Verfahrensgang
OLG München (Beschluss vom 25.10.2005; Aktenzeichen 3 Ws 744/05 R) |
LG Augsburg (Beschluss vom 15.09.2005; Aktenzeichen 2 NöStVK 416/05) |
LG Augsburg (Beschluss vom 25.07.2005; Aktenzeichen 2 NöStVK 416/05) |
Tenor
Der Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen/Zweigstelle Donauwörth vom 15. September 2005 – 2 NöStVK 416/05 – verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1, Artikel 20 Absatz 3 und Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen/Zweigstelle Donauwörth zurückverwiesen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 25. Oktober 2005 – 3 Ws 743, 744/05 R – ist damit gegenstandslos.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellung des Sachverhalts bei der gerichtlichen Überprüfung von Maßnahmen im Strafvollzug.
I.
1. Der Beschwerdeführer befindet sich in der Justizvollzugsanstalt Kaisheim in Strafhaft. Am 14. Juli 2005 verhängte die zuständige Abteilungsleiterin gegen den Beschwerdeführer eine Disziplinarmaßnahme in Form einer Einkaufssperre für die Dauer von einem Monat sowie der Anordnung, die Schreibmaschine des Beschwerdeführers zu dessen Habe zu nehmen, weil dieser – so der Wortlaut der Disziplinarverfügung – mehrfach Rechtsberatung betrieben und dadurch die Ordnung der Anstalt gestört habe. Dem Disziplinarverfahren lag die Meldung eines Vollzugsbediensteten zugrunde, dem Ende Juni 2005 ein unverschlossener Umschlag des Beschwerdeführers für einen Mitgefangenen, der sich in der Krankenabteilung befand, übergeben worden war. In dem Umschlag befand sich unter anderem ein an die Strafvollstreckungskammer gerichteter Feststellungsantrag, in dem der Mitgefangene als Antragsteller ausgewiesen war. Da es sich bei diesem Mitgefangenen nach Einschätzung der Anstalt um einen Analphabeten handelte, kam der Verdacht auf, dass der Beschwerdeführer von dem Mitgefangenen für geleistete Rechtsberatung eine Gegenleistung erhalten haben könnte. Bei einer Haftraumkontrolle am 6. Juli 2005 wurden im Haftraum des Beschwerdeführers auch Unterlagen von anderen Mitgefangenen gefunden.
2. Gegen die Disziplinarverfügung wandte sich der Beschwerdeführer mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Er machte geltend, die Mitgefangenen nicht beraten, sondern lediglich die von diesen vorbereiteten Schreiben durchgesehen und in ordentliches Deutsch übertragen zu haben. Dafür habe er weder eine Gegenleistung erhalten noch eine solche verlangt. Der Mitgefangene, der nicht Deutsch schreiben könne, in seiner eigenen Sprache aber kein Analphabet sei, habe sich Selbstformuliertes von einem Landsmann ins Deutsche übersetzen lassen und ihn, den Beschwerdeführer, dann ebenfalls aus sprachlichen Gründen um Hilfe ersucht.
Die Vollzugsanstalt unterschied in ihrer Stellungnahme im gerichtlichen Verfahren zwischen „Disziplinarmaßnahme” und „Versagung der Erlaubnis zum Besitz einer Schreibmaschine”. Grund für die Verhängung der Disziplinarmaßnahme sei gewesen, dass der Beschwerdeführer mehrfach unerlaubte Rechtsberatung betrieben und dadurch die Ordnung der Anstalt gestört habe. Im Rahmen des am 14. Juli 2005 durchgeführten Disziplinarverfahrens habe sie fünf namentlich benannte Mitgefangene als Zeugen vernommen; hieraus habe sich ergeben, dass der Beschwerdeführer Schriftsätze angefertigt und dafür in Einzelfällen auch Gegenleistungen erhalten habe. Der Widerruf der Erlaubnis zum Besitz der Schreibmaschine und die Anordnung, diese zur Habe zu nehmen, seien gemäß § 70 Abs. 3 und Abs. 2 StVollzG erfolgt, weil der weitere Besitz die Ordnung der Anstalt gefährden würde; es sei zu befürchten, dass der Beschwerdeführer, der sich gegenüber dem Disziplinarvorwurf uneinsichtig verhalten habe, weiterhin auf der Schreibmaschine Schriftsätze im Rahmen unerlaubter Rechtsberatung fertigen werde.
Auf die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt erwiderte der Beschwerdeführer, dass die Wiedergabe der Zeugenaussagen durch die Anstalt unzutreffend sei – einer der genannten Zeugen, der Mitgefangene J., habe sich am genannten Vernehmungstag auch gar nicht in der Anstalt befunden –, und beantragte, Aussagen der betreffenden Personen einzuholen.
3. Einen vom Beschwerdeführer in dieser Sache gestellten Eilantrag wies das Landgericht Augsburg mit Beschluss vom 25. Juli 2005 zurück, weil dem Beschwerdeführer keine schwerwiegenden Nachteile drohten und der Hauptsacheantrag wenig Aussicht auf Erfolg habe.
4. Mit Beschluss vom 15. September 2005 wies das Landgericht den Hauptsacheantrag als unbegründet zurück. Der Beschwerdeführer habe gegen die Verhaltensvorschrift des § 82 Abs. 1 Satz 2 StVollzG verstoßen, indem er mehrere Mitgefangene gegen Entgelt bei der Verrichtung ihrer gerichtlichen und anderer Belange unterstützt und dadurch subkulturelle Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen habe, welche den Nährboden für subkulturelle Machenschaften der Gefangenen oder Zwistigkeiten untereinander darstellten. Schon aufgrund der eigenen Einlassung des Beschwerdeführers stehe fest, dass er für mehrere Gefangene „Rechtsberatung in einem weiteren Sinne” betrieben habe. Es gebe auch nicht den mindesten Zweifel daran, dass der Beschwerdeführer entgegen seiner Behauptung dies gegen Entgelt in welcher Form auch immer (Kaffee, Tabak und anderes) getan habe und nicht etwa aus reiner Menschenfreundlichkeit. Diese Erkenntnis schöpfe das Gericht aus seiner jahrelangen Erfahrung im Strafvollzug, weswegen es keiner weiteren Ermittlungen bedürfe. Wer daran glaube, der Antragsteller hätte seine Dienste umsonst und uneigennützig erbracht, verkenne die Realitäten des Strafvollzugs und insbesondere die des geschlossenen Regelvollzugs. Die Erlaubnis zum Besitz der Schreibmaschine habe gemäß § 70 Abs. 3 StVollzG widerrufen werden dürfen, weil der Beschwerdeführer die Sicherheit und Ordnung der Anstalt unter Verwendung dieser Schreibmaschine gefährdet habe.
In der beigezogenen Akte des landgerichtlichen Verfahrens befinden sich neben der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Unterlagen aus dem Disziplinarverfahren, in denen die Aussage des Beschwerdeführers sowie mehrerer Mitgefangener festgehalten sind. Keiner der Mitgefangenen stellt danach in Abrede, dem Beschwerdeführer gelegentlich Gefälligkeiten – wie etwa das Abgeben von Tabak – erwiesen zu haben, alle bestreiten jedoch einen direkten Zusammenhang mit den vom Beschwerdeführer geleisteten Hilfestellungen. Während die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt gemäß richterlicher Verfügung vom 12. August 2005 dem Beschwerdeführer zur Stellungnahme zugeleitet wurde, wurde ihm von den Aussageprotokollen ausweislich der Zuleitungsverfügung keine Kenntnis gegeben.
5. Die gegen die Entscheidung des Landgerichts erhobene Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht München mit Beschluss vom 25. Oktober 2005 als unzulässig, weil es die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG als nicht gegeben ansah.
Entscheidungsgründe
II.
1. Der Beschwerdeführer rügt mit der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 10, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Die von ihm benannten Beweismittel seien nicht berücksichtigt worden. Der Wahrheitsgehalt der Behauptungen über den Inhalt der Zeugenaussagen hätte überprüft werden müssen. Sein Begehren auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Disziplinarmaßnahme sei übergangen worden. Seine Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG seien dadurch verletzt, dass ihm der Grundrechtsschutz verweigert werde. Das Oberlandesgericht habe seine Rechtsbeschwerde als zulässig behandeln müssen. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes habe das Landgericht zu Unrecht die Gefahr des Erleidens schwerwiegender und irreparabler Nachteile verneint und dadurch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
2. Der Beschwerdeführer hat ferner einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG gestellt. Diesen Antrag hat die Kammer mit Beschluss vom 19. Januar 2006 abgelehnt.
3. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Das Landgericht habe den Sachverhalt ausreichend ermittelt. Es habe auf gerichtskundige Erfahrungssätze zurückgreifen dürfen.
Auf eine – in der Tat nicht vorhandene – Aussage des Gefangenen J. habe das Gericht seine Entscheidung nicht gestützt. Bei der Angabe, dass auch der Mitgefangene J. vernommen worden sei, habe es sich um ein Versehen gehandelt; dies habe das Gericht dem ihm übersandten Disziplinarvorgang entnehmen können, in dem dieser Gefangene als auf Transport befindlich vermerkt gewesen sei.
Darauf, ob es sich bei den Unterstützungsleistungen des Beschwerdeführers um Rechtsberatung im Rechtssinne gehandelt habe, komme es ausweislich der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nicht an. Entscheidend sei nach deren Ansicht, ob der Beschwerdeführer ein „Entgelt in welcher Form auch immer” erhalten habe. Dies sei nach den protokollierten Aussagen der Mitgefangenen, auf deren Niederschrift das Gericht Bezug genommen habe, der Fall; die Mitgefangenen hätten eine gelegentliche Abgabe von Kaffe und Tabak nicht in Abrede gestellt, sondern nur bestritten, dass dies „direkt für die Hilfe” geschehen sei.
Unabhängig von der Frage, ob der Beschwerdeführer für seine Dienste ein Entgelt erhalten habe, liege jedenfalls eine Ordnungswidrigkeit nach Art. 1 § 8 Abs. 1 RBerG vor, die eine Störung der Anstaltsordnung sei.
III.
1. Soweit der Beschwerdeführer sich gegen die Entscheidung des Landgerichts vom 25. Juli 2005 über seinen Eilantrag wendet, ist die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen; sie ist insoweit wegen Überschreitens der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG unzulässig. Der Beschwerdeführer macht geltend, das Gericht habe in seiner Eilentscheidung zu Unrecht die Gefahr des Erleidens schwerwiegender und irreparabler Nachteile verneint und dadurch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Er rügt somit eine eilverfahrensspezifische Grundrechtsverletzung, der im Hauptsacheverfahren nicht mehr abgeholfen werden konnte und gegen die er folglich vor Ausschöpfung des Rechtswegs im Hauptsacheverfahren Verfassungsbeschwerde hätte erheben können (vgl. BVerfGE 104, 65 ≪70 f.≫). Die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG für eine solche Verfassungsbeschwerde begann mit der Zustellung der Eilentscheidung des Landgerichts zu laufen und war daher zum Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde im November 2005 abgelaufen.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen; dies ist zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Über die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde insoweit maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, so dass die Entscheidungszuständigkeit der Kammer (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) gegeben ist.
a) Die Verfassungsbeschwerde ist im dargelegten Umfang zulässig. Ihrer Zulässigkeit, soweit sie die verhängte Einkaufssperre betrifft, steht nicht entgegen, dass diese Maßnahme schon vollstreckt ist. Ein Rechtsschutzbedürfnis für die Verfassungsbeschwerde ergibt sich insoweit bereits daraus, dass die Rechtmäßigkeit der Disziplinarmaßnahme bei zukünftigen Prognoseentscheidungen und bei der Festsetzung eventueller künftiger derartiger Maßnahmen von Bedeutung sein kann (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Januar 1994 – 2 BvR 1723/93 –, StV 1994, S. 263, und vom 11. Februar 1994 – 2 BvR 1750/93 –, StV 1994, S. 437 ≪438≫).
Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht auch nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer, obwohl er mit der Verfassungsbeschwerde die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) rügt, keine Anhörungsrüge gemäß § 120 StVollzG in Verbindung mit § 33 a StPO erhoben hat.
Wegen des Umstandes, dass der Entscheidungsfindung des Landgerichts Protokolle der Aussagen von Mitgefangenen zugrundegelegen haben, die ihm nicht zur Stellungnahme zugeleitet wurden, musste der Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde eine Anhörungsrüge schon deshalb nicht erheben, weil er von diesem Umstand, sofern darin ein Gehörsverstoß lag, keine Kenntnis haben konnte. Auf die Frage, ob eine Anhörungsrüge – auch im Falle der Kenntnis – im vorliegenden Fall schon deshalb unstatthaft gewesen wäre, weil das Oberlandesgericht, gegen dessen unanfechtbare Entscheidung eine Anhörungsrüge nach § 33 a StPO allein in Betracht kommt, den hier in Rede stehenden Gehörsverstoß jedenfalls nicht unmittelbar selbst begangen, sondern allenfalls einem Verstoß seitens des Landgerichts nicht abgeholfen hat, kommt es daher nicht an.
Von dem genannten Umstand abgesehen wäre die Einlegung des Rechtsbehelfs nach § 120 StVollzG i.V.m. § 33 a StPO offensichtlich ohne Aussicht auf Erfolg gewesen. Auf einen offensichtlich aussichtslosen Rechtsbehelf kann der Beschwerdeführer als Voraussetzung der Zulässigkeit seiner Verfassungsbeschwerde nicht verwiesen werden (vgl. BVerfGE 70, 180 ≪187 f.≫; 79, 1 ≪20≫; 102, 197 ≪208≫). Dies gilt auch für die Anhörungsrüge. Einem Beschwerdeführer kann daher nicht entgegengehalten werden, dass er zunächst eine Anhörungsrüge hätte erheben müssen, wenn seine Berufung auf Art. 103 Abs. 1 GG offensichtlich allein auf unzutreffenden Annahmen über Inhalt und Grenzen dieses Grundrechts beruht (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. März 2006 – 2 BvR 917/05, 2 BvR 2174/05 –, EuGRZ 2006, S. 294 ≪295 f.≫). Der Beschwerdeführer geht bei seiner Rüge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör von der Annahme aus, jede Entscheidung, die einen behaupteten Grundrechtsverstoß zu Unrecht verneint, verletze bereits dadurch auch den Anspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG. Auf diese offensichtlich unzutreffende Annahme kann eine Anhörungsrüge nicht mit Aussicht auf Erfolg gestützt werden. Auch die Rüge des Beschwerdeführers, sein Begehren auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Disziplinarmaßnahme sei übergangen worden, ist nicht nachvollziehbar; ihre Erhebung im Rahmen eines Verfahrens nach § 33 a StPO wäre offensichtlich aussichtslos gewesen; denn das Landgericht hat geprüft, ob die Anordnung der Disziplinarmaßnahme rechtmäßig war. Dass diese Prüfung nicht zu dem vom Beschwerdeführer für richtig gehaltenen Ergebnis geführt hat, begründet keinen Gehörsverstoß (vgl. BVerfGE 69, 141 ≪143 f.≫); auch insoweit geht der Beschwerdeführer ersichtlich von unzutreffenden Annahmen über den Inhalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus.
b) Soweit sie sich gegen den Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 15. September 2005 richtet, ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Dabei kann offenbleiben, ob der grundrechtliche Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise dadurch verletzt ist, dass das Landgericht ihm die von der Justizvollzugsanstalt gefertigten Aufzeichnungen der Aussagen Mitgefangener nicht zur Stellungnahme zugeleitet hat, oder ob der Inhalt dieser Aussagen dem Beschwerdeführer bereits aus dem Disziplinarverfahren innerhalb der Anstalt bekannt war und hieraus abgeleitet werden kann, dass in der unterlassenen Zuleitung zur Stellungnahme kein Gehörsverstoß lag, der zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung führen müsste. Der Beschluss verletzt den Beschwerdeführer jedenfalls in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG, weil er auf unzureichender Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts beruht.
aa) Die Anwendung des einfachen Rechts und die dazu erforderliche Aufklärung des Sachverhalts sind grundsätzlich Sache der Fachgerichte; diese unterliegen dabei jedoch einer Kontrolle daraufhin, ob das Willkürverbot verletzt ist oder Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫ – stRspr). Dies ist hier der Fall.
Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen kann die rechtsstaatlich gebotene Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten materiellen Rechte nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht (vgl. BVerfGE 101, 275 ≪294 f.≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2004 – 2 BvR 779/04 –, EuGRZ 2004, S. 656 ≪659≫). Dies gilt auch für die gerichtliche Überprüfung eingreifender Maßnahmen im Strafvollzug. Das Rechtsstaatsprinzip, die materiell berührten Grundrechte und das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG sind verletzt, wenn grundrechtseingreifende Maßnahmen im Strafvollzug von den Gerichten ohne zureichende Sachverhaltsaufklärung als rechtmäßig bestätigt werden (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. April 1999 – 2 BvR 827/98 –, NStZ 1999, S. 428 ≪429≫, und vom 12. November 1997 – 2 BvR 615/97 –, NStZ-RR 1998, S. 121 ≪122≫).
Besondere Bedeutung kommt einer verlässlichen Feststellung der Tatsachen, die der Rechtsanwendung zugrundegelegt werden, bei der gerichtlichen Überprüfung von Disziplinarmaßnahmen zu. Disziplinarmaßnahmen sind strafähnliche Sanktionen, für die der aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Schuldgrundsatz gilt. Dieser Grundsatz verbietet es, eine Tat ohne Schuld des Täters strafend oder strafähnlich zu ahnden (vgl. BVerfGE 20, 323 ≪331≫; 45, 187 ≪228≫; 50, 125 ≪133≫; 50, 205 ≪214 f.≫; 81, 228 ≪237≫; 86, 288 ≪313≫). Die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme auf der Grundlage eines bloßen Verdachts stellt daher einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar. Disziplinarmaßnahmen dürfen nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei geklärt ist, ob ein schuldhafter Pflichtverstoß überhaupt vorliegt (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Februar 2004 – 2 BvR 1709/02 –, BVerfGK 2, 318 ≪323 f.≫). Hinreichender Tatsachenfeststellungen bedarf es auch für die gebotene Prüfung, ob die verhängten Sanktionen insgesamt schuldangemessen und auch sonst verhältnismäßig sind (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Januar 1994 – 2 BvR 1723/93 –, StV 1994, S. 263).
Das Landgericht hat die Anforderungen verkannt, die sich aus den Grundrechten des Beschwerdeführers für die Sachverhaltsaufklärung bei der Überprüfung von Disziplinarmaßnahmen ergeben.
Es ist schon unklar, welche konkreten, dem Beschwerdeführer von der Vollzugsanstalt vorgehaltenen Verhaltensweisen das Gericht als erwiesen angesehen hat. Während die Vollzugsanstalt dem Beschwerdeführer vorwarf, er habe Rechtsberatung betrieben, indem er für Mitgefangene Schriftsätze verfasst habe, und der Beschwerdeführer dies bestreitet, hat die Kammer hierzu nur festgestellt, er habe „Rechtsberatung in einem weiteren Sinne” betrieben, ohne dies näher zu konkretisieren. Welche konkreten Tätigkeiten der Beschwerdeführer für Dritte entfaltet haben soll, wurde nicht geklärt. Nähere Feststellungen zu den dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Verhaltensweisen waren jedoch erforderlich; denn es ging um die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Disziplinarmaßnahme, die die Anstalt damit begründet hatte, dass der Beschwerdeführer mehrfach unerlaubte Rechtsberatung betrieben und damit die Ordnung der Anstalt gestört habe. Die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme für ein von der Anstalt in dieser Weise umschriebenes Verhalten konnte als rechtmäßig nur auf der Grundlage von Tatsachenfeststellungen bestätigt werden, die eine Subsumtion unter den Begriff der Rechtsberatung im Sinne des Rechtsberatungsgesetzes und unter die dort aufgestellten Kriterien für deren Zulässigkeit (Art. 1 § 1 Abs. 1 RBerG) erlaubten. An der Feststellung der für diese Subsumtion erforderlichen Tatsachen fehlt es hier.
Sollte dem Beschluss des Landgerichts die Auffassung zu entnehmen sein, auf eine Prüfung der Vereinbarkeit des Verhaltens des Beschwerdeführers mit den Bestimmungen des Rechtsberatungsgesetzes und die dazu erforderlichen Tatsachenfeststellungen komme es nicht an, weil jede mit konkret vereinbarten Gegenleistungen verbundene Hilfstätigkeit für Mitgefangene grundsätzlich schon im Hinblick auf die damit verbundene Gefahr subkultureller Abhängigkeiten einen disziplinarisch zu ahndenden Pflichtverstoß darstelle, so könnte diese Annahme – unabhängig von der Frage, inwieweit sie inhaltlich tragfähig ist – die getroffene Entscheidung schon deshalb nicht rechtfertigen, weil das Gericht nur die von der Anstalt tatsächlich verhängte Disziplinarmaßnahme einschließlich der dazugehörigen Ermessensausübung auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Januar 1994 – 2 BvR 1723/93 –, StV 1994, S. 263, und vom 28. Februar 1994 – 2 BvR 1567/93 –, NJW 1995, S. 1016 ≪1017≫), nicht dagegen eigene Disziplinargewalt auszuüben hatte. Das Gericht durfte daher die Rechtmäßigkeit der verhängten Disziplinarmaßnahme nicht unter Auswechselung der von der Anstalt angeführten Gründe für die angenommene Pflichtwidrigkeit des sanktionierten Verhaltens bestätigen, sondern hatte die Maßnahme auf der Grundlage des von der Anstalt erhobenen Vorwurfes der unerlaubten Rechtsberatung zu prüfen.
Allerdings hat die Anstalt Wert auf die Feststellung gelegt, der Beschwerdeführer habe für die geleistete Beratung Gegenleistungen erhalten, obwohl es für die Frage, ob sein Verhalten gegen das Rechtsberatungsgesetz verstieß, auf diese Feststellung nicht ankam (Art. 1 § 1 Abs. 1 RBerG). Daraus ergab sich für das Gericht jedoch keine Berechtigung, den Vorwurf der unerlaubten Rechtsberatung, auf den die Anstalt ihre Disziplinarverfügung ausdrücklich gestützt hatte, dahingehend abzuwandeln, dass die Disziplinarmaßnahme wegen der Gegenleistungsabhängigkeit der erbrachten Hilfeleistung und der damit verbundenen Schaffung von Abhängigkeitsverhältnissen habe verhängt werden dürfen. Die Anstalt selbst hat dies weder unmittelbar noch mittelbar – durch Nennung von Gründen für die Pflichtwidrigkeit von Hilfestellungen, für die der Betreffende Gegenleistungen erhält – als den mit der Disziplinarmaßnahme zu ahndenden Pflichtverstoß identifiziert.
Auch insoweit wären im Übrigen die gerichtlichen Sachverhaltsfeststellungen unzureichend gewesen. Der bloße Hinweis des Richters auf seine langjährigen Erfahrungen als Richter einer Strafvollstreckungskammer, nach denen die Realitäten des Strafvollzuges und insbesondere die des geschlossenen Regelvollzuges verkenne, wer an eine uneigennützige Dienstleistung glaube, genügte hier nicht. Die Annahme, dass im Strafvollzug Hilfsdienste für Mitgefangene typischerweise nicht ohne Gegenleistung erbracht werden, entspricht einer in Fachkreisen verbreiteten Einschätzung. Auch wenn entsprechende in der Praxis gewonnene Erkenntnisse vorliegen und in die Würdigung konkreter Sachverhalte einfließen mögen, können sie diese aber jedenfalls nicht ersetzen und erübrigen nicht die Auseinandersetzung mit konkreten Einwänden gegen die Richtigkeit der anstaltlichen Sachverhaltsdarstellung. Im vorliegenden Fall fehlt bereits jede nähere Darstellung und Würdigung – seitens der Anstalt wie auch seitens des Gerichts – der konkreten Einlassungen der von der Anstalt befragten Mitgefangenen. Dementsprechend fehlt auch jede näher begründete Feststellung zu der Frage, welcher Art das behauptete Gegenleistungsverhältnis war – ob es sich etwa um die Erbringung oder konkrete Zusicherung konkret bestimmter Gegenleistungen für konkret bestimmte Hilfsdienste handelte oder nur um ein allgemeines Verhältnis wechselseitiger Bereitschaft zu gelegentlich auch tatsächlich erbrachten Gefälligkeiten –, sowie jede nähere Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern nach dem konkreten Charakter dieses Verhältnisses die Gegenseitigkeitsbeziehung tatsächlich ordnungsstörende Abhängigkeitsverhältnisse begründete. Da Gefangenen nicht jede Gegenseitigkeitsbeziehung und damit jede Form des normalen menschlichen Miteinander als ordnungsstörend verboten sein kann, war eine Abgrenzung hier nicht entbehrlich.
bb) Unzureichend sind nach alledem auch die Tatsachenfeststellungen des Gerichts zur Frage der Rechtmäßigkeit des Widerrufs der Besitzerlaubnis für die Schreibmaschine. Auf eine verfassungsrechtliche Beurteilung der diesbezüglich mit § 70 Abs. 3 StVollzG begründeten Entscheidung im Hinblick darauf, dass die – unbefristete – Anordnung, die Schreibmaschine des Beschwerdeführers sei zur Habe zu nehmen, in der Disziplinarverfügung vom 14. Juli 2005 nicht als Widerruf einer Besitzerlaubnis gemäß § 70 Abs. 3 StVollzG, sondern als Disziplinarmaßnahme getroffen worden war, kommt es danach nicht an.
3. Ob durch die angegriffene Entscheidung des Landgerichts weitere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt worden sind, kann angesichts des festgestellten Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG offenbleiben.
4. Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf dem festgestellten Grundrechtsverstoß. Sie ist daher aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts wird damit gegenstandslos. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich auch gegen die Disziplinarmaßnahme der Justizvollzugsanstalt richtet, ist dem Anliegen des Beschwerdeführers dadurch Rechnung getragen, dass aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Zurückverweisung der Sache (§ 95 Abs. 2 BVerfGG) das Landgericht die Maßnahme in vollem Umfang unter Beachtung der Grundrechte des Beschwerdeführers erneut zu überprüfen haben wird.
5. Da die Verfassungsbeschwerde im Wesentlichen Erfolg hatte, hat der Freistaat Bayern gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten (vgl. BVerfGE 32, 1 ≪39≫; 53, 366 ≪407≫). Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1974871 |
NPA 2008 |
StraFo 2007, 24 |