Verfahrensgang
SG Osnabrück (Aktenzeichen S 13 KR 191/06) |
Tenor
Die überlange Verfahrensdauer in dem Klageverfahren vor dem Sozialgericht Osnabrück – S 13 KR 191/06 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Der 1958 geborene Beschwerdeführer war selbständig tätig und vertrieb Tierfutter. Seine finanzielle Situation war schwierig und er war nicht krankenversichert.
Am 3. Mai 2005 erlitt der Beschwerdeführer auf dem Gelände einer Hundeschule einen beidseitigen Hirninfarkt und ist seither pflegebedürftig. Der Krankenhausträger, in dessen Klinikum der Beschwerdeführer nach seinem Hirninfarkt mehrere Monate behandelt worden war, macht gegen diesen mit Mahnbescheiden vom Oktober 2005 und vom August 2006 Krankenhaus- und Pflegekosten plus Nebenforderungen und Zinsen in Höhe von über 86.000 EUR sowie weitere Zinsen geltend.
Der Beschwerdeführer steht unter Betreuung für die Vermögens- und Gesundheitssorge, bezieht Sozialhilfe und wird seit 1. September 2008 von der AOK N. krankenversicherungsrechtlich betreut.
Nach seinem Hirninfarkt wurde der Beschwerdeführer von dem Betreiber der Hundeschule, der im April 2005 eine GmbH zum Vertrieb von Pferdefutter gegründet hatte, als Arbeitnehmer dieser GmbH ab 1. Mai 2005 zur Sozialversicherung angemeldet. Die AOK R. stellte mit Bescheid vom 31. März 2006 und Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2006 fest, dass der Beschwerdeführer bei ihr nicht als Arbeitnehmer versicherungspflichtig sei. Eine Mitgliedschaft bei ihr bestehe nicht.
Hiergegen erhob der Beschwerdeführer am 24. Juni 2006 beim Sozialgericht Klage mit dem Ziel feststellen zu lassen, dass er seit dem 1. Mai 2005 Mitglied der beklagten Krankenkasse ist. Mit Schriftsatz vom 18. Juli 2006 begründete die Prozessbevollmächtigte die Klage. Nach Klageerwiderung, weiterem Schriftwechsel und Vorlage angeforderter Unterlagen durch die Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers verfügte die Kammervorsitzende am 23. April 2007 das Verfahren ins Terminsfach. Auf eine Sachstandsanfrage vom 16. Mai 2007 teilte sie mit Schreiben vom 23. Mai 2007 mit, dass das Verfahren zum Termin vorgesehen sei. Allerdings sei mit einer Verhandlung noch auf längere Sicht nicht zu rechnen. Es seien noch weitaus ältere Verfahren vorrangig zu entscheiden. Auf eine weitere Sachstandsanfrage der Prozessbevollmächtigten vom 18. September 2008 teilte die Vorsitzende mit Schreiben vom 25. September 2008 mit, es würden derzeit Klagen aus dem Jahrgang 2004 terminiert. Wann Klagen aus dem Jahrgang 2006 terminiert werden könnten, sei leider noch nicht abzuschätzen. Ein auf Verfügung vom 23. Februar 2010 anberaumter erster Verhandlungstermin beim Sozialgericht am 25. März 2010 wurde wegen Verhinderung des geladenen Zeugen aufgehoben. Ein zweiter Verhandlungstermin am 22. April 2010 wurde wegen Verhinderung der Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers aufgehoben. Mit Urteil vom 27. Mai 2010 wurde die Klage durch das Sozialgericht abgewiesen.
Am 27. Januar 2010 hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Der Beschwerdeführer rügt eine überlange Verfahrensdauer. Er beruft sich auf den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 13. Dezember 2005 (BSG, SozR 4-1500 § 160a Nr. 11), wonach eine generelle Grenze, bei deren Überschreiten in der deutschen Sozialgerichtsbarkeit im Klage- und Berufungsverfahren ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK zu vermuten sei, bei drei Jahren je Gerichtsinstanz liege. Der Sachverhalt sei nicht komplex, es seien weder ein Sachverständigengutachten noch Befundberichte eingeholt worden und es lägen auch keine Verfahrensverzögerungen vor, die nicht durch das Gericht beeinflusst werden könnten. Das Gericht könne sich auch nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgericht vom 2. September 2009 – 1 BvR 3171/08 –, juris, Rn. 22 nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen. Das Sozialgericht berufe sich indirekt auf eine extrem hohe Arbeitsbelastung. Wenn regelmäßig eine Verfahrensdauer von mindestens vier Jahren vor dem Sozialgericht zu verzeichnen sei, sei dies durch die mangelnde Personalausstattung bedingt, die dem Verantwortungsbereich des Landes Niedersachsen zuzuordnen sei.
Das Niedersächsische Justizministerium hat sich zur allgemeinen Belastungssituation in der Sozialgerichtsbarkeit im Zeitraum 1999 bis 2009 und zur Personalentwicklung im richterlichen Bereich geäußert. Die Verfahrensdauer im vorliegenden Verfahren sei mit knapp vier Jahren zwar lang, aber im Hinblick auf den hohen Anstieg der Verfahren bei den Sozialgerichten gerade noch hinnehmbar.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung sind gegeben. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Danach ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
1. Die Dauer des sozialgerichtlichen Klageverfahrens von knapp vier Jahren genügt vorliegend den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG nicht.
Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte gegen jede behauptete Verletzung subjektiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Im Interesse der Rechtssicherheit sind strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit zu klären (vgl. BVerfGE 60, 253 ≪269≫; 88, 118 ≪124≫; 93, 1 ≪13≫). Dem Grundgesetz lassen sich allerdings keine allgemein gültigen Zeitvorgaben dafür entnehmen, wann von einer überlangen, die Rechtsgewährung verhindernden und damit unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist; dies ist vielmehr eine Frage der Abwägung im Einzelfall (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. September 2007 – 1 BvR 775/07 –, NJW 2008, S. 503 ≪503≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. September 2009 – 1 BvR 1304/09 –, GesR 2009, S. 651).
Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie, sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, NJW 2001, S. 214 ≪215≫). Dagegen kann sich der Staat nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 – 1 BvR 901/03 –, NVwZ 2004, S. 334 ≪335≫).
Bei Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls liegt hier eine verfassungswidrig lange Verfahrensdauer vor.
Das Verfahren betraf eine Statusfrage. Es ist für den pflegebedürftigen Beschwerdeführer von grundlegender Bedeutung, ob er ab 1. Mai 2005 gesetzlich krankenversichert war oder nicht. Daran ändert auch nichts, dass der Beschwerdeführer seit 1. September 2008 als Sozialhilfeempfänger von der AOK N. betreut wird. Die Ungewissheit, ob sich Forderungen der behandelnden Krankenhausträgergesellschaften von über 86.000 EUR gegen den Beschwerdeführer richten, ist für die Vermögenssorge des sozialhilfebedürftigen Beschwerdeführers von eminenter Bedeutung.
Das Verfahren war fast vier Jahre anhängig und war jedenfalls seit 23. April 2007, als die Vorsitzende die Sache ins Terminsfach verfügte, sitzungsreif. Den Beteiligten oder Dritten zuzurechnende, nennenswerte Verfahrensverzögerungen sind nicht ersichtlich. Die Schwierigkeit der Sachmaterie verlangte keine weiteren Ermittlungen außer der Zeugenvernehmung, die in der mündlichen Verhandlung stattfand. Gerade wegen der Notwendigkeit der Beweiserhebung durch Zeugenvernehmung und der Gefahr eines Beweisverlusts infolge abnehmenden Erinnerungsvermögens des Zeugen war es geboten, die mündliche Verhandlung zügig anzuberaumen. Der Zeitablauf von fast drei Jahren von der Verfügung ins Terminsfach bis zur ersten Ladung zum 25. März 2010 war offenbar allein dem Umstand geschuldet, dass vorrangig ältere Verfahren abgearbeitet wurden. Die hohe Verfahrensbelastung der Sozialgerichtsbarkeit erster Instanz, auf die das Niedersächsische Justizministerium in seiner Stellungnahme hinweist, ist für sich genommen jedoch kein Grund, der eine längere Verfahrensdauer rechtfertigt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 – 1 BvR 901/03 –, NVwZ 2004, S. 334 ≪335≫). Es sind keine die erhebliche Verfahrensdauer rechtfertigenden Umstände erkennbar.
2. Erledigt sich im Verlauf des verfassungsgerichtlichen Verfahrens das eigentliche Rechtsschutzanliegen des Beschwerdeführers in der Hauptsache, besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, wenn der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt (vgl. BVerfGE 104, 220 ≪232 f.≫; 105, 239 ≪246≫), wenn die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer weiter beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 91, 125 ≪133≫; 99, 129 ≪138≫) oder wenn eine Gefahr der Wiederholung des Grundrechtseingriffs besteht (vgl. BVerfGE 91, 125 ≪133≫; 103, 44 ≪58 ff.≫). Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung, die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet oder wegen ihrer Wirkung geeignet ist, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. Juli 2008 – 1 BvR 547/06 –, juris, Rn. 28). Eine geltend gemachte Verletzung hat ferner dann besonderes Gewicht, wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. Juli 2008 – 1 BvR 547/06 –, juris, Rn. 28).
Das mit der Verfassungsbeschwerde verfolgte Ziel des Beschwerdeführers, eine Entscheidung in dem fachgerichtlichen Klageverfahren zu beschleunigen, hat sich inzwischen erledigt, nachdem am 27. Mai 2010 ein die Klage abweisendes Urteil des Sozialgerichts ergangen ist. Damit ist insofern für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auch das Rechtsschutzbedürfnis entfallen.
Es besteht jedoch die Gefahr der Wiederholung des Grundrechtseingriffs. Es ist zu befürchten, dass sich die erhebliche Verfahrensverzögerung in anderen beim Sozialgericht schon anhängigen oder in Zukunft anhängig werdenden Klageverfahren wiederholen wird. Denn die betroffene Kammer schiebt offenbar schon über Jahre hin einen Verfahrensberg vor sich her mit der Folge, dass ein Verfahren durchschnittlich nach etwa vier Jahren zur Verhandlung kommt, wie sich etwa der Sachstandsmitteilung des Gerichts vom 25. September 2008 entnehmen lässt, wonach im September 2008 Klagen aus dem Jahrgang 2004 verhandelt wurden.
Der Beschwerdeführer hatte im Februar 2010 zwei weitere Verfahren am Sozialgericht Osnabrück in anderen Kammern anhängig, eines aus dem Bereich der Krankenversicherung (S 3 KR 198/09) und eines aus dem Bereich der Sozialhilfe (S 5 SO 26/10). Auch kann aufgrund der gesundheitlichen und sozialen Situation des pflege- und sozialhilfebedürftigen Beschwerdeführers nicht ausgeschlossen werden, dass er in Zukunft weiter um sozialgerichtlichen Rechtsschutz nachsuchen wird, so dass eine Wiederholungsgefahr zu bejahen ist.
Durch die Handhabung der Verfahrenslast durch das Sozialgericht werden die Grundrechte der Rechtsuchenden allgemein vernachlässigt und die Bedeutung der Garantie effektiven Rechtschutzes verkannt. Sowohl die Antworten der Kammervorsitzenden auf die Sachstandsanfragen des Beschwerdeführers als auch die Stellungnahme des Niedersächsischen Justizministeriums deuten darauf hin, dass die Verfahrensverzögerung einer starken Belastung beziehungsweise Überlastung des Gerichts erster Instanz zuzuschreiben ist, die zu einem grundsätzlichen Versagen effektiven Rechtsschutzes durch generell überlange Dauer der Verfahren in der betroffenen Kammer führt.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Unterschriften
Kirchhof, Bryde, Schluckebier
Fundstellen
DStR 2011, 416 |
EuGRZ 2010, 678 |
SGb 2010, 641 |
BayVBl. 2011, 208 |
info-also 2011, 235 |