Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslieferung zur Strafverfolgung
Beteiligte
Rechtsanwalt Andreas Schulz |
Verfahrensgang
KG Berlin (Zwischenurteil vom 14.08.2000; Aktenzeichen (4) Ausl.A. 855/99 (158/99)) |
KG Berlin (Zwischenurteil vom 20.07.2000; Aktenzeichen (4) Ausl.A. 855/99 (158/99)) |
KG Berlin (Zwischenurteil vom 16.03.2000; Aktenzeichen (4) Ausl.A. 855/99 (158/99)) |
KG Berlin (Zwischenurteil vom 24.01.2000; Aktenzeichen (4) Ausl.A. 855/99 (158/99)) |
Tenor
Die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Russischen Föderation wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von 6 Monaten, einstweilen ausgesetzt.
Die Generalstaatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.
Tatbestand
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde u.a. gegen Beschlüsse des Kammergerichts Berlin vom 20. Juli 2000 und vom 14. August 2000, mit denen das Gericht Einwendungen des Beschwerdeführers gegen die Zulässigkeit der Auslieferung zurückwies; er beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, ihn vor einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde den Behörden der Russischen Föderation zu übergeben.
1. Der Beschwerdeführer soll zur Strafverfolgung an die Russische Föderation ausgeliefert werden. Mit Beschluss vom 24. Januar 2000 erklärte das Kammergericht die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig, einen Antrag des Beschwerdeführers auf erneute Entscheidung verwarf das Gericht mit Beschluss vom 16. März 2000 als unzulässig, weil keine Umstände eingetreten seien, die geeignet wären, eine andere Entscheidung zu begründen.
2. Mit Verbalnote vom 28. Juni 2000 bewilligte das Auswärtige Amt die Auslieferung des Beschwerdeführers. Darin führt das Auswärtige Amt u.a. aus, dass von deutscher Seite im Hinblick auf den Beitritt der Russischen Föderation zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen davon ausgegangen werde, dass der Beschwerdeführer nach seiner Auslieferung in einer Haftanstalt untergebracht würde, die der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 genüge.
3. Mit Schriftsatz vom 4. Juli 2000 und weiteren Schriftsätzen beantragte der Beschwerdeführer eine erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung gemäß § 33 Abs. 1 IRG u.a. mit der Begründung, das Kammergericht habe bisher in keiner Entscheidung geprüft, inwieweit der Auslieferung die menschenunwürdigen Haftbedingungen in russischen Haftanstalten entgegenstünden. Dies sei jedoch geboten, zumal die Haftbedingungen insbesondere in den Untersuchungsgefängnissen sich mittlerweile der Folter annäherten und menschenunwürdige Zustände herrschten. Hierbei legte der Beschwerdeführer verschiedene Zeitungsartikel sowie Auszüge aus dem Jahresbericht von Amnesty International aus dem Jahre 2000 vor.
4. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 20. Juli 2000 wies das Kammergericht den Antrag des Beschwerdeführers auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zurück. Unter anderem führte es aus, der in der Bewilligungsnote enthaltene Zusatz, wonach davon ausgegangen werde, dass der Beschwerdeführer nach seiner Auslieferung in einer Haftanstalt untergebracht werde, die der Europäischen Menschenrechtskonvention genüge, sei als Vorbehalt anzusehen und zur Sicherung der menschenrechtsgemäßen Unterbringung ausreichend, so dass insoweit kein Auslieferungshindernis bestehe. Die hiergegen erhobene Gegenvorstellung des Beschwerdeführers wies das Kammergericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 14. August 2000 zurück. Zu den behaupteten schlechten Haftbedingungen in russischen Gefängnissen habe der Senat bereits in seinem Beschluss vom 20. Juli 2000 Stellung genommen; hierauf werde Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer u.a., einer Auslieferung an die Russische Föderation stehe wegen der menschenunwürdigen Haftbedingungen insbesondere in Untersuchungsgefängnissen Art. 25 GG entgegen. In den Untersuchungsgefängnissen würden noch nicht einmal menschenrechtliche Mindeststandards aufrecht erhalten. Das Kammergericht habe zu Unrecht auf die Bewilligungsnote verwiesen, da darin nur eine unverbindliche Empfehlung enthalten sei. Das Kammergericht habe jedoch von Verfassungs wegen zu prüfen, inwieweit dem Beschwerdeführer im Falle einer Auslieferung eine menschenunwürdige Behandlung drohe; diese Prüfung sei sowohl durch Art. 25 GG als auch durch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geboten. Darüber hinaus seien auch Art. 19 Abs. 4 sowie Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil sich das Kammergericht einer Prüfung von Auslieferungshindernissen verweigere und damit den Vortrag des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis nehme.
III.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
1. Nach §§ 32, 93d Abs. 2 BVerfGG kann im Verfassungsbeschwerde-Verfahren die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vorne herein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 25 ≪35≫; 89, 109 ≪110 f.≫). Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Wegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG zählt es zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, dass eine angedrohte oder verhängte Strafe nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein darf; die zuständigen Organe der Bundesrepublik Deutschland sind deshalb gehindert, an der Auslieferung eines Verfolgten mitzuwirken, wenn dieser eine solche Strafe zu gewärtigen oder zu verbüßen hat (vgl. BVerfGE 75, 1 ≪16 f.≫).
Der Beschwerdeführer hat gegenüber dem Kammergericht substantiiert und unter Vorlage verschiedener Unterlagen dargelegt, dass nach seiner Ansicht die Haftbedingungen in russischen Untersuchungshaftanstalten und Gefängnissen einem menschenrechtlichen Mindeststandard nicht entsprächen. Das Kammergericht hat weder in seinem Beschluss vom 20. Juli 2000 noch in dem Beschluss vom 14. August 2000 zu den vorgetragenen menschenrechtswidrigen Haftbedingungen der Sache nach Stellung genommen, sondern lediglich auf den Wortlaut der Bewilligungsnote verwiesen. Mit Blick auf diesen Umstand erscheint es zweifelhaft, ob das Kammergericht in den angegriffenen Beschlüssen die vorgenannten verfassungsrechtlichen Grundsätze hinreichend berücksichtigt hat. Die Frage, ob trotz eines umfangreichen Sachvortrags das Bestehen eines Auslieferungshindernisses unter Hinweis auf die in der Bewilligungsnote enthaltene Äußerung des Auswärtigen Amtes verneint werden durfte, bedarf eingehender Prüfung.
3. Die damit gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der im Entscheidungsausspruch näher bezeichneten einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so entstünden dem Beschwerdeführer durch die Übergabe an die Behörden der Russischen Föderation erhebliche und möglicherweise nicht wiedergutzumachende Nachteile. Die Verzögerung der Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Russischen Föderation wiegt demgegenüber weniger schwer. Eine Verfolgung der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Straftaten kann im Übrigen auch im Inland erfolgen, da die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin gegen den Beschwerdeführer bereits im Jahre 1999 ein entsprechendes Ermittlungsverfahren eingeleitet hat.
4. Wegen der besonderen Dringlichkeit, die sich daraus ergibt, dass der Beschwerdeführer zwischen dem 28. August und dem 4. September 2000 den Behörden der Russischen Föderation übergeben werden soll, ergeht diese einstweilige Anordnung ohne vorherige Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Sommer, Broß
Fundstellen
Haufe-Index 565312 |
NJW 2001, 3110 |
NStZ 2001, 100 |