Verfahrensgang
LG Erfurt (Beschluss vom 14.09.2012; Aktenzeichen 6 Qs 218/12) |
AG Erfurt (Beschluss vom 03.07.2012; Aktenzeichen 45 Gs 237/12) |
AG Erfurt (Beschluss vom 09.03.2012; Aktenzeichen 45 Gs 237/12) |
Tenor
1. Die Vollziehung der Beschlüsse des Amtsgerichts Erfurt vom 9. März 2012 und vom 3. Juli 2012 – 45 Gs 237/12 – und des Landgerichts Erfurt vom 14. September 2012 – 6 Qs 218/12 – wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde – längstens für die Dauer von sechs Monaten – ausgesetzt.
2. Der Freistaat Thüringen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfahren der einstweiligen Anordnung zu erstatten.
Tatbestand
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts Arnstadt vom 1. November 2011 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verwarnt, und ihm wurden 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit auferlegt. Nach den getroffenen Feststellungen hatte der zum Tatzeitpunkt 14-jährige Beschwerdeführer eine – wie er wusste – zum Tatzeitpunkt 13-jährige Klassenkameradin am Hals geküsst, so dass ein sogenannter „Knutschfleck” deutlich sichtbaren Ausmaßes entstand, und ihr darüber hinaus mehrfach mit seinen Händen an das bedeckte Geschlechtsteil gegriffen.
2. Mit Beschluss vom 9. März 2012 ordnete das Amtsgericht Erfurt aufgrund dieser Verurteilung gemäß § 81g StPO die Entnahme und molekulargenetische Untersuchung von Körperzellen des Beschwerdeführers zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters mit dem Ziel an, die Eigenschaften in die DNA-Analysedatei einzustellen. Der hiergegen eingelegten Beschwerde des Beschwerdeführers half das Amtsgericht Erfurt mit Beschluss vom 3. Juli 2012 nicht ab und legte die Sache dem Landgericht Erfurt zur Entscheidung vor. Dieses verwarf die Beschwerde mit Beschluss vom 14. September 2012 als unbegründet.
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und beantragt, die Vollziehung der im Tenor genannten Beschlüsse im Wege der einstweiligen Anordnung auszusetzen.
Entscheidungsgründe
II.
1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 103, 41 ≪42≫; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 99, 57 ≪66≫; stRspr).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Der Beschwerdeführer trägt vor, die nach § 81g StPO zu treffende Prognoseentscheidung sei nicht ausreichend einzelfallbezogen begründet worden. Insbesondere sei nicht berücksichtigt worden, dass er zur Tatzeit selbst erst 14 Jahre alt gewesen sei und die Handlungen aus seiner Sicht auf gegenseitiger Zuneigung beruht hätten. Es habe es sich daher um eine jugendtypische Tat und keinesfalls um eine solche von erheblicher Bedeutung gehandelt.
Da die im Tenor bezeichneten Entscheidungen des Amtsgerichts Erfurt und des Landgerichts Erfurt zu diesen besonderen, im Rahmen einer Entscheidung nach § 81g StPO möglicherweise relevanten Umständen keinerlei Ausführungen enthalten, können der Verfassungsbeschwerde jedenfalls nicht von vornherein die Erfolgsaussichten abgesprochen werden.
3. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so könnte die Anordnung der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen des Beschwerdeführers in der Zwischenzeit vollzogen werden. Der mit einer solchen Vollziehung verbundene Eingriff in die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wiegt bei einem Jugendlichen besonders schwer und kann in der Regel auch durch eine spätere Löschung der erhobenen Daten nicht vollständig rückgängig gemacht werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. März 2009 – 2 BvR 400/09 –, juris Rn. 10).
Gegenüber diesem zumindest teilweise irreparablen Rechtsverlust, der dem Beschwerdeführer droht, wiegen die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde aber später keinen Erfolg hätte, weniger schwer. Zwar könnte in diesem Fall die gegen den Beschwerdeführer ergangene Anordnung der Entnahme und Untersuchung von Körperzellen vorübergehend nicht vollzogen werden. Es ist aber nicht ersichtlich, dass wegen dieser Verzögerung ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre.
4. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Lübbe-Wolff, Landau, Kessal-Wulf
Fundstellen
DuD 2013, 546 |
ZD 2013, 228 |