Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Thüringer Landesarbeitsgerichts vom 30. März 2004 – 7 Sa 342/03 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Es wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Thüringer Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Thüringen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 12.000 € (in Worten: zwölftausend Euro) festgesetzt.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein landesarbeitsgerichtliches Berufungsurteil, das erst mehr als fünf Monate nach der Verkündung in vollständiger Fassung abgesetzt wurde.
I.
1. Im Ausgangsverfahren wurde über die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung gestritten. Der Kläger war seit dem 29. Oktober 1990 bei der Beschwerdeführerin beziehungsweise bei deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Mit Schreiben vom 9. Dezember 2002 kündigte die Beschwerdeführerin das Arbeitsverhältnis ordentlich aus betriebsbedingten Gründen zum 30. Juni 2003. Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage.
Das Arbeitsgericht stellte mit Urteil vom 4. Juni 2003 fest, das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien sei durch die Kündigung vom 9. Dezember 2002 nicht beendet worden. Den Antrag des Klägers auf Weiterbeschäftigung zu den bisherigen Bedingungen für die Dauer des Kündigungsrechtsstreits wies es ab.
2. Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung der Beschwerdeführerin mit einem am 30. März 2004 verkündeten Urteil zurück; die Revision wurde nicht zugelassen. Dieses Urteil wurde erst am 4. November 2004 von allen Richtern unterschrieben zur Geschäftsstelle gegeben. Die Zustellung an die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin erfolgte am 9. November 2004.
3. Die Beschwerdeführerin rügt mit ihrer fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) durch das Urteil des Landesarbeitsgerichts. Zur Begründung beruft sie sich auf die Entscheidungen der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 – 1 BvR 383/00 – (NZA 2001, S. 982 ff.) und vom 31. Januar 2002 – 1 BvR 2027/01 – (NZA 2002, S. 998).
4. Zur Verfassungsbeschwerde sind das Thüringer Justizministerium und der Kläger des Ausgangsverfahrens angehört worden. Diese haben keine Stellungnahmen abgegeben.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die einschlägigen verfassungsrechtlichen Fragen zur Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) bereits entschieden.
Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪26≫; 69, 381 ≪385≫). Gleichzeitig gebietet die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Pflicht zur Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes und zur Herstellung von Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 60, 253 ≪269≫; 88, 118 ≪124≫).
2. Nach diesem Maßstab verletzt die erst am 4. November 2004 vollständig abgefasst und unterschrieben zur Geschäftsstelle gelangte Entscheidung des Landesarbeitsgerichts die Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).
Eine landesarbeitsgerichtliche Entscheidung, in der die Revision nicht zugelassen wurde und deren vollständige Gründe erst mehr als fünf Monate nach Verkündung unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden sind, kann keine geeignete Grundlage mehr für das Revisionsgericht sein, um das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen in rechtsstaatlicher Weise zu überprüfen. Ein Landesarbeitsgericht, das ein Urteil in vollständiger Fassung erst so spät absetzt, erschwert damit für die unterlegene Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise.
In vollständiger Fassung ist ein landesarbeitsgerichtliches Urteil erst dann abgesetzt, wenn es von sämtlichen Kammermitgliedern unterschrieben (vgl. § 69 Abs. 1 ArbGG) der Geschäftsstelle übergeben worden ist. Denn die Fünf-Monats-Frist soll auch gewährleisten, dass die schriftlichen Urteilsgründe die Verhandlungs- und Beratungsergebnisse zutreffend wiedergeben. Diesem Erfordernis wird nur genügt, wenn sich sämtliche zur Unterschrift verpflichteten Richter einigermaßen zeitnah die Urteilsgründe zu Eigen machen können (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. August 2002 – 1 BvR 1012/02 –, NZA 2003, S. 59).
Wegen der weiteren Begründung wird verwiesen auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 – 1 BvR 383/00 – (NZA 2001, S. 982 ff.).
3. Das angegriffene Urteil ist aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Der Freistaat Thüringen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten, weil sich die Verfassungsbeschwerde als begründet erwiesen hat (§ 34a Abs. 2 BVerfGG). Die Festsetzung des Wertes des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. dazu BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Haas, Hömig, Bryde
Fundstellen
NZA 2005, 781 |
AUR 2005, 347 |
BayVBl. 2006, 108 |