Verfahrensgang
LAG Hamm (Beschluss vom 05.05.2014; Aktenzeichen 13 Sa 1594/13) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen einen Beschluss des Landesarbeitsgerichts, mit dem ein Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und eine Berufung als unzulässig verworfen wurde.
1. Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer versäumte die auf Antrag verlängerte Frist zur Berufungsbegründung. Der betreffende Schriftsatz wurde nicht, wie von dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers angewiesen, rechtzeitig per Telefax an das Landesarbeitsgericht übermittelt. Zwar war der Fristablauf im elektronisch geführten Fristenkalender der Kanzlei eingetragen, doch unterlief der zuständigen Rechtsanwaltsfachangestellten ein Versehen. Sie war seit 13 Jahren in der Kanzlei beschäftigt und hatte, was regelmäßige Kontrollen ergaben, bei der Eintragung, Überwachung und Einhaltung von Fristen zuverlässig und fehlerfrei gearbeitet. Sie bemerkte den Fehler gegen 23:30 Uhr am selben Tag und verständigte den Prozessbevollmächtigten telefonisch zu Hause. Eine Fahrt zur Kanzlei erschien zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sinnvoll. Daher vervollständigte der Prozessbevollmächtigte den auf seinem privaten Rechner gespeicherten Schriftsatz und versuchte, ihn von seinem privaten Telefaxgerät aus zwischen 23:54 Uhr und 0:15 Uhr an das Landesarbeitsgericht zu übermitteln. Wegen mehrfachen Papierstaus an seinem Faxgerät gelangte der Schriftsatz nur teilweise und jedenfalls ohne Seite mit der Unterschrift an das Landesarbeitsgericht; eine vollständige Übermittlung gelang erst am nächsten Tag mit dem Telefaxgerät der Kanzlei. Der Beschwerdeführer beantragte unter Glaubhaftmachung des Geschehensablaufs Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Das Landesarbeitsgericht wies den Antrag auf Wiedereinsetzung zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Ein die Berufung begründender Schriftsatz sei fristgerecht nicht eingegangen. Die Fristversäumung sei verschuldet, weil der Prozessbevollmächtigte die Aufgabe übernommen habe, den Schriftsatz zu übermitteln, und dem Beschwerdeführer dessen Verschulden zuzurechnen sei. Werde ein fristgebundener Schriftsatz sehr spät per Telefax übermittelt, müsse dafür Sorge getragen werden, dass ein funktionstüchtiges Sendegerät benutzt und so rechtzeitig mit der Übermittlung begonnen werde, dass unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss bis 24:00 Uhr zu rechnen sei. Dies sei hier nicht geschehen. Der Prozessbevollmächtigte hätte die Übertragung überwachen müssen; hierbei hätten ihm die wiederholten Papierstaus auffallen müssen. Die Rechtsbeschwerde wurde vom Landesarbeitsgericht nicht zugelassen.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den die Berufung verwerfenden Beschluss. Er sieht sich in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig; insbesondere sei der Rechtsweg ausgeschöpft. Eine Anhörungsrüge sei nicht in Betracht gekommen, da keine Gehörsverletzung gerügt worden sei und die gerügten Grundrechtsverletzungen selbst über eine erfolgreiche Anhörungsrüge nicht zu beseitigen gewesen wären.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), weil sie unzulässig ist. Der Beschwerdeführer hat gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts keine Anhörungsrüge nach § 78a ArbGG erhoben.
1. Zwar macht der Beschwerdeführer weder ausdrücklich noch der Sache nach eine Gehörsverletzung zum Gegenstand seiner Verfassungsbeschwerde. Dennoch war eine Anhörungsrüge mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) geboten. Der Grundsatz verlangt, dass Beschwerdeführende alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 ≪414≫; 112, 50 ≪60≫). Das kann auch bedeuten, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit den gegebenen Rechtsbehelfen und insbesondere mit einer Anhörungsrüge selbst dann anzugreifen, wenn Beschwerdeführende im Rahmen der ihnen insoweit zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen wollen, durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit wahren, dass bei Erfolg der Gehörsverletzungsrüge in den vor den Fachgerichten gegebenenfalls erneut durchzuführenden Verfahrensschritten auch diejenigen Grundrechtsverletzungen beseitigt werden, durch die sie sich beschwert fühlen. Anders ist es, wenn sich die Erhebung der Anhörungsrüge als unzumutbar erweist. Davon ist aber nicht auszugehen, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten wäre, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden (vgl. BVerfGE 134, 106 ≪115 f. Rn. 27 f.≫).
2. Danach wäre es dem Beschwerdeführer zumutbar gewesen, Anhörungsrüge nach § 78a ArbGG zu erheben, denn diese war statthaft und auch begründet.
Der angegriffene Verwerfungsbeschluss konnte, da das Landesarbeitsgericht die Rechtsbeschwerde nach § 77 ArbGG nicht zugelassen hat, nicht mit ordentlichen Rechtsmitteln oder Rechtsbehelfen angegriffen werden. Jedoch wäre eine Anhörungsrüge statthaft gewesen. Die vom Beschwerdeführer gerügte Verletzung ist ein Gehörsverstoß, da neben den für den Zivilprozess maßgeblichen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. BVerfGE 85, 337 ≪345≫; 97, 169 ≪185≫) auch Art. 103 Abs. 1 GG Anwendung findet; es handelt sich um einander ergänzende verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantien (vgl. BVerfGE 42, 128 ≪130 f.≫). Die Anhörungsrüge hätte auch Aussicht auf Erfolg gehabt, denn das Landesarbeitsgericht hat die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in verfassungsrechtlich nicht zu billigender Weise überspannt.
a) Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass sowohl die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Maß an rechtlichem Gehör eröffnen, das sachangemessen ist, um dem in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden, und das den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfGE 74, 228 ≪233 f.≫).
Die Garantie effektiven Rechtsschutzes verbietet den Gerichten, ein von der Verfahrensordnung eröffnetes Rechtsmittel ineffektiv zu machen und für Beschwerdeführende „leer laufen” zu lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 ≪99≫; 96, 27 ≪39≫). Gerichte dürfen bei der Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht von Voraussetzungen abhängig machen, die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. BVerfGE 78, 88 ≪99≫; 112, 185 ≪208≫; 125, 104 ≪137≫).
Bei Versäumnis einer Frist hängt die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, davon ab, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verlangt insoweit, bei Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden Vorschriften die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung nicht zu überspannen (vgl. BVerfGE 40, 88 ≪91≫; 67, 208 ≪212 f.≫; stRspr).
b) Die Fachgerichte haben diese einander ergänzenden verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien unbeschadet ihrer grundsätzlichen Kompetenz zur Auslegung und Anwendung des einfachen Verfahrensrechts bei ihren Entscheidungen zu beachten (vgl. BVerfGE 42, 128 ≪130 f.≫; 44, 302 ≪306≫). Dem widerspricht es, wenn Rechtsuchenden die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihrer anwaltlichen Vertretung versagt wird, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Spruchkörpers nicht rechnen mussten (vgl. BVerfGE 79, 372 ≪376≫).
aa) Nach ständiger Rechtsprechung von Bundesarbeitsgericht und Bundesgerichtshof (BAG, Urteil vom 7. Juli 2011 – 2 AZR 38/10 –, juris, Rn. 16 f.; BGH, Beschluss vom 26. Februar 2015 – III ZB 55/14 –, juris, Rn. 8, m.w.N.) haben Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zwar durch organisatorische Vorkehrungen und insbesondere durch einen Fristenkalender sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig erstellt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Sie müssen aber nicht jeden zur Fristwahrung erforderlichen Arbeitsschritt persönlich ausführen, sondern sind grundsätzlich befugt, einfachere Verrichtungen zur selbstständigen Erledigung ihrem geschulten Personal zu übertragen. Dies gilt auch für die Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes mittels eines Telefaxgerätes. Durch allgemeine Anweisungen muss Sorge dafür getragen werden, dass bei normalem Lauf der Dinge die Erledigung der fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders von einer dazu beauftragten Bürokraft nochmals und abschließend selbstständig überprüft wird. Einmaliges Fehlverhalten einer bislang stets zuverlässig arbeitenden Kraft kann nicht als Verschulden von Prozessbevollmächtigten gewertet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juni 2003 – XII ZB 86/02 –, juris, Rn. 6).
bb) Danach lag kein Verschulden des Prozessbevollmächtigten vor, das dem Beschwerdeführer zuzurechnen war. Vielmehr hat das Landesarbeitsgericht bei seiner Entscheidung die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die die Gerichte bei der Auslegung von § 233, § 85 Abs. 2 ZPO zu beachten haben, verkannt. Die Organisation in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten entsprach höchstrichterlichen Anforderungen, denn es wird ein Fristenkalender geführt und es besteht die Anordnung, dass die diensthabende Kanzleikraft vor Büroschluss anhand des Fristenkalenders überprüft, ob fristgebundene Sachen tatsächlich erledigt, also Schriftsätze tatsächlich versandt wurden. Die für die Fristenkontrolle zuständige Rechtsanwaltsfachangestellte wurde vom Prozessbevollmächtigten auch regelmäßig überprüft und dabei ergaben sich keine Zweifel an der Eignung und Zuverlässigkeit dieser Mitarbeiterin.
Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten ergibt sich auch nicht daraus, dass er selbst versucht hat, die Berufungsbegründung fristwahrend mit seinem privaten Telefaxgerät zu übermitteln. Dies war nicht als regulärer Ablauf geplant, sondern der Versuch, ein singuläres Versäumnis der Rechtsanwaltsfachangestellten zu heilen. Diese besonderen Umstände hat das Landesarbeitsgericht unberücksichtigt gelassen. Soweit es darauf abstellt, der Bevollmächtigte habe die Übermittlung nicht überwacht, erlangt dies keine Bedeutung, weil schon das vorherige Versäumnis seiner Mitarbeiterin einem schuldhaften Fristversäumnis entgegenstand.
c) Die Anhörungsrüge war nicht entbehrlich. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers war eine Beseitigung der gerügten Rechtsverletzungen auf diesem Wege möglich. Stellt das Gericht auf eine Anhörungsrüge hin fest, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wurde, hat es der Rüge nach § 78a Abs. 5 Satz 1 ArbGG abzuhelfen, indem es das Verfahren fortführt. Hier hätte das Landesarbeitsgericht Wiedereinsetzung gewähren müssen, womit die Berufung – vorbehaltlich des Fehlens anderer Zulässigkeitsmängel – jedenfalls zulässig gewesen wäre. Damit wären auch die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Grundrechtsverletzungen geheilt worden.
3. Da der statthafte Rechtsbehelf der Anhörungsrüge nicht eingelegt worden ist, erweist sich die Verfassungsbeschwerde nicht nur in Bezug auf die in Rede stehende Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG, deren Heilung die Anhörungsrüge bezweckt, sondern insgesamt als unzulässig. Dies gilt jedenfalls hier, weil sich die behauptete Gehörsverletzung auf den gesamten Streitgegenstand des fachgerichtlichen Verfahrens erstreckt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2005 – 1 BvR 644/05 –, juris, Rn. 10).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Gaier, Masing, Baer
Fundstellen
FA 2016, 26 |
NZA 2016, 122 |
AnwBl 2015, 976 |
EzA 2016 |
AUR 2016, 126 |