Verfahrensgang

OLG Hamburg (Beschluss vom 29.09.1994; Aktenzeichen 2 Ws 364/94)

 

Tenor

Der Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 29. September 1994 – 2 Ws 364/94 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg zurückverwiesen.

Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anrechnung sogenannter verfahrensfremder Untersuchungshaft auf eine in anderer Sache erkannte Strafe.

  • 1. Gegen den Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Berlin vom 21. Dezember 1992, rechtskräftig seit dem 19. August 1993, wegen Hehlerei in zwölf Fällen (Tatzeiten: Mai 1991 bis Oktober 1991) eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verhängt. Die in dieser Sache vom 5. März bis 21. Dezember 1992 erlittene Untersuchungshaft wurde auf die am 1. März 1994 angetretene Strafhaft angerechnet. Das Strafende wurde auf den 12. Mai 1996 notiert; daraus ergab sich der 12. Mai 1995 als sogenannter Zweidrittel-Termin (§ 57 Abs. 1 StGB).

    Später wurde der Beschwerdeführer durch die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Hamburg angeklagt, am 13. März 1989 gemeinschaftlich mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel betrieben zu haben. Für jene Sache befand er sich etwa neun Monate in Untersuchungshaft (13. März 1989 bis 15. Dezember 1989). Durch Beschluß des Landgerichts Hamburg vom 2. März 1994 wurde das Verfahren im Hinblick auf die bereits verhängte Strafe gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Der Beschwerdeführer hatte auf eine Haftkostenentschädigung verzichtet.

    Die Staatsanwaltschaft verweigerte dem Beschwerdeführer die Anrechnung der in dem eingestellten Verfahren erlittenen Untersuchungshaft. Im Verfahren gemäß § 458 Abs. 1 StPO gab die Strafvollstreckungskammer dem Antrag in analoger Anwendung von § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB statt. Es müsse berücksichtigt werden, daß im Fall der Verurteilung in der eingestellten Sache die Strafe aus der vorliegenden Sache gemäß § 55 StGB in eine Gesamtstrafe einbezogen worden wäre.

    Diese Entscheidung wurde jedoch auf sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin vom Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg durch den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluß vom 29. September 1994 wieder aufgehoben. Zur Begründung wird ausgeführt, der Senat nehme auf seine bisherige Rechtsprechung (vgl. NStZ 1993, S. 204) Bezug; nach überwiegender Ansicht der Oberlandesgerichte sei eine direkte oder entsprechende Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in Fällen der Verbindungsfähigkeit oder potentiellen Gesamtstrafenfähigkeit abzulehnen. Der Wortlaut des § 51 StGB sei eindeutig. Wenn eine Anrechnung nicht möglich sei, stehe ein Entschädigungsanspruch nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen bereit. Eine Anrechnung verfahrensfremder Freiheitsentziehungen sei auch nicht zuverlässig durchführbar. Auch habe das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, daß die fehlende Möglichkeit der Anrechnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung auf eine in einem anderen Verfahren erkannte Freiheitsstrafe den Gleichheitssatz nicht verletze (Bezugnahme auf den Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Januar 1994 – 2 BvR 1436/93 –, NJW 1994, S. 2219).

    2. Mit seiner rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, die angegriffene Entscheidung verletze ihn in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG. Er hält es für geboten, § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB dahingehend auszulegen, daß die Vorschrift auch im Fall einer möglichen – tatsächlich aber nicht vorgenommenen – Verfahrensverbindung Anwendung finde. Ohne Anrechnung werde der Betroffene in verfassungswidriger Weise schlechter gestellt, als wenn das eingestellte Verfahren mit einer Verurteilung geendet hätte. Denn dann hätte zumindest im nachhinein aus beiden Verurteilungen eine Gesamtstrafe unter Anrechnung der Untersuchungshaft gebildet werden müssen.

  • Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluß vom 18. November 1994 im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG das Landgericht Hamburg angewiesen, unverzüglich unter fiktiver Anrechnung der vom Antragsteller im Verfahren der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Hamburg erlittenen Untersuchungshaft über die Aussetzung der Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 21. Dezember 1992 zur Bewährung zu entscheiden. Das Landgericht Hamburg hat daraufhin am 6. Dezember 1994 die Vollstreckung des Restes der durch Urteil des Landgerichts Berlin erkannten Gesamtfreiheitsstrafe gemäß § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt und unter Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft die Entlassung des Beschwerdeführers zum 14. Dezember 1994 verfügt. Die Bewährungszeit sollte bis zum 13. Dezember 1999 andauern. Inzwischen ist die Aussetzung der Vollstreckung des Restes dieser Gesamtstrafe widerrufen worden, weil der Beschwerdeführer erneut straffällig wurde (Beschluß des Landgerichts Hamburg vom 20. Januar 1998 und des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 23. Februar 1998).
  • Der Justizsenator der Freien und Hansestadt Hamburg hat die gebotene Gelegenheit zur Stellungnahme nicht wahrgenommen.

    Durch Berichterstatterschreiben ist die Staatsanwaltschaft I bei dem Landgericht Berlin um Mitteilung gebeten worden, ob angesichts des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 26. Juni 1997 (BGHSt 43, 112 ff.), der einen ähnlichen Fall betreffe, eine dem Antrag des Beschwerdeführers entsprechende Strafzeitberechnung durchgeführt werde. Der Oberstaatsanwalt hat darauf mit Schreiben vom 11. September 1997 ausgeführt, es habe zwar zwischen dem hiesigen und dem Hamburger Strafverfahren zeitweilig eine “wechselseitige Sicherungsfunktion” durch Überhaftnotierung für das Hamburger Verfahren bestanden. Mit Beschluß vom 26. Juni 1992 sei der dortige Haftverschonungsbeschluß vom 14. Dezember 1989 aufgehoben und der Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 14. März 1989 wieder in Vollzug gesetzt worden, weil die im hiesigen Verfahren abgeurteilten Taten ausschließlich in den Zeitraum der Hamburger Haftverschonung gefallen seien. Andererseits hätten – soweit ersichtlich – weder dem Bundesgerichtshof noch dem Bundesverfassungsgericht Fallkonstellationen zur Entscheidung vorgelegen, bei denen – wie hier – der Verurteilte ausdrücklich auf Entschädigung für die im nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellten (Hamburger) Strafverfahren erlittene Untersuchungshaft verzichtet habe. Ohne diese ausdrückliche Verzichtserklärung wäre der Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß § 154 Abs. 2 StPO nicht gestellt worden (“Deal”). Unter diesen Umständen werde eine neue Strafzeitberechnung nicht in Aussicht gestellt.

  • Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Sie ist zulässig; insbesondere besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, weil die Staatsanwaltschaft an der in dem angegriffenen Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg niedergelegten Rechtsauffassung festhält und sich der Beschwerdeführer inzwischen wiederum in Strafhaft befindet.

    Die Kammer ist gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zur Entscheidung zuständig. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

    1. Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluß verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG, weil die vom Gericht angestellten Erwägungen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen.

    a) Die Entscheidung über die Anrechnung erlittener Untersuchungs- oder Auslieferungshaft auf die zeitige Freiheitsstrafe (§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) betrifft die Vollstreckung der Freiheitsstrafe, durch welche die durch Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Person stets berührt wird (vgl. BVerfGE 86, 288 ≪311≫). Dieses Freiheitsrecht beeinflußt als objektive, für alle Bereiche des Rechts geltende Wertentscheidung (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪322≫) auch die Auslegung und Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB.

    Erfaßt der Tatbestand einer für eine bestimmte Rechts- und Interessenlage getroffenen Norm eine Fallgestaltung nicht unmittelbar und fehlt es auch sonst an einer besonderen Regelung, so ist durch Auslegung des Gesetzes zu ermitteln, ob eine echte Gesetzeslücke vorliegt, die durch die entsprechende Anwendung einer für vergleichbare Rechts- und Interessenlagen getroffenen Norm zu schließen ist, oder ob es – aufgrund eines Umkehrschlusses – bei der Anwendung der Grundregel sein Bewenden hat. Diese Exegese ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte, die für die Auslegung und Anwendung des unter der Verfassung stehenden Gesetzesrechts zuständig sind. Das Bundesverfassungsgericht greift jedoch ein, wenn diese Gerichte von einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts ausgehen (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫; stRspr). Das kann auch der Fall sein, wenn das Gericht Erwägungen anstellt, die der grundsätzlichen Bedeutung des Grundrechts insgesamt nicht genügen.

    Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG steht, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, der analogen Heranziehung einer Vorschrift als materiell-gesetzliche Grundlage für eine Freiheitsentziehung entgegen (vgl. BVerfGE 29, 183 ≪195≫). Andererseits läßt sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht entnehmen, daß eine für bestimmte Fälle gesetzlich geregelte Verschonung vor Freiheitsentziehung ohne weiteres auf davon nicht umfaßte Fälle vergleichbarer Interessenlagen anzuwenden wäre. Auch aus Art. 3 Abs. 1 GG, dem der gesetzgeberische Gleichheitssatz zu entnehmen ist, läßt sich, wie das Oberlandesgericht zutreffend bemerkt, eine solche Verpflichtung, abgesehen von den Fällen einer willkürlichen Differenzierung, nicht entnehmen. Der Gleichheitssatz fordert, daß vergleichbare Sachverhalte auch eine vergleichbare rechtliche Regelung erfahren. Eine Analogie hat zwar die Vergleichbarkeit der Rechts- und Interessenlage zur Voraussetzung. Die einfachrechtliche Streitfrage, ob im einzelnen Fall eine Analogie geboten ist, wird dadurch jedoch nicht zu einer durch das Bundesverfassungsgericht voll nachprüfbaren Verfassungsfrage. Denn die Entscheidung hängt von jenen einfachrechtlichen Wertungsmaßstäben ab, die der für eine Analogie in Betracht gezogenen Gesetzesvorschrift zugrunde liegen. Sie zu finden, ist Aufgabe der Fachgerichte.

    Der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts zugänglich ist jedoch, ob die Gerichte bei der Ermittlung und Anwendung der einfachrechtlichen Wertungsmaßstäbe die Wertordnung der Grundrechte genügend erwogen haben.

    b) Hieran gemessen hält der Beschluß des Oberlandesgerichts der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand.

    aa) Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 26. Juni 1997 (BGHSt 43, 112 ff.) darauf hingewiesen, daß bereits die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu § 60 des Reichsstrafgesetzbuches der Anrechnung von Untersuchungshaft einen weiten Raum eröffnet habe. Danach sei es für die Anrechnung gleichgültig gewesen, wegen welcher von mehreren Taten Untersuchungshaft angeordnet worden sei; der erforderliche Zusammenhang zwischen der erlittenen Untersuchungshaft und der abgeurteilten Tat sei schon dann gewahrt gewesen, wenn die mehreren Taten Gegenstand derselben Untersuchung, desselben Verfahrens gewesen seien oder die Untersuchungen hinsichtlich der mehreren Taten in Beziehung zueinander gestanden hätten. Lediglich dann sei die Anrechnung unzulässig gewesen, wenn die Untersuchungshaft beendet gewesen sei, bevor die später abgeurteilte Tat begangen worden sei. Auch habe die Bildung einer Gesamtstrafe mit einer in einem anderen Verfahren verhängten Strafe als für die Anrechnungsvoraussetzungen erforderliche Verfahrensverbindung nicht ausgereicht. Von diesen Einschränkungen abgesehen sei die Anrechnung der Untersuchungshaft zur Regel geworden. Diese Rechtsprechung habe der Bundesgerichtshof zu § 60 des Strafgesetzbuches a.F. übernommen und fortgeführt (vgl. BGH, a.a.O., S. 117). Das Erste Strafrechtsreformgesetz habe bestimmt, daß Untersuchungshaft aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, grundsätzlich anzurechnen sei und – in Abkehr vom Erfordernis der Tatidentität – den Grundsatz der Verfahrenseinheit gesetzlich festgeschrieben. Die Gesetzesmaterialien böten aber keinen Anhalt dafür, unter welchen konkreten Voraussetzungen nach dem Willen des Gesetzgebers von einer Verfahrenseinheit im Sinne des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgegangen werden könne. Dieser Grundsatz, der von der Rechtsprechung als Sekundärbegriff entwickelt worden sei mit dem Ziel, das Gesetz zugunsten des Verurteilten weit auszulegen, sei aber nicht zwingend mit einer formalen, gegebenenfalls durch förmliche Verbindung hergestellten Verfahrenseinheit gleichzusetzen. Entsprechend der in den Regelungen des § 60 StGB a.F., § 51 StGB n.F. zum Ausdruck gekommenen Wertungstendenz des Gesetzgebers, Untersuchungshaft, soweit sie überhaupt in einem Zusammenhang mit einer verhängten Strafe stehe, möglichst umfassend anzurechnen, habe die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Vorschrift des § 51 StGB stets weit ausgelegt (dies wird ausgeführt; vgl. BGH, a.a.O., S. 118 f.). Nach der gesetzlichen Anrechnungsregel des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB sei es allerdings erforderlich, daß zwischen den Strafverfolgungen hinsichtlich der die Untersuchungshaft auslösenden Tat und der Tat, die der Verteilung zugrunde liege, ein Zusammenhang bestanden haben müsse oder zwischen ihnen ein irgendwie gearteter sachlicher Bezug vorhanden gewesen sei. Es erscheine – auch auf dem Hintergrund der dieser Vorschrift zugrundeliegenden Entwicklung der Rechtsprechung – geboten, die Anrechnungsvoraussetzungen auch dann anzunehmen, wenn das die vorläufige Freiheitsentziehung betreffende Verfahren formal von dem anderen zur Verurteilung führenden Verfahren getrennt geführt worden sei, die vorläufige Freiheitsentziehung in dem einen Verfahren sich aber auf den Gang oder den Abschluß des anderen Verfahrens konkret ausgewirkt habe. Es liege nahe, die Voraussetzungen einer solchen (funktionalen) Verfahrenseinheit vor allem in den Fällen anzunehmen, in denen das Verfahren, für das Untersuchungshaft verbüßt worden sei, nach § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf das mit einer Verurteilung endende Verfahren eingestellt worden sei oder in denen sich eine formal verfahrensfremde vorläufige Freiheitsentziehung auf ein anderes Verfahren in sonstiger Weise verfahrensnützlich ausgewirkt habe. Eine Verfahrenseinheit in dem dargelegten Sinn liege jedenfalls dann vor, wenn in dem Verfahren, das später zu einer Verurteilung geführt habe, zwar ein Haftbefehl erlassen, dieser aber nicht – dauerhaft – vollzogen, sondern hierfür – zeitweilig – Überhaft notiert worden sei, weil in einem anderen Verfahren gegen denselben Beschuldigten bereits ein Haftbefehl existiert und auch vollstreckt worden sei.

    bb) Gegenüber diesen, auch auf den vorliegenden Fall zutreffenden Erwägungen, die der Intention des Gesetzgebers entsprechen, durch eine weite Anwendung des § 51 StGB die Dauer des Freiheitsentzuges für mehrere irgendwie zusammenhängende Taten zu begrenzen, und dadurch dem Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zu einer verstärkten Wirkung verhelfen, erscheint die Begründung des Oberlandesgerichts, mit der die Anrechnung versagt wird, ungenügend. Das Oberlandesgericht beruft sich im wesentlichen nur auf den Wortlaut der Vorschrift und die überwiegende Ansicht der Oberlandesgerichte. Es versäumt hingegen, die der Rechtsvorschrift zugrundeliegende Wertung aus der gesetzgeberischen Vorgeschichte und der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs zu erforschen. Es übergeht damit gerade Gesichtspunkte, die, wie der Beschluß des Bundesgerichtshofs zeigt, dem Freiheitsgrundrecht zu besonderer Wirkung verhelfen.

    Demgegenüber führen die vom Oberlandesgericht gegen die analoge Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB angeführten zusätzlichen Erwägungen nicht weiter. Es ist nicht einsehbar, inwiefern eine Anrechnung verfahrensfremder Untersuchungshaft an Praktikabilitätsgründen scheitern sollte, wenn der Verurteilte selbst auf eine verfahrensfremde Freiheitsentziehung hinweist, die er in einem nach § 154 StPO eingestellten Verfahren erlitten hat, und um deren Anrechnung bittet, sei es vor Erlaß des Urteils, sei es nachträglich im Verfahren der Strafzeitberechnung. Auch die Regelung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen bietet keinen stichhaltigen Grund gegen die Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB. Sie geht ins Leere, wenn das Gesetz die Anrechnung der verfahrensfremden Freiheitsentziehung zuläßt; sie greift, wenn eine Anrechnung nicht in Betracht kommt. Darauf, daß ein Beschuldigter vor der Verfahrenseinstellung auf die Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft verzichtet hat, kann es nicht ankommen. Schließlich kann sich das Oberlandesgericht auch nicht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die Anrechnung von Zeiten des Maßregelvollzugs berufen. Der Zweite Senat hat in seinem Beschluß vom 16. März 1994 (BVerfGE 91, 1 ff.) festgestellt, daß die Freiheitsstrafe und die Maßregel verschiedene Zwecke verfolgen (BVerfGE, a.a.O., S. 31) und daß sich der Gesetzgeber in §§ 67 bis 67g StGB für ein System grundsätzlich teilweiser Anrechnung der Zeit des Maßregelvollzugs auf die Freiheitsstrafe entschieden hat, wogegen nichts zu erinnern sei (BVerfGE, a.a.O., S. 32). Von diesem System unterscheidet sich aber die Regelung des § 51 StGB.

    c) Dieser Befund führt zu der Feststellung, daß die Gründe des angegriffenen Beschlusses verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen. Der Beschluß ist aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.

    2. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

    Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Limbach, Kruis, Winter

 

Fundstellen

Haufe-Index 1276476

NStZ 1999, 24

StV 1998, 664

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