Verfahrensgang
OLG Hamburg (Beschluss vom 02.10.1997; Aktenzeichen 2 Ws 220/97) |
LG Hamburg (Beschluss vom 04.09.1997) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, welche Anforderungen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG an die Besetzung einer Strafkammer stellt, die über einen zwischen Beginn und Ende der Hauptverhandlung gestellten Antrag, einen vollzogenen Haftbefehl aufzuheben, zu entscheiden hat.
- Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 16. Januar 1997 wegen des Vorwurfes des gemeinschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ununterbrochen in Untersuchungshaft. Einen nach Durchführung mehrerer Hauptverhandlungstermine gestellten Antrag, den Haftbefehl aufzuheben, lehnte das Landgericht Hamburg mit Beschluß vom 4. September 1997 in der Besetzung mit drei Berufsrichtern ab.
Der dagegen gerichteten Beschwerde versagte das Hanseatische Oberlandesgericht mit dem angegriffenen Beschluß vom 2. Oktober 1997 den Erfolg. Zur gerügten Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG enthält der Beschluß im wesentlichen folgende Gründe:
Der Beschwerdeführer beanstande zu Unrecht, die Strafkammer sei falsch besetzt gewesen, weil sie die angefochtene Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung ohne Beteiligung der Schöffen in der Besetzung mit drei Berufsrichtern getroffen habe. Allein die gewählte Verfahrensweise entspreche dem verfassungsrechtlichen Gebot des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das ergebe die notwendige verfassungskonforme Auslegung der Bestimmung der §§ 30, 76 GVG über den Umfang der Mitwirkung der Schöffen. Nach § 30 Abs. 1 GVG übten Schöffen ihr Richteramt während der Hauptverhandlung aus und nähmen in deren Verlauf auch an solchen Entscheidungen teil, die in keiner Beziehung zu der Urteilsfällung stünden und die auch ohne mündliche Verhandlung erlassen werden könnten. An Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung – auch an solchen während ihrer Unterbrechung (mit Hinweis auf: Schäfer in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 30 GVG Rn. 6; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., § 30 GVG Rn. 3; BGHSt 34, 154 ff.; a.A. Kissel, GVG, 2. Aufl., § 30 Rn. 7) – wirkten die Schöffen gemäß §§ 30 Abs. 2, 76 Abs. 1 Satz 2 GVG nicht mit.
Entscheidungen über die Untersuchungshaft gehörten – abgesehen von der gesetzlich bestimmten Ausnahme der Haftprüfung bei Verurteilung nach § 268b StPO und der korrespondierenden Aufhebung des Haftbefehls bei Freispruch – nicht zum unantastbaren Kernbereich der Mitwirkung der Schöffen; sie könnten auch außerhalb der Hauptverhandlung ohne Beteiligung der Schöffen getroffen werden. Es fehle jedoch eine Regelung, wann innerhalb und wann außerhalb der Hauptverhandlung, d.h. wann unter Beteiligung der Schöffen und wann ohne sie zu entscheiden sei. Die Besetzung des Gerichts im Einzelfall hänge von dem Antragsverhalten der Verfahrensbeteiligten ab und von der Entscheidung des Vorsitzenden, die Kammer in der Hauptverhandlung oder außerhalb derselben mit der Haftentscheidung zu befassen. Diese Gesetzeslage entspreche nicht dem Gebot hinreichender Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters (mit Hinweis auf BGH, NJW 1997, 2531). Zur Schließung der aufgezeigten Regelungslücke scheide die vom Bundesgerichtshof in Auslegung ausdrücklich nur des § 122 GVG entwickelte Lösung, stets die für die Hauptverhandlung vorgesehene Besetzung (dort des erstinstanzlich tätigen Strafsenats) entscheiden zu lassen, wegen der sich aus der Mitwirkung von Schöffen ergebenden Besonderheiten aus. Zwar erscheine es sachgerecht, zur Vermeidung divergierender Entscheidungen und zur verfahrensökonomischen Ausnutzung des in der Hauptverhandlung erlangten Kenntnisstandes denjenigen Spruchkörper, der in der Hauptsache die Beweisaufnahme bisher durchgeführt habe und künftig zu bewerten haben wird, auch über die Haftvoraussetzungen entscheiden zu lassen (mit Hinweis auf BGH, a.a.O.), doch kollidiere dieser Gesichtspunkt mit dem für Haftsachen geltenden Gebot besonderer Beschleunigung, welches aus dem grundrechtlich geschützten Freiheitsanspruch des Angeklagten (Art. 2 Abs. 2 GG) folge und dem deshalb Vorrang gebühre. Anders als Berufsrichter seien Schöffen bei Unterbrechungen der Hauptverhandlungen häufig nur schwer erreichbar, so daß es – bei Bestand eines Haftbefehls – zu Verfahrensverzögerungen käme, die mit dem verfassungsrechtlich besonderen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht zu vereinbaren seien. Würde die Zusammensetzung des Spruchkörpers davon abhängen, ob im Einzelfall durch die Heranziehung der Schöffen eine Verzögerung der Haftentscheidung oder eine Gefährdung des Anordnungszustandes drohe, würde den Verfahrensbeteiligten und dem Vorsitzenden durch Wahl des Antragszeitpunktes und der Befassung des Spruchkörpers mit der Beratung und Entscheidung Gestaltungsmöglichkeiten zur Bestimmung der mit der Haftentscheidung befaßten Richter eröffnen, die mit dem Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters wieder unvereinbar wären. Der vom Bundesgerichtshof aufgezeigte Weg, bei Verhinderung einzelner Richter durch Urlaub oder Krankheit auf die Vertretungsregelungen des Geschäftsverteilungsplanes zurückzugreifen, wäre bei Verhinderung von Schöffen nicht gangbar, wenn man nicht – systemfremd – Hilfsschöffen (§ 47 GVG) heranziehen wollte. Die genannte Regelungslücke sei somit verfassungskonform dahin zu schließen, daß die Entscheidung über die Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO stets außerhalb der Hauptverhandlung, d.h. ohne Mitwirkung der Schöffen, zu treffen sei.
Entscheidungsgründe
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Zur Begründung trägt er im wesentlichen vor:
Die Auffassung des Oberlandesgerichts, daß die Entscheidung generell außerhalb der Hauptverhandlung zu treffen sei, sei fehlerhaft. Angesichts der jüngsten Entscheidung des Bundesgerichtshofes sei es mit dem Grundsatz der Garantie des gesetzlichen Richters nicht vereinbar, wenn während einer laufenden Hauptverhandlung über Haftfragen in der Besetzung der Kammer außerhalb der Hauptverhandlung entschieden werde. Nur die Besetzung innerhalb der Hauptverhandlung vermöge die für Haftfragen entscheidenden Aspekte sinnvoll zu prüfen. Der angefochtene Beschluß habe sich auch nicht mit der Frage auseinandergesetzt, wann die nächste Gelegenheit für die Strafkammer bestanden hätte, über den in der Hauptverhandlung gestellten Antrag zu entscheiden.
III.
Zur Verfassungsbeschwerde haben der Präsident des Bundesgerichtshofs, der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof sowie verschiedene Justizministerien der Länder Stellung genommen.
IV.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.
1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu, da die entscheidungserheblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden worden sind (vgl. BVerfGE 95, 322 ff.).
2. Die Annahme zur Entscheidung ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), da die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat.
Mit der Garantie des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG soll der Gefahr vorgebeugt werden, daß die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Es soll verhindert werden, daß durch eine gezielte Auswahl von Richtern das Ergebnis der Entscheidung beeinflußt wird (vgl. BVerfGE 82, 286 ≪296≫). Regelungen über den gesetzlichen Richter müssen hinreichend bestimmt sein und möglichst eindeutig vorgeben, welcher Richter in einem bestimmten Verfahren mitwirkt (vgl. BVerfGE 17, 294 ≪298≫). Unzulässig ist schon das Fehlen einer abstrakt-generellen und hinreichend klaren Regelung, aus der sich der im Einzelfall zur Entscheidung berufene Richter möglichst eindeutig ablesen läßt (vgl. BVerfGE 95, 322 ≪329 f.≫). Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt dagegen nicht schon dann vor, wenn zur Bestimmung des gesetzlichen Richters auslegungsbedürftige Begriffe verwendet werden. Jeder Spruchkörper hat bei auftretenden Bedenken die Ordnungsmäßigkeit seiner Besetzung zu prüfen und darüber zu entscheiden; die in diesem Verfahren getroffene Entscheidung muß als Auslegung und Anwendung verfahrensrechtlicher Normen vom Bundesverfassungsgericht im allgemeinen hingenommen werden, sofern sie nicht willkürlich ist (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫; 95, 322 ≪330≫).
Nach diesen Maßstäben ist die angegriffene Entscheidung von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
Das Strafgericht hat im Rahmen der ihm vorbehaltenen Auslegung und Anwendung des Gesetzes die Auffassung vertreten, daß die aufgezeigte Regelungslücke verfassungskonform dahin zu schließen ist, daß Entscheidungen über die Haftfrage – von den Ausnahmefällen im Zusammenhang mit einem Urteil nach §§ 268b bzw. 120 Abs. 1 S. 2 StPO abgesehen – stets in der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung, d.h. ohne Schöffen, zu treffen sind. Diese Rechtsauffassung bewegt sich innerhalb des den Fachgerichten eingeräumten Rahmens; sie ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
a) Das Oberlandesgericht hat seine Auffassung aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs hergeleitet und zugleich die Besonderheiten der Mitwirkung von Schöffen berücksichtigt. Damit hat es sich von der bisher im Schrifttum und in der Rechtsprechung vorherrschenden Ansicht abgewandt, die eine Mitwirkung von Schöffen an Entscheidungen zwischen Beginn und Ende der Hauptverhandlung nach dem Zeitpunkt der Antragstellung und der Beschlußfassung oder dem Umstand einer Unterbrechnung der Hauptverhandlung nach §§ 228 f. StPO bestimmt (vgl.: Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., Rn. 3 zu § 30 GVG, Rn. 8 zu § 126 StPO; OLG Düsseldorf, StV 1984, S. 159; OLG Schleswig, NStZ 1990, S. 198; LG Hamburg, MDR 1973, S. 69). Diese herrschende Meinung, die im Zeitpunkt der Antragstellung oder der Befassung der Kammer mit dem Antrag Beeinflussungsmöglichkeiten eröffnet, hat das Oberlandesgericht mit guten Gründen als unvereinbar mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung angesehen. Ausgeschlossen ist mit dieser Auffassung auch die Gefahr divergierender Entscheidungen durch ein unterschiedliches Quorum (§ 196 GVG), wenn ein während der Unterbrechung der Hauptverhandlung gestellter Antrag in der Hauptverhandlung wiederholt bzw. bei unveränderter Sachlage neu gestellt wird.
b) Das Oberlandesgericht beschränkt auch nicht in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise die Mitwirkungsrechte der Schöffen.
aa) Das Amt des Schöffen ist ein Ehrenamt (§ 31 GVG); der Schöffe bezieht seine wirtschaftliche Lebensgrundlage grundsätzlich aus einer anderen Tätigkeit (vgl. auch § 35 Nr. 7 GVG). Zwar übt er, soweit das Gesetz keine Ausnahmen bestimmt, während der Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Richter aus (§ 30 Abs. 1 GVG); jedoch setzt die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme von Schöffen Grenzen (§ 54 Abs. 1 Satz 2 GVG). Der Gesetzgeber hat diesen Besonderheiten insbesondere durch die Regelungen in §§ 30 Abs. 2 und 76 Abs. 1 S. 2 GVG Rechnung getragen.
Gerade wegen ihrer anderweitigen Berufstätigkeit sind Schöffen anders als Berufsrichter während der Unterbrechung der Hauptverhandlung häufiger nur schwer erreichbar, so daß sich eine Verzögerung bei genereller Einbeziehung der Schöffen ergeben könnte. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG garantiert jedoch ein in diesem Freiheitsgrundrecht angelegtes verfassungsrechtliches Beschleunigungsgebot in Haftsachen (vgl. BVerfGE 46, 194 ≪195≫ m.w.N.). Das Beschleunigungsgebot gebietet auch eine unverzügliche Entscheidung über gestellte Anträge. Die daraus sich ergebende Abwägung durch das Oberlandesgericht ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
bb) Für den Fall der Verhinderung der Schöffen sieht das Gesetz im übrigen eine der Vertretungsregelung für Berufsrichter ähnliche Bestimmung nicht vor. Die Regelung über die Hilfsschöffen (vgl. §§ 48 f. GVG) stellt, worauf bereits das Oberlandesgericht hingewiesen hat, keine Vertretungsregelung in diesem Sinne dar.
c) Die Entscheidung ist schließlich auch nicht deshalb verfassungsrechtlich zu beanstanden, weil andere Möglichkeiten der Schließung dieser Gesetzeslücke möglich oder naheliegend sind. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪194≫). Dies ist hier – wie dargestellt – nicht der Fall.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Graßhof, Kirchhof
Fundstellen
Haufe-Index 1276468 |
NJW 1998, 2962 |
NStZ 1998, 418 |
StV 1998, 387 |