, müssen die Verwaltungsgerichte daher schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, daß der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt. Soweit möglich, ist die Rechtmäßigkeit der Maßnahme zu prüfen; im übrigen kommt es auf eine sorgsame Interessenabwägung an (BVerfGE 69, 315 ≪363 f.≫; vgl. außerdem BVerfGE 35, 382 ≪402 ff.≫; 53, 30 ≪67 f.≫).
b) Die Versammlungsfreiheit ist nicht vorbehaltlos gewährleistet. Art. 8 GG garantiert lediglich das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, und stellt dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel unter Gesetzesvorbehalt.
Eine bei grundrechtsgerechter Auslegung verfassungsmäßige Beschränkung der Versammlungsfreiheit enthält § 15 Abs. 1 VersG. Er sieht vor, daß die zuständige Behörde die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen kann, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm sind unter Beachtung der grundrechtlichen Maßgaben auszulegen. Erstens ist das von der Norm eingeräumte Entschließungsermessen grundrechtlich gebunden. Die Versammlungsfreiheit hat nur dann zurückzutreten, wenn eine Abwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung des Freiheitsrechts ergibt, daß dies zum Schutz anderer, mindestens gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist (BVerfGE 69, 315 ≪353≫). Zweitens ist die behördliche Eingriffsbefugnis durch die Voraussetzungen einer “unmittelbaren Gefährdung” der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung “bei Durchführung der Versammlung” begrenzt. Zwischen der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und der Durchführung der Versammlung muß somit ein hinreichend bestimmter Kausalzusammenhang bestehen. Die “unmittelbare Gefährdung” setzt eine konkrete Sachlage voraus, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führte (vgl. näher BVerfGE 69, 315 ≪353, 360≫; Breitbach/Deiseroth/Rühl, in: Ridder/Breitbach/Rühl/Steinmeier, Versammlungsrecht, Kommentar, 1992, zu § 15 Rn. 111). Drittens müssen zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung “erkennbare Umstände” dafür vorliegen, daß eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Das setzt nachweisbare Tatsachen als Grundlage der Gefahrenprognose voraus; bloße Vermutungen reichen nicht aus (BVerfGE 69, 315 ≪353 f.≫).
c) Das Oberverwaltungsgericht hat bei der ihm obliegenden Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Maßgaben des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen. Die Beurteilung, daß die angegriffenen Auflagen rechtlich nicht zu beanstanden seien, hat es nicht auf die im Ausgangsbescheid genannte Beeinträchtigung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs – die entsprechend den zutreffenden Ausführungen des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses auch nicht tragfähig gewesen wäre –, sondern auf die nachgeschobenen Erwägungen zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch gewalttätige Ausschreitungen oder Sachbeschädigungen gestützt. Die Entscheidungsgründe legen jedoch nicht in einer den Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG genügenden Weise dar, daß die dazu vorgebrachten Umstände und Belege die Voraussetzungen erfüllen, aufgrund derer die Auflagen nach § 15 Abs. 1 VersG gerechtfertigt sein könnten.
Es wird nicht begründet und es ist auch nicht ohne weiteres ersichtlich, inwiefern die vom Gericht angeführte Erklärung der “Anti-Auto-Autonomen” ein erkennbarer Umstand dafür sein soll, daß die Durchführung der Abschlußkundgebung auf der Oberbaumbrücke ursächlich für mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Schäden durch Sachbeschädigungen oder gewalttätige Auseinandersetzungen hätte sein können und deshalb durch Auflagen zu unterbinden war. Die Erklärung enthält die Bekräftigung, daß die Oberbaumbrücke Stadtringlücke bleibe, und stellt neben allgemeinen Bekenntnissen verschiedene Brandstiftungen in der Skalitzerstraße und am Schlesischen Tor heraus. Ein konkreter Bezug zu der von der Beschwerdeführerin angemeldeten Demonstration wird daraus nicht erkennbar. Die genannten Brandstiftungen betreffen nicht die Brücke selbst, sondern stehen mit deren Freigabe für den Verkehr nur in einem lockeren örtlichen oder sachlichen Zusammenhang. Im übrigen sollte die Demonstration auch nach den Einschränkungen durch den angefochtenen Auflagenbescheid unter anderem durch die Skalitzerstraße oder durch die Schlesische Straße führen. Auch wenn die Erklärung in einem weiteren Zusammenhang mit der Eröffnung der Oberbaumbrücke steht und es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, ihr versteckte Gewaltandrohungen zu entnehmen, hätte die Folgerung auf Gefahren gerade bei der hier in Rede stehenden Abschlußkundgebung auf der Brücke zusätzlicher Erkenntnisse und Informationen bedurft, die vom Polizeipräsidenten jedoch nicht vorgetragen und vom Gericht auch nicht ermittelt und festgestellt worden sind.
Dem weiteren Hinweis auf die “im summarischen Verfahren erkennbaren Umstände” können keine begründenden Überlegungen entnommen werden. Schon deshalb kann er die angegriffene Entscheidung nicht tragen.
Selbst wenn das Oberverwaltungsgericht sich damit auf die übrigen Unterlagen beziehen sollte, die der Antragsgegner vorgelegt hat, ist auch mit Blick darauf nicht ohne weiteres ersichtlich, daß sie die versammlungsbeschränkenden Auflagen zu rechtfertigen vermöchten. Von rechtlicher Bedeutung können lediglich die Verse und der Artikel in der Zeitung “Interim” sein. Es ist zwar verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, den abgedruckten Versen Theodor Fontanes im gegebenen Kontext Anzeichen für oder versteckte Aufforderungen zu Gewalttätigkeiten zu entnehmen. Auch insoweit ist aber ein hinreichend konkreter Kausalzusammenhang zwischen der Durchführung der Versammlung und den möglicherweise beabsichtigten Gewalttätigkeiten nicht ohne weiteres erkennbar. Ein konkreter Zeitpunkt für etwa beabsichtigte Gewalttätigkeiten und ein konkreter Bezug zu der von der Beschwerdeführerin angemeldeten Versammlung lassen sich aus den abgedruckten Versen – wie auch das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat – nicht herleiten. Das ergibt insbesondere auch der in derselben Ausgabe der Zeitung abgedruckte Artikel. Dieser bezieht sich inhaltlich ausschließlich auf den feierlichen Eröffnungsakt. Ein Bezug zu der am Nachmittag stattfindenden Demonstration wird nicht hergestellt; diese wird nicht einmal erwähnt.
Unabhängig davon, daß sich zwischen den erkennbaren Umständen für beabsichtigte Gewalttätigkeiten und der hier interessierenden Versammlung kein hinreichender Kausalzusammenhang herstellen läßt, der die angegriffenen Auflagen tragen könnte, verlangt das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, daß in dem Fall, in dem der Veranstalter und sein Anhang sich friedlich verhalten und Störungen lediglich von Gegendemonstranten oder Störergruppen ausgehen, behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer gerichtet werden und die Durchführung der Versammlung zu schützen ist (BVerfGE 69, 315 ≪355, 360 ff.≫). Dieses Erfordernis ist weder vom Antragsgegner noch vom Oberverwaltungsgericht erörtert worden. Daß die Beschwerdeführerin oder die übrigen Veranstalter und Veranstalterinnen oder ihr Anhang Gewalttätigkeiten beabsichtigten, wurde vom Antragsgegner nicht vorgebracht.
3. Auf die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kommt es danach nicht mehr an.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Unzulässigkeit der Rügen einer Verletzung des Art. 2 Abs. 1 und des Art. 5 Abs. 1 GG fällt nicht ins Gewicht.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Grimm, Hömig
Fundstellen
Haufe-Index 1276184 |
NJW 1998, 2965 |
NVwZ 1998, 834 |
NJ 1998, 472 |
BayVBl. 1998, 562 |