Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwirkung der Rechtsweggarantie; Anfechtung einer Unterwerfungsverhandlung im Steuerstrafverfahren
Leitsatz (amtlich)
Die Befugnis zur Anrufung der Gerichte nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG kann im Einzelfall der Verwirkung unterliegen.
Normenkette
AO § 445; GG Art. 19 Abs. 4 Nr. 1
Tatbestand
I.
1. Am 23. Juni 1954 unterwarf sich der Beschwerdeführer gemäß § 445 der Reichsabgabenordnung (AO) vom 13. Dezember 1919 in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Mai 1931 (RGBl I S. 161) und der Änderung durch Art. I Nr. 26 des Gesetzes zur Änderung der Reichsabgabenordnung vom 4. Juli 1939 (RGBl I S. 1181) vor der Gemeinsamen Strafsachenstelle beim FA wegen Steuerhinterziehung einer Geldstrafe von 400 DM, die er ratenweise bis zum 7. April 1955 bezahlte.
Am 15. Februar 1962 beantragte er durch einen von ihm bevollmächtigten Rechtsanwalt die Wiederaufnahme des Verfahrens beim zuständigen FA mit der Behauptung, es seien neue Tatsachen bekanntgeworden, aus denen sich ergebe, daß er für die Nichtabführung der Abgaben nicht verantwortlich gewesen sei. Das FA erachtete diesen Antrag für zulässig, wies ihn jedoch nach Vernehmung von Zeugen am 8. August 1962 als unbegründet zurück.
Hiergegen legte der Beschwerdeführer im Verwaltungsweg Beschwerde ein. Mit der Begründung vom 14. September 1962 wiederholte er sein Vorbringen, die Wiederaufnahme des Verfahrens sei aus sachlichen Gründen gerechtfertigt. Hilfsweise machte er erstmals geltend, der in der Unterwerfung vom 23. Juni 1954 liegende Rechtsmittelverzicht sei mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar gewesen und daher unwirksam. Im Hinblick auf den Ablauf mehrerer Jahre seit der Genehmigung der Unterwerfungsverhandlung trug er vor, der Grundsatz der Verwirkung von Rechten könne im Strafverfahren keine Anwendung finden.
Mit dem Beschwerdebescheid vom 5. Dezember 1963 wies die OFD die Beschwerde gegen die Ablehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens als unbegründet zurück. Zugleich wurde die Beschwerde gegen die genehmigte Unterwerfung als unzulässig verworfen und hierzu festgestellt, über einen solchen Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit der Unterwerfungsverhandlung wegen Verfassungswidrigkeit habe das ordentliche Gericht im Rechtsweg gemäß Art. 19 Abs. 4 GG zu entscheiden.
Darauf stellte der Beschwerdeführer Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Mit Schriftsatz vom 7. Februar 1964 beantragte er die Feststellung, daß seine Unterwerfung vom 23. Juni 1954 nichtig sei, und führte näher aus, § 445 AO a. F. sei als verfassungswidrig anzusehen.
Soweit die Ablehnung seines Wiederaufnahmeantrags angefochten wurde, bat er, das gerichtliche Verfahren bis zur Entscheidung über seinen weitergehenden Rechtsbehelf ruhen zu lassen. Dementsprechend setzte das Amtsgericht das Verfahren über diesen Antrag aus.
Das Amtsgericht stellte sodann mit Urteil vom 17. März 1965 fest, daß die Unterwerfungsverhandlung vom 23. Juni 1954 rechtswirksam sei; es schloß sich der Entscheidung des Bundesgerichtshofs 1 StR 504/58 vom 21. April 1959 (BGHSt 13, 102 ff.) an.
Die Berufung des Beschwerdeführers wurde vom Landgericht mit Urteil vom 3. August 1965 verworfen.
Das Oberlandesgericht hat durch das hier angefochtene Urteil vom 15. Juli 1966 (Abdruck in NJW 1966, S. 2229 Nr. 17) die Revision des Beschwerdeführers als im Ergebnis unbegründet verworfen. Es führt aus, es sei zwar nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHSt 13, 102, veröffentlicht in NJW 1959, S. 1230 und BGHSt 15, 73, veröffentlicht in NJW 1960, S. 1959) für die Geltendmachung der Nichtigkeit oder die Anfechtung einer Unterwerfungsverhandlung gemäß § 445 AO a.F durch Art. 19 Abs. 4 GG der Rechtsweg eröffnet und das Verfahren vor dem Amtsgericht nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung durchzuführen; den sonach eröffneten Rechtsweg könne der Betroffene jedoch „nicht erst nach beliebig langer Zeit” in Anspruch nehmen. Da der Beschwerdeführer spätestens Ende 1960 die Möglichkeit einer Anfechtung im ordentlichen Rechtsweg zumutbarerweise habe erkennen können und müssen, habe er sein Antragsrecht durch sein Untätigbleiben mit Ablauf des Jahres 1961 verwirkt.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Art. 2 Abs. 2, 19 Abs. 4, 20, 92, 103 Abs. 1 und 104 Abs. 2 GG und macht geltend:
Das Rechtsinstitut der Verwirkung könne im Strafrecht keine Anwendung finden. Zwar habe das im vorliegenden Fall durch Art. 19 Abs. 4 GG eröffnete Verfahren formell einen Verwaltungsakt zum Gegenstand; materiell handele es sich aber um die Frage, ob der Beschwerdeführer rechtswirksam mit einer echten Kriminalstrafe belegt worden sei. In diesem Fall müsse die materielle Gerechtigkeit Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit haben.
Unter den gegebenen Umständen könne auch nicht von einer Verwirkung seines Antragsrechts gesprochen werden. Frühestens im Jahre 1962 sei bekanntgeworden, daß ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Unterwerfungsverfahrens bestanden.
Ein Rechtsschutzbedürfnis für die Anrufung der ordentlichen Gerichte sei auch deshalb zu bejahen, weil für ihn die Gefahr einer Bestrafung wegen Rückfalls bestehe.
In der fehlenden mündlichen Erörterung der entscheidenden Rechtsfragen und in einer unrichtigen Darstellung des in der Revisionsverhandlung vorgetragenen Sachverhalts liege eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör.
3. Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde kann im Verfahren gemäß § 24 BVerfGG dahingestellt bleiben.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich unbegründet.
a) Nach herrschender Lehre kann eine Verwirkung materieller Rechte oder prozessualer Befugnisse vorliegen, wenn die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs gegen Treu und Glauben verstößt (RGZ 158, 100 [107]). Die Tatsache, daß der Berechtigte sich verspätet auf sein Recht beruft, der Zeitablauf allein also, führt noch nicht zur Verwirkung. Hinzu kommen muß vielmehr, daß der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt. Erst dadurch wird eine Situation geschaffen, auf die der jeweilige Gegner vertrauen sich einstellen und einrichten darf (Geiger, Staatslexikon, 6. Aufl., 8. Band, Stichwort Verwirkung, Spalte 261).
Bei der Verwirkung prozessualer Befugnisse im öffentlichen Recht ist auch zu berücksichtigen, daß nicht nur ein schutzwürdiges Vertrauen der Gegenpartei auf das Untätigbleiben des Berechtigten, sondern auch ein öffentliches Interesse an der Erhaltung des Rechtsfriedens es rechtfertigen können, die Anrufung eines Gerichts nach langer Zeit als unzulässig anzusehen (Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/2, Der Schutz der Grundrechte in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, S. 779 [807]).
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in BVerfGE 4, 31 [37] ausgeführt, daß auch ein an sich unbefristeter Antrag nicht nach Belieben hinausgezogen oder verspätet gestellt werden kann, ohne unzulässig zu werden.
Im Strafrecht gilt nichts anderes. Hier gibt es zwar fast keine unbefristeten Rechtsmittel; Verfahrensrügen können aber verwirkt werden (vgl. z.B. Eberhard Schmidt, Lehrkommentar StPO Bd. II, Anm. 64 ff., insbesondere 67 zu § 337).
Auch die Befugnis zur Anrufung der Gerichte nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG kann im Einzelfall der Verwirkung unterliegen.
b) Ist demnach eine Verwirkung grundsätzlich denkbar, so müssen an deren Voraussetzungen dieselben Maßstäbe angelegt werden, die für Prozeßnormen gelten, die den Rechtsweg nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG regeln, d.h. der Weg zu den Gerichten darf durch die Annahme einer Verwirkung nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 10, 264 [267 ff.]; 11, 232 [233]).
Davon kann jedenfalls dann nicht die Rede sein, wenn der Zeitraum, auf den dabei abgestellt wird, nicht zu kurz bemessen ist und wenn dabei vorausgesetzt wird, daß die rechtzeitige Anrufung des Gerichts dem Betroffenen möglich, zumutbar und von ihm zu erwarten war. Ob hiernach im Einzelfall eine Verwirkung eingetreten ist, ist eine Frage der Würdigung des Sachverhalts und der Anwendung einfachen Rechts, die grundsätzlich allein von den zuständigen Gerichten zu beantworten und insoweit der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen ist (BVerfGE 1, 418 [420]; 18, 85 [92 f.]; 22, 267 [273 f.]).
c) Das Oberlandesgericht hat in dem mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Urteil weder mit der Verfassung unvereinbare Grundsätze angewandt, noch ein Grundrecht des Beschwerdeführers verletzt. Es ist davon ausgegangen, daß der Beschwerdeführer sein Recht zur Anrufung der Gerichte dadurch verwirkt hat, weil er längere Zeit hindurch untätig geblieben ist, obwohl er die Rechtslage kannte oder zumutbarerweise hätte kennen müssen. Als Zeitpunkt, von dem an die Kenntnisnahme jedenfalls möglich war, hat das Oberlandesgericht den Ablauf des Jahres 1960 angesehen, in dem die Entscheidung BGHSt 13, 102 ff. schon längere Zeit veröffentlicht war (u.a. NJW 59, 1230 vom 10. Juli 1959) und auch BGHSt 15, 73 ff., wo speziell die Zulässigkeit des Verfahrens nach Art. 19 Abs. 4 GG gegenüber Unterwerfungsverhandlungen nach § 445 AO a. F. behandelt ist, durch mehrfachen Abdruck in rechtswissenschaftlichen Zeitschriften (NJW 60, 1959 vom 21. Oktober 1960; Betriebsberater 60, 1232 vom 20. November 1960) jedem steuerlichen Berater, an den der Antragsteller sich zur Erkundigung zumutbarerweise hätte wenden müssen, zugänglich war. In entsprechender Anwendung der Rechtsregeln des § 58 Abs. 2 VwGO (ebenso §§ 55 Abs. 2 FGO, 93 Abs. 2 BVerfGG) hat das Oberlandesgericht dem Beschwerdeführer sodann noch eine weitere Einjahresfrist zugebilligt und das Antragsrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gegenüber der Unterwerfungsverhandlung aus dem Jahre 1954 jedenfalls mit Ablauf des Jahres 1961 als verwirkt angesehen. Diese Beurteilung läßt weder Willkür noch eine Überspannung der an die Sorgfaltspflicht des Beschwerdeführers zu stellenden Anforderungen erkennen. Er hat erst im Jahre 1962 das Wiederaufnahmeverfahren bei der Verwaltungsbehörde betrieben und die Verfassungswidrigkeit seiner Unterwerfung erstmals mit dem Antrag vom 7. Februar 1964 beim Amtsgericht anhängig gemacht.
d) Der Beschwerdeführer sieht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG darin, daß das Gericht bei der Hauptverhandlung die nach den Urteilsgründen für entscheidend gehaltenen Gesichtspunkte nicht bekanntgegeben habe. Diese Rüge greift nicht durch. Nach dem Vortrag des Beschwerdeführers war die Frage der Rechtzeitigkeit unter dem Stichwort „Rechtsschutzbedürfnis” in der Hauptverhandlung erörtert worden; auch hatte der Beschwerdeführer bereits in dem Schriftsatz vom 14. September 1962 gegenüber der OFD zu dieser Frage Stellung genommen. Bei dieser Sachlage konnte das Gericht unbedenklich davon ausgehen, daß der Beschwerdeführer vorgetragen habe, was er dazu vorbringen wollte.
Fundstellen
Haufe-Index 1075006 |
BStBl II 1972, 306 |
BVerfGE 32, 305 |
DB 1972, 712 |
NJW 1972, 675 |