Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren nach Ablehnung eines Prozesskostenhilfeantrags wegen Vertrauen auf höchstrichterliche Rechtsprechung des BGH

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden; deshalb darf dem rechtsuchenden Bürger, wenn er bei der Wahrung von Fristen auf die eindeutige Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts vertraut, eine anders lautende, nachteilige Rechtsprechung eines anderen Gerichts, das Verfahrensvorschriften strenger handhabt, nur vorgehalten werden, wenn er mit einer solchen rechnen musste.

2. Bei der Beantragung der Wiedereinsetzung beim OVG durfte der Bevollmächtigte auf die Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH, 8. November 1989, IVb ZB 110/89, NJW-RR 1990, 451 m.w.N. zur Bedenkzeit vor Wiedereinsetzungsantrag) vertrauen, da § 234 Abs. 1, 2 ZPO der Regelung des § 60 Abs. 2 S. 1 VwGO inhaltlich entspricht und Unterschiede zwischen dem zivilgerichtlichen und dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren keinen Anlass zu der Annahme geben, die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung werde die Wiedereinsetzungsvorschrift anders und strenger auslegen als die Zivilgerichte.(Leitsätze nicht amtlich)

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 S. 1; ZPO § 234 Abs. 1-2; VwGO § 60 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches OVG (Beschluss vom 25.06.2001; Aktenzeichen 4 LA 1506/01)

Niedersächsisches OVG (Beschluss vom 18.06.2001; Aktenzeichen 4 LA 1506/01)

Niedersächsisches OVG (Beschluss vom 25.05.2001; Aktenzeichen 4 LA 1506/01)

 

Tenor

 

Tatbestand

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren (§ 60 VwGO).

I.

  • Der Beschwerdeführer wendet sich mit der dem Ausgangsverfahren zugrundeliegenden Klage gegen die Einstellung laufender Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz. Nachdem ihm das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts vom 2. August 2000 am 10. August 2000 zugestellt worden war, beantragte er mit Schreiben vom 8. September 2000, eingegangen beim Oberverwaltungsgericht am 11. September 2000, ihm Prozesskostenhilfe für das beabsichtigte Berufungszulassungsverfahren und die Berufung zu bewilligen. Das Oberverwaltungsgericht lehnte den Antrag mangels hinreichender Erfolgsaussicht mit Beschluss vom 20. März 2001 ab, der dem Beschwerdeführer am 26. März 2001 zuging. Sein späterer Verfahrensbevollmächtigter, Rechtsanwalt G., wies ihn in einem Gespräch darauf hin, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs habe er ab Zugang der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts eine Bedenkzeit von drei bis vier Tagen und müsse danach binnen 14 Tagen einen Antrag auf Wiedereinsetzung und einen Antrag auf Zulassung der Berufung durch einen Rechtsanwalt stellen. Am 11. April 2002 beantragte der Beschwerdeführer durch seinen Verfahrensbevollmächtigten, die Berufung unter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zuzulassen. Aufgrund eines Hinweises des Oberverwaltungsgerichts, der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne verfristet sein, weil er nicht innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des ablehnenden Prozesskostenhilfe-Beschlusses gestellt worden sei (§ 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO), beantragte er eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Wiedereinsetzungsfrist.
  • Mit Beschluss vom 25. Mai 2001 verwarf das Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Antrag sei unzulässig, weil er nicht fristgerecht gestellt worden sei. Eine Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsbehelfsfrist habe der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers nicht innerhalb der Frist nach § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO beantragt. Eine Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist scheide aus. Der Bevollmächtigte habe sich nicht darauf verlassen dürfen, dass das erkennende Gericht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der entsprechenden zivilprozessualen Vorschrift (§ 234 Abs. 1 und 2 ZPO) folgen werde, weil eine gleich lautende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht ersichtlich sei. Das Verschulden seines Bevollmächtigten sei dem Beschwerdeführer zuzurechnen. Nachfolgende Gegenvorstellungen des Beschwerdeführers hat das Gericht mit weiteren Beschlüssen vom 18. und 25. Juni 2001 zurückgewiesen.
  • Der Beschwerdeführer greift mit der Verfassungsbeschwerde die Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts über den Antrag auf Zulassung der Berufung und mittelbar auch § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO an. Er rügt insbesondere, die angegriffenen Entscheidungen verletzten ihn in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art 19 Abs. 4 Satz 1 GG, soweit das Berufungsgericht eine Wiedereinsetzung wegen der Frist nach § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO abgelehnt habe. Sein Rechtsirrtum über den Beginn der Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO, der durch eine Auskunft seines Rechtsanwalts außerhalb eines Mandats- oder Beratungsverhältnisses hervorgerufen sei, könne ihm nicht angelastet werden.
  • Das Land Niedersachsen und der im Ausgangsverfahren beteiligte Landkreis haben von einer Äußerung abgesehen.
 

Entscheidungsgründe

II.

  • Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Kammer darf der Verfassungsbeschwerde gemäß § 93c Abs. 1 BVerfGG stattgeben, weil das Bundesverfassungsgericht die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits entschieden hat (vgl. BVerfGE 22, 83 ≪86 f.≫; 69, 381 ≪385≫ m.w.N.; 79, 372 ≪376 f.≫; 81, 347 ≪356 f.≫ m.w.N.).

    • Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist die Beschwerdefrist nach § 93 Abs. 1 BVerfGG gewahrt. Der Beschwerdeführer hat die Verfassungsbeschwerde fristgerecht am 16. Juli 2001 erhoben, weil die Monatsfrist erst mit Bekanntgabe des Beschlusses über die erste Gegenvorstellung vom 18. Juni 2001 zu laufen begann (vgl. BVerfGE 19, 198 ≪200≫; stRspr). Damit erledigt sich sein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 90 Abs. 2 BVerfGG).
    • Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG sind gegeben. Der angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 25. Mai 2001 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

      • Wird der Antrag einer unbemittelten Partei auf Prozesskostenhilfe erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist mangels hinreichender Erfolgsaussichten abgelehnt, ist mittels der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand grundsätzlich sicherzustellen, dass ihr der gleiche Zugang zu dem beabsichtigten Rechtsbehelfsverfahren eröffnet wird, wie er Bemittelten eröffnet ist (vgl. BVerfGE 22, 83 ≪86 f.≫). Dabei dürfen bei der Auslegung und Anwendung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen Vorschriften die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was der Betroffene tun muss, um Wiedereinsetzung zu erhalten (vgl. BVerfGE 41, 332 ≪334 f.≫; stRspr). Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 ≪385≫). Insbesondere wenn der rechtsuchende Bürger bei der Wahrung von Fristen auf die eindeutige Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts vertraut, darf ihm eine anders lautende, nachteilige Rechtsprechung eines anderen Gerichts, das Verfahrensvorschriften strenger handhabt, nur vorgehalten werden, wenn er mit einer solchen rechnen musste (vgl. BVerfGE 79, 372 ≪376 f.≫; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 1998, S. 3703 f.).
      • Der Bevollmächtigte durfte auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, NJW-RR 1990, S. 451 m.w.N.) vertrauen, obwohl sie zu der für das zivilgerichtliche Verfahren maßgeblichen Vorschrift des § 234 Abs. 1 und 2 ZPO ergangen ist. Es handelt sich insoweit um eine Bestimmung, die der Regelung des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO inhaltlich entspricht. Unterschiede zwischen dem zivilgerichtlichen und dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren geben keinen Anlass zu der Annahme, die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung werde die Wiedereinsetzungsvorschrift anders und strenger auslegen als die Zivilgerichte; das Oberverwaltungsgericht hat jedenfalls solche nicht aufgezeigt. Außer der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die aus der Sicht der Verwaltungsgerichtsordnung keine verfahrensfremde Rechtsprechung ist (vgl. § 173 Abs. 1 Satz 1 VwGO), war jedenfalls im Zeitpunkt der Auskunftserteilung keine davon abweichende höchstrichterliche Rechtsprechung vorhanden. Es waren auch keine Anzeichen dafür vorhanden, dass das Oberverwaltungsgericht einen anderen Standpunkt einnehmen werde als der Bundesgerichtshof. Darauf, ob dessen Rechtsprechung überzeugt, kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an (zur Kritik vgl. Feiber, in: MünchKomm ZPO, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, § 234 Rn. 25 f.).
    • Da die Verfassungsbeschwerde schon aus den genannten Gründen Erfolg hat, kann dahingestellt bleiben, ob die weiteren Grundrechtsrügen des Beschwerdeführers durchgreifen.
  • Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG zu erstatten. Damit erledigt sich zugleich sein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfassungsbeschwerdeverfahren (vgl. BVerfGE 62, 392 ≪397≫; 71, 122 ≪136 f.≫).
  • Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
 

Fundstellen

Haufe-Index 852878

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