Verfahrensgang
LG Freiburg i. Br. (Beschluss vom 06.01.2010; Aktenzeichen 3 T 353/09) |
Tenor
1. Der Beschluss des Landgerichts Freiburg vom 6. Januar 2010 – 3 T 353/09 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Freiburg zurückverwiesen.
2. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein zivilrechtliches Vollstreckungsverfahren.
1. Der in einem landwirtschaftlich geprägten Dorf im Kaiserstuhl lebende Beschwerdeführer war von seinem Nachbarn auf Unterlassung wegen der Haltung von Hühnern und Hähnen auf seinem Grundstück verklagt worden. Das Amtsgericht hatte die Klage abgewiesen, das Landgericht ihr auf die Berufung teilweise stattgegeben und insoweit tenoriert:
Der Beklagte wird unter Androhung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung auf Antrag des Klägers festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zum gesetzlich zulässigen Höchstmaß von 250.000 EUR und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, ersatzweise von Ordnungshaft oder von Ordnungshaft bis zu 6 Monaten verurteilt, es zu unterlassen,
- im zwischen dem im Westen durch das Wohnhaus, im Osten durch die Scheune und im Süden durch Stallung und Scheune begrenzten Hof des Anwesens … mehr als zwei Hähne zu halten;
- Hühner und Hähne in der Weise zu halten, dass deren Krähen auf dem Grundstück des Klägers an Werktagen zwischen 20.00 Uhr und 8.00 Uhr, an Sonn- und Feiertagen zwischen 20.00 Uhr und 9.00 Uhr hörbar ist.
In den Urteilsgründen hatte das Landgericht, das (tagsüber) einen eineinhalbstündigen Ortstermin durchgeführt hatte, ausgeführt, dass es eine wesentliche Beeinträchtigung durch die Hühner und Hähne nicht habe feststellen können. Allerdings liege eine wesentliche Beeinträchtigung durch Hahnenschreie prinzipiell zu Abend- und Nachtzeiten vor; die Beeinträchtigung sei auch nicht ortsüblich und könne daher abgewehrt werden. Die auch von anderen Gerichten im Tenor verwendete Formulierung „nicht hörbar” sei dabei auslegungsfähig.
Dagegen hatte sich der Beschwerdeführer mit einer Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 1243/09 gewandt, die durch Beschluss vom 22. Juli 2009 nicht zur Entscheidung angenommen wurde. In den Beschlussgründen war ausgeführt:
Es lässt sich nicht feststellen, dass die angegriffenen Entscheidungen gegen Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verstoßen. Zwar mag es einfachrechtlich fragwürdig sein, in einem landwirtschaftlich geprägten Dorf mit … 183 landwirtschaftlichen Betrieben das am frühen Morgen auf das Nachbargrundstück dringende Krähen zweier Hähne als nicht ortsüblich und … für nicht zumutbar zu erachten, zumal wenn sich die Hähne nachts in einem Stall befinden. Die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den Einzelfall sind jedoch grundsätzlich allein Sache der dafür zuständigen Fachgerichte und einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. (…)
Dem Beschwerdeführer ist zwar einzuräumen, dass die Tenorierung des Landgerichts, die Hähne seien in bestimmten Zeiten … so zu halten, dass deren Krähen auf dem (benachbarten) Grundstück des Klägers des Ausgangsverfahrens „nicht hörbar” sei, bei wörtlichem Verständnis überschießend ist; denn § 1004 BGB in Verbindung mit § 906 Abs. 1 Satz 1 BGB schützt nur vor wesentlichen Beeinträchtigungen. Doch folgt auch daraus weder ein Verstoß gegen das Willkürverbot noch gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz. Denn aus den Entscheidungsgründen ergibt sich klar, dass die Formulierung, das Krähen dürfe nicht hörbar sein, dahingehend auszulegen ist, dass der Beschwerdeführer lediglich wesentliche Beeinträchtigungen unterbinden muss. Entsprechend wird die Urteilsformel in einem möglichen Vollstreckungsverfahren auszulegen sein.
2. Der Nachbar (im Folgenden: Antragsteller) beantragte durch Schreiben seines Bevollmächtigten vom 27. Oktober 2009, gegen den Beschwerdeführer wegen Verstoßes gegen die vorgenannte Unterlassungsverpflichtung in zwölf Fällen für jeden einzelnen Fall der Zuwiderhandlung Ordnungsgeld und Ordnungshaft festzusetzen. In elf der zwölf Fälle zwischen Mai und August 2009 waren nach den Angaben des Antragstellers die Hühner deutlich beziehungsweise laut hörbar. Nur in einem Fall macht er geltend, dass die Hähne am frühen Morgen des 1. August 2009 laufend mit lautem Geschrei zu hören gewesen seien. Das Amtsgericht wies den Antrag mit Beschluss vom 14. Dezember 2009 zurück.
Auf die Beschwerde des Antragstellers änderte das Landgericht durch den mit der neuerlichen Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss die Entscheidung des Amtsgerichts ab und verhängte gegen den Beschwerdeführer ein Ordnungsgeld von 800 EUR, ersatzweise einen Tag Ordnungshaft. Im Übrigen wies es den Antrag zurück.
Zunächst stellte es klar, dass dem Beschwerdeführer durch das Berufungsurteil untersagt sei, Hühner und Hähne auf bestimmte Weise zu halten, so dass ein (Dauer-)Verstoß durch das Halten der Tiere in Betracht komme und die zwölf Vorfälle nicht gesondert bedacht werden könnten. Es reiche dafür aber auch aus, wenn sich die verbotswidrige Haltung der Hühner durch einzelne – bewiesene oder unstreitige – Vorfälle dokumentiere, was der Fall sei. Beispielhaft könne auf den Vorfall am frühen Morgen des 1. August 2009 verwiesen werden. Der Beschwerdeführer gestehe insoweit zu, dass „Geräusche” der Hühner zu hören, diese jedoch nicht „wesentlich” gewesen seien (unsubstantiiert), beziehungsweise die Turmuhr und das Gelächter der Gäste des Klägers lauter gewesen seien (unerheblich). Ferner könne auf die Fälle vom 28. und 30. Juni 2009 verwiesen werden. Dem Vortrag, wonach die Hühner an diesen Tagen um 20.35 Uhr beziehungsweise 20.41 Uhr (laut) hörbar gewesen seien, halte der Beschwerdeführer nichts Erhebliches entgegen.
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Willkürverbot und eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 14 Abs. 1 GG und aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG auf effektiven Rechtsschutz.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.
1. Die Auslegung einfachen Rechts ist allerdings so lange der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen, wie nicht Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind. Eine Grundrechtswidrigkeit liegt noch nicht vor, wenn die Anwendung einfachen Rechts durch den hierzu zuständigen Richter zu einem Ergebnis geführt hat, über das sich streiten lässt (stRspr; vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫; 91, 346 ≪366≫). Ein Verfassungsverstoß unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots des Art. 3 Abs. 1 GG liegt dementsprechend erst dann vor, wenn die Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (stRspr; vgl. BVerfGE 4, 1 ≪7≫).
Danach liegt Willkür in diesem objektiven (vgl. BVerfGE 58, 163 ≪167 f.≫) Sinne hier darin, dass das Landgericht trotz eindeutiger – und im Bundesverfassungsgerichtsbeschluss im vorangegangenen Verfahren dargelegter – Rechtslage auf eine Prüfung der Wesentlichkeit der Geräuschimmissionen verzichtet. Stattdessen kennzeichnet das Landgericht in bloßen Klammerzusätzen den Einwand des Beschwerdeführers, die Geräusche seien nicht wesentlich gewesen, als unsubstantiiert und den Einwand, die Turmuhr und das Gelächter der Gäste des Klägers seien lauter gewesen, als unerheblich. Es hätte jedoch nicht dem Beschwerdeführer oblegen, das Fehlen der Wesentlichkeit der Beeinträchtigung darzulegen, sondern dem Antragsteller, alle Voraussetzungen für einen Verstoß gegen das gerichtliche Unterlassungsgebot – und damit auch die Wesentlichkeit – darzutun und gegebenenfalls zu beweisen (vgl. nur Stöber, in: Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 890 Rn. 13; § 891 Rn. 1).
Die Antragsschrift erwähnt mehrere Fälle deutlich oder laut hörbarer Hühner, jedoch nur einen Fall, in dem „vor allem die Hähne laufend mit lautem Geschrei zu hören” gewesen seien. Schon die Einmaligkeit dieses Vorfalls lässt Zweifel an der Wesentlichkeit der Beeinträchtigung aufkommen, zumal der Antragsteller während der Geräuschbeeinträchtigung ab 5.45 Uhr morgens Gäste zum Frühstück empfangen hatte und somit von einer Störung der Nachtruhe nicht die Rede sein konnte. Das Unterlassungsurteil ist in diesem Punkt nicht klar: Im Tenor ist vom Krähen von Hühnern und Hähnen die Rede, was offensichtlich einem falschen Sprachgebrauch entspricht. In den Gründen wird das Krähen von Hähnen als wesentliche Beeinträchtigung diskutiert. Das Bundesverfassungsgericht hatte im zitierten Beschluss das Unterlassungsurteil dahin verstanden, dass es sich nur auf Hähne bezieht. Der hier angegriffene Beschluss verhält sich zu diesem Punkt überhaupt nicht und lässt das (zum Teil unstreitige) Geräusch von Hühnern für die Verhängung des Ordnungsgelds genügen.
Ob im Ergebnis Hühnergackern unter das Unterlassungsgebot fällt, ist zwar als Frage des bürgerlichen Rechts vom Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden. Der Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt jedoch bereits darin, dass zum einen das Landgericht unter den gegebenen Umständen eine Wesentlichkeitsprüfung versäumt hat und zum zweiten trotz der explizit anderen Auslegung durch Amtsgericht und Bundesverfassungsgericht die Frage nicht einmal aufwirft, ob sich das Unterlassungsgebot auch auf Hühnergackern erstreckt.
2. Die sonstigen vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen bedürfen daneben keiner Entscheidung.
3. Der Beschluss des Landgerichts ist hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Hohmann-Dennhardt, Gaier, Paulus
Fundstellen