Verfahrensgang
OLG Köln (Beschluss vom 01.02.2012; Aktenzeichen 2 Ws 36/12) |
LG Aachen (Beschluss vom 16.11.2011; Aktenzeichen 33 StVK 394/10) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 1. Februar 2012 – 2 Ws 36/12 – und der Beschluss des Landgerichts Aachen vom 16. November 2011 – 33 StVK 394/10 K – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Köln zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einem sogenannten Altfall im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB.
I.
1. Der mehrfach vorbestrafte 70-jährige Beschwerdeführer wurde im April 1985 mit Urteil des Landgerichts Düsseldorf wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Überdies wurde die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Die Anordnung der Sicherungsverwahrung begründete das erkennende Gericht damit, dass die Disposition zu „solchen Taten” in der Person des Beschwerdeführers tief verwurzelt sei. Die Persönlichkeitsproblematik bestehe im Fehlen einer stabilen männlichen Identität. Seine Sexualität sei nie erwachsen geworden, so dass es ihn zu Opfern statt zu Partnern hinziehe. Auch wenn er über 20 Jahre nicht einschlägig aufgefallen sei, stelle die Tat eine Steigerung dar. Die Prognose sei sehr ungünstig.
2. Nach Vollverbüßung der Freiheitsstrafe wurde die Sicherungsverwahrung von April 1990 bis Oktober 1992 vollzogen und dann zur Bewährung ausgesetzt. Nach anfänglich positivem Bewährungsverlauf war der Beschwerdeführer unbekannten Aufenthalts. Im Mai 1995 wurde er vorübergehend sowie Ende des Jahres 1995 erneut und dauerhaft festgenommen und im Februar 1996 wegen Diebstahls und gefährlicher Brandstiftung durch das Amtsgericht Düsseldorf zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Er hatte in einer Wohnung Gegenstände gestohlen und durch zwei Feuer vor und an der Wohnungstür von dem Diebstahlsverdacht gegen sich ablenken wollen.
Daraufhin wurde im November 1996 die Aussetzung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung widerrufen. Nach Verbüßung der Freiheitsstrafe wurde seit Februar 1999 die Maßregel erneut vollstreckt. Im Juli 2006 betrug der Zeitraum der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zehn Jahre. Im Juni 2010 wurde dem Beschwerdeführer krankheitsbedingt das linke Bein oberhalb des Knies abgenommen.
3. Zur Vorbereitung der Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung holte das Landgericht im April 2011 ein psychiatrisches Prognosegutachten ein, in dem die Sachverständige feststellte, dass der Beschwerdeführer an einer Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und schizoiden Anteilen leide. Teil der Persönlichkeitsstörung sei eine sexuelle Devianz in Form einer pädophilen und exhibitionistischen Neigung. Therapien habe der Beschwerdeführer abgelehnt. Von einer „Beruhigung” in der Zeit der Inhaftierung, einem „positiven Alterseffekt”, könne jedoch ausgegangen werden. Aufgrund seiner problematischen körperlichen Situation sei die Kontaktaufnahme zu Kindern erschwert. Zudem bestünden gute Aussichten, dass der Beschwerdeführer, wenn er in feste soziale Strukturen eingebunden sei, in der Lage sein werde, sich situationsadäquat und regelkonform zu verhalten. Sollte er hingegen ohne derartige Strukturen alleine leben und wieder Alkohol trinken, sei ein Rückfall in frühere Verhaltensweisen denkbar. Unter der Voraussetzung einer Aufnahme in eine Einrichtung mit engmaschiger sozialer Kontrolle und eines strikten Alkoholverbots sei eine Entlassung aus dem Maßregelvollzug vertretbar. Dem Beschwerdeführer könne eine „vorsichtig positive” Legalprognose gestellt werden. Eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualverbrechen lasse sich aus konkreten Umständen in der Person des Beschwerdeführers oder seinem Verhalten nicht ableiten.
Dieses Gutachten ergänzte die Sachverständige auf gerichtliche Anfrage im September 2011, nachdem bei dem Beschwerdeführer ein Ordner mit pornografischen und sadistischen Inhalten aufgefunden worden war. Der Beschwerdeführer hatte dazu angegeben, er besitze den Ordner bereits seit dem Jahr 2000. Er habe ihn im September 2010 bei einem Umzug in eine andere Justizvollzugsanstalt mitgenommen. Die Sachverständige blieb unverändert bei ihrer Einschätzung, dass eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen nicht festgestellt werden könne. Zugleich habe sich die besondere Notwendigkeit klarer sozialer Strukturen, überwachter Wohnbedingungen und vollständiger Alkoholkarenz bestätigt. Die ebenfalls in dem Ordner enthaltenen transsexuellen Bilder sprächen zudem dafür, dass eine Wohnsituation ohne engen und ständigen Kontakt zu dem transsexuellen und dominanten Lebenspartner des Beschwerdeführers wünschenswert sei, damit dieser ihn nicht schädlich beeinflussen könne. Unter diesen Voraussetzungen bleibe es bei der „vorsichtig positiven” Legalprognose.
4. Im Rahmen der mündlichen Anhörung beim Landgericht Aachen wiederholte die Sachverständige ihre bisherige „vorsichtig positive” Legalprognose. Zugleich erklärte sie, für den Fall, dass der Beschwerdeführer „quasi auf die Straße” entlassen werde, sei von einer hochgradigen Gefahr erneuter schwerer Sexualtaten auszugehen. Ein Vertreter einer Einrichtung für betreutes Wohnen, die den Beschwerdeführer aufzunehmen bereit war, teilte mit, es gebe in dieser Einrichtung ein striktes Alkoholverbot nebst Atemalkoholkontrollen sowie eine Beaufsichtigung der Bewohner werktags von 8 bis 22 Uhr sowie am Wochenende in einigen Zweistundenschichten. Die Sachverständige gab daraufhin an, die Betreuung müsse engmaschiger sein. Auch sei eine räumliche Trennung vom Lebensgefährten des Beschwerdeführers nicht gewährleistet. Die Einrichtung sei zur Aufnahme des Beschwerdeführers nicht geeignet. Bis man eine geeignete Einrichtung gefunden habe, bestehe eine hochgradige Gefahr weiterer schwerer Sexualtaten.
5. Das Landgericht Aachen lehnte mit angegriffenem Beschluss vom 16. November 2011 ab, die Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären. Die in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) aufgestellten Maßstäbe – hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualtaten sowie eine psychische Störung – seien erfüllt. Der Beschwerdeführer könne Kinder trotz seiner körperlichen Einschränkungen seelisch schädigen. Dies sei dann fraglos eine schwerste Straftat. Es bestehe eine hochgradige Gefahr, falls der Beschwerdeführer nicht in eine Einrichtung mit enger sozialer Kontrolle entlassen werde. Die Kontrolle in der zur Aufnahme bereiten Einrichtung habe erhebliche zeitliche Lücken und sei nicht ausreichend intensiv.
6. Mit seiner sofortigen Beschwerde wies der Beschwerdeführer auf sein fortgeschrittenes Alter und die eingeschränkte Mobilität hin. Er monierte, das Gericht habe sich mit den angesichts dieser Umstände möglicherweise noch zu erwartenden Taten nicht hinreichend auseinandergesetzt. Eine fehlende Unterbringungsmöglichkeit dürfe nicht als Vorwand für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung dienen. Es sei Sache der Justiz, einen angemessenen Platz zu finden.
7. Das Oberlandesgericht Köln verwarf die sofortige Beschwerde mit angegriffenem Beschluss vom 1. Februar 2012. Trotz des fortgeschrittenen Alters und der Unterschenkelamputation bestehe nach wie vor die hochgradige Gefahr schwerster Sexualtaten. Neben einer Entaktualisierung der Gefahr sei den sachverständigen Ausführungen auch zu entnehmen gewesen, dass bei einer Entlassung ohne passende Rahmenbedingungen – insbesondere infolge der problematischen Beziehung zum dominanten Lebensgefährten des Beschwerdeführers – von der hochgradigen Gefahr schwerster Taten auszugehen sei. Die Sachverständige habe zwar nicht von „schwersten”, sondern „schweren” Taten gesprochen. Dies habe das Landgericht aber rechtlich zutreffend so gewertet, dass schwerste Taten „ähnlich dem Gewicht der Anlasstat” drohten. Gegen den Beschwerdeführer sprächen auch der Fund des Ordners und seine „verharmlosenden” Erklärungen. Die Behauptung des Beschwerdeführers, dass er den Ordner seit Jahren unbeachtet auf der Zelle lagere, erscheine unplausibel.
Entscheidungsgründe
II.
Der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 2 Abs. 2, Art. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Es liege ein „Altfall” vor, so dass er nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu entlassen sei. Seit 1985 sei er nie mehr einschlägig in Erscheinung getreten. Die Fortdauer der Unterbringung sei unverhältnismäßig, da die Sachverständige eine positive Legalprognose gestellt habe und im Falle einer Entlassung eine geeignete Einrichtung zur Verfügung stehe, die zur Aufnahme des Beschwerdeführers bereit sei.
III.
1. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Stellungnahme betont, das Oberlandesgericht habe tragfähig die hochgradige Gefahr schwerster Sexualverbrechen begründet und ausdrücklich die Behinderung und das Alter des Beschwerdeführers berücksichtigt. Dass es seit 1985 keine einschlägigen Delikte mehr gegeben habe, sei darauf zurückzuführen, dass angesichts der langjährigen Unterbringung „nur wenig Gelegenheit” dazu bestanden habe. Auch das Fehlen einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung führe noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung.
2. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat ebenfalls Stellung genommen und ausgeführt, die Entlassungsperspektive sei nicht gesichert.
3. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht ebenso vorgelegen wie das Bewährungs- und das Vollstreckungsheft.
IV.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG) und auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erfüllt sind. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen – insbesondere hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer einer vor 1998 angeordneten Sicherungsverwahrung über den Zeitraum von zehn Jahren hinaus – bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 128, 326 ≪399≫). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die angegriffenen Beschlüsse, mit denen der Antrag, die seit mehr als zehn Jahren vollzogene Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären, abgelehnt wurde, verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 3 GG. Sie genügen den Anforderungen nicht, die sich für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers auf der Grundlage der verfassungswidrigen, aber für vorläufig weiter anwendbar erklärten Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB aus Nr. III. 2. a) des Tenors des Urteils des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ≪391≫) ergeben.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat – neben anderen Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung – auch § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG erklärt (BVerfGE 128, 326 f.). Zugleich hat es gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung der Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013 angeordnet (BVerfGE 128, 326 ≪332≫). Danach darf § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB nur nach Maßgabe einer – insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrenprognose und die gefährdeten Rechtsgüter – strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden (BVerfGE 128, 326 ≪406≫).
Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB – soweit er zur Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus auch bei Verurteilten ermächtigt, deren Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen wurden – mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar ist (BVerfGE 128, 326 ≪331, 332≫). In diesen Fällen darf wegen des damit verbundenen Eingriffs in das grundrechtlich geschützte Vertrauen des Betroffenen die Fortdauer der Sicherungsverwahrung gemäß Nr. III. 2. a) des Tenors des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 nur noch angewandt werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG) leidet (BVerfGE 128, 326 ≪332≫).
Im Übrigen beinhaltet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die Anordnung und Fortdauer der Sicherungsverwahrung als letztes Mittel nur in Betracht kommt, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen nicht ausreichen, um den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit Rechnung zu tragen (BVerfGE 128, 326 ≪379≫; s. auch 70, 297 ≪314≫).
Die Feststellung der Voraussetzungen für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB setzt eine wertende richterliche Entscheidung voraus, die das Bundesverfassungsgericht nicht in allen Einzelheiten nachprüfen kann (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪314, 315≫). Aufgrund des zunehmenden Gewichts des Freiheitsanspruchs aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG erhöhen sich bei langandauernden Unterbringungen aber die Anforderungen an die Wahrheitserforschung (vgl. im Einzelnen BVerfGE 109, 133 ≪162 ff.≫) und die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪316≫). Insbesondere ist im Wege verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die Annahme der Voraussetzungen für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage beruht und dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung Rechnung getragen ist (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪308 f.≫).
b) Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben genügen die Beschlüsse des Landgerichts Aachen vom 16. November 2011 und des Oberlandesgerichts Köln vom 1. Februar 2012 nicht.
Da der Beschwerdeführer die seiner Unterbringung zugrundeliegenden Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen hat und er seit dem Juli 2006 mehr als zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung untergebracht ist, bedurfte die Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung gemäß § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB aufgrund Nr. III. 2. a) des Tenors des Urteils des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 der Feststellung einer aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Beschwerdeführers ableitbaren hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten. Dies wird in den angegriffenen Beschlüssen zwar erkannt. Bei Zugrundelegung verfassungsrechtlicher Maßstäbe vermögen die Ausführungen in diesen Beschlüssen aber die Annahme einer derartigen hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten nicht zu rechtfertigen. Darüber hinaus setzen die Gerichte sich unzureichend mit der Frage auseinander, ob der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Sicherungsverwahrung nicht die Möglichkeit gleichermaßen geeigneter, aber weniger einschneidender Maßnahmen entgegenstand.
aa) Die Gerichte berufen sich in den angegriffenen Entscheidungen zur Begründung des Vorliegens einer hochgradigen Gefahr schwerster Sexual- und Gewalttaten im Wesentlichen auf die Feststellungen der Sachverständigen. Diese habe zwar beim Beschwerdeführer eine „gewisse” Entaktualisierung der Gefahr sexueller Übergriffe auf kindliche Opfer festgestellt. Sie habe aber eine Aussetzung der Maßregel nur für verantwortbar gehalten, wenn der Beschwerdeführer in einen sozialen Empfangsraum mit ausreichenden Betreuungs- und Kontrollinstanzen entlassen werde. In der mündlichen Anhörung habe die Sachverständige betont, dass im Falle einer Entlassung des Verurteilten „auf die Straße” ohne eine besondere Beaufsichtigung und Kontrolle von einer hochgradigen Gefahr erneuter schwerer Sexualstraftaten auszugehen sei. Die aufnahmebereite Einrichtung gewähre auch nach Einschätzung der Sachverständigen kein ausreichendes Maß an engmaschiger Kontrolle und sei daher ungeeignet. Eine andere Einrichtung zur Aufnahme des Beschwerdeführers stehe aber nicht zur Verfügung.
Bereits unter Zugrundelegung dieser Feststellungen erscheint die Annahme einer aus der Person oder dem Verhalten des Beschwerdeführers ableitbaren hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten zweifelhaft. Die Sachverständige geht für den Fall einer Entlassung des Beschwerdeführers ohne begleitende Kontrollmaßnahmen lediglich von der Gefahr „schwerer Straftaten” aus. Die Behauptung des Oberlandesgerichts, ungeachtet der Wortwahl der Sachverständigen seien damit „schwerste Straftaten” im Sinne der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts angesprochen, ist nicht nachvollziehbar, zumal der Sachverständigen die rechtliche Bedeutung der Differenzierung sehr wohl bewusst war. Letztlich unterbleibt in den angegriffenen Beschlüssen die gebotene Konkretisierung, welche „schwersten Sexualstraftaten” vom Beschwerdeführer mit welchem Maß an Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Soweit das Landgericht in diesem Zusammenhang darauf verweist, im Falle einer seelischen Schädigung von Kindern durch sexuelle Übergriffe liege fraglos immer eine „schwerste Straftat” vor, bleibt außer Betracht, dass der Gesetzgeber in §§ 176, 176a, 176b erhebliche Differenzierungen im Bereich des Kindesmissbrauchs vornimmt, die deutliche Unterschiede im Strafmaß zur Folge haben.
Vor allem aber geben die angegriffenen Beschlüsse die Ausführungen der Sachverständigen nur lückenhaft wieder. Diese hatte in ihrem Gutachten vom 5. April 2011 festgestellt, dass es bei dem Beschwerdeführer nicht nur zu einer „gewissen”, sondern zu einer deutlichen Entaktualisierung der Gefahr sexueller Übergriffe gekommen sei. Die Persönlichkeit des Beschwerdeführers habe sich entwickelt. Die Legalprognose sei „vorsichtig positiv”. Ausdrücklich stellte die Sachverständige fest, dass eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen aus konkreten Umständen in der Person des Beschwerdeführers oder seinem Verhalten nicht ableitbar sei. In der ergänzenden Stellungnahme vom 30. September 2011 bestätigt die Sachverständige auch vor dem Hintergrund des aufgefundenen Ordners mit pornografischem und sadistischem Inhalt diese Einschätzung.
Hierzu verhalten sich die angegriffenen Beschlüsse nicht. Es wird nicht dargelegt, aus welchen Gründen die Gefahrenprognose ausschließlich auf die Einlassungen der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vom 16. November 2011 gestützt wird und warum die früheren Äußerungen der Sachverständigen unberücksichtigt bleiben können. Die Darlegungen der Sachverständigen stellen mithin keine hinreichende Grundlage für die Annahme einer hochgradigen Gefahr schwerster Sexualstraftaten dar. Auch sonstige Umstände, die diese Annahme ausreichend rechtfertigen könnten, sind nicht dargelegt. Der aufgefundene Ordner genügt nach den Feststellungen der Sachverständigen nicht, um eine abweichende Gefährlichkeitsprognose zu begründen. Soweit das Landgericht sich auf die Stellungnahme der Leiterin der Justizvollzugsanstalt Aachen bezieht, setzt diese sich mit der Frage der Behandlungsmöglichkeiten und Behandlungsmotivation des Beschwerdeführers, hingegen nicht mit der von ihm ausgehenden Gefahr schwerster Straftaten auseinander.
Die Annahme einer aus der Person oder dem Verhalten des Beschwerdeführers ableitbaren hochgradigen Gefahr schwerster Sexualstraftaten in den angegriffenen Beschlüssen beruht daher auf einer unzureichenden tatsächlichen Grundlage. Angesichts der unterschiedlichen Einlassungen der Sachverständigen hätte es weiterer Sachaufklärung bedurft. Dabei hätten auch die Frage, welche Bedeutung das fortgeschrittene Alter und die erhebliche körperliche Beeinträchtigung des Beschwerdeführers für die von ihm ausgehende Gefahr weiterer Straftaten hat, sowie der Umstand, dass der Beschwerdeführer nach seiner zeitweisen Entlassung aus dem Maßregelvollzug über einen längeren Zeitraum nicht wegen weiterer Sexualstraftaten auffällig geworden ist, eingehenderer Betrachtung zugeführt werden können.
bb) Daneben haben sich die Gerichte in den angegriffenen Beschlüssen nicht hinreichend mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Fortdauer der Sicherungsverwahrung entgegenstand, dass deren Zweck mit weniger einschneidenden Maßnahmen hätte erreicht werden können.
Die Sachverständige hat ausgeführt, dass mit weiteren Straftaten des Beschwerdeführers nicht zu rechnen sei, wenn im Falle einer Entlassung ausreichende Betreuungs- und Kontrollmaßnahmen durchgeführt würden. Vor diesem Hintergrund ist es unzureichend, wenn in den angefochtenen Beschlüssen lediglich darauf verwiesen wird, bisher sei eine geeignete Einrichtung zur Aufnahme des Beschwerdeführers nicht gefunden worden. Stattdessen wäre unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten eine Auseinandersetzung mit der Frage geboten gewesen, ob und inwieweit die Möglichkeit bestand, durch Maßnahmen im Rahmen der im Falle der Aussetzung des Maßregelvollzugs kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht (§ 67d Abs. 3 Satz 2 StGB) gemäß §§ 68a, 68b StGB ein ausreichendes Maß an Kontrolle der sozialen Kontakte und der Alkoholabstinenz des Beschwerdeführers zu erreichen. Die §§ 68a, 68b StGB stellen ein vielfältiges Instrumentarium zur Verfügung, so dass es zumindest geboten gewesen wäre, den Einsatz dieser Möglichkeiten zu prüfen und gegebenenfalls darzulegen, warum bei Einsatz dieser Möglichkeiten ein ausreichendes Maß an Betreuung und Kontrolle des Beschwerdeführers nicht erreichbar ist. Dass diese Frage in den angegriffenen Beschlüssen nicht erörtert wird, zeigt, dass die Gerichte bei der Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers die Bedeutung und Tragweite des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verkannt haben.
2. Die Entscheidung über die Aufhebung der angegriffenen Beschlüsse und die Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
4. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigt sich mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde.
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen
Haufe-Index 3707818 |
NPA 2013 |