Verfahrensgang
OLG München (Beschluss vom 10.10.2006; Aktenzeichen 4St RR 193/06) |
LG München I (Urteil vom 23.06.2006; Aktenzeichen 15 Ns 315 Js 38106/02) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
I.
Der Beschwerdeführer hat den Rechtsweg nicht erschöpft.
1. Das Gebot der Rechtswegerschöpfung gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG verlangt vom Beschwerdeführer, die ihm zur Verfügung stehenden fachgerichtlichen Rechtsbehelfe einzulegen.
a) Der gerügte Grundrechtsverstoß soll gemäß dem Subsidiaritätsgrundsatz nach Möglichkeit schon im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden. Aus diesem Grund ist der Begriff des Rechtswegs in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG weit auszulegen. Er erfasst jede gesetzlich normierte Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts (vgl. BVerfGE 67, 157 ≪170≫), die geeignet ist, den Grundrechtsverstoß zu beseitigen. Damit gehört zum Rechtsweg auch die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach einer einen Rechtsbehelf verwerfenden Entscheidung (vgl. BVerfGE 10, 274 ≪281≫; 77, 275 ≪282≫). Dies gilt auch dann, wenn die Wiedereinsetzung – wie im Fall des § 329 Abs. 3 StPO – selbstständig neben dem Rechtsmittel der Revision steht (vgl. BVerfGE 42, 252 ≪256≫), denn die Entscheidungsvoraussetzungen für den Rechtsbehelf und das Rechtsmittel sind grundsätzlich nicht deckungsgleich (vgl. BVerfGE 42, 252 ≪256 f.≫).
b) Die Einlegung des Rechtsbehelfs alleine genügt nicht. Der Beschwerdeführer muss ihn auch in gehöriger Weise einlegen. Das auf Korrektur der Grundrechtsverletzung bereits im fachgerichtlichen Verfahren zielende Gebot der Rechtswegerschöpfung bliebe funktionslos, ließe man die Einlegung unzulässiger Rechtsbehelfe, die eine sachliche Überprüfung der Entscheidung nicht eröffnen, genügen (vgl. BVerfGE 91, 93 ≪107≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juni 1993 – 2 BvR 1767/92 –, juris; BVerfGK 1, 222 ≪223≫).
2. Der Beschwerdeführer hat von der ihm gemäß § 329 Abs. 3 StPO eingeräumten Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen das die Berufung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verwerfende Urteil nicht in einer dem Gebot der Rechtswegerschöpfung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht.
a) Ausweislich der Ausführungen des Oberlandesgerichts im angegriffenen Beschluss hatte der Beschwerdeführer Revision gegen das Verwerfungsurteil eingelegt, ohne die Revision mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung zu verbinden. Legt aber der Beschwerdeführer Revision ein, ohne diese mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verbinden, gilt dies nach § 342 Abs. 3 StPO unwiderleglich als Verzicht auf die Wiedereinsetzung. Dementsprechend hat das Landgericht ausweislich der Feststellungen des Oberlandesgerichts den Wiedereinsetzungsantrag des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 3. Juli 2006 gemäß § 342 Abs. 3 StPO verworfen.
b) Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 329 Abs. 3 StPO war auch nicht deshalb entbehrlich, weil er von vornherein ungeeignet gewesen wäre, den gerügten Grundrechtsverstoß zu beseitigen. Eine Pflicht zur Rechtswegerschöpfung besteht nur im Rahmen des Zumutbaren. Daran fehlt es, wenn der Beschwerdeführer im Wiedereinsetzungsverfahren nichts hätte geltend machen können, was nicht schon Gegenstand der angegriffenen Entscheidung war (vgl. BVerfGE 77, 275 ≪282≫). Eine solche Unzumutbarkeit lag hier nicht vor.
Der Beschwerdeführer hätte neue, dem Berufungsgericht im Zeitpunkt des Verwerfungsurteils nicht bekannte Tatsachen im Wiedereinsetzungsverfahren geltend machen können. Ausweislich der Revisionsbegründung und der Gründe des angegriffenen Beschlusses hatte der Beschwerdeführer “nachfolgend”, also im Anschluss an die Berufungshauptverhandlung vom 23. Juni 2006, ein ärztliches Attest des Chefarztes der Psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses PD Dr. med. B… vom 27. Juni 2006 vorgelegt, wonach bei ihm eine seit längerem andauernde, während der vorangegangenen sechs Monate bereits ambulant behandelte psychische Erkrankung vorgelegen habe und eine Verhandlungsunfähigkeit am 23. Juni 2006 gegeben gewesen sei.
Dieses ärztliche Attest vom 27. Juni 2006 konnte der Beschwerdeführer mit Erfolg sogar ausschließlich im Wiedereinsetzungsverfahren geltend machen. Im Revisionsverfahren war er damit ausgeschlossen. Das auf die Überprüfung von Rechtsfehlern beschränkte Revisionsgericht ist an die vom Berufungsgericht im Rahmen von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO festgestellten Tatsachen gebunden. Es darf sie weder prüfen noch ergänzen (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 11. April 1979 – 2 StR 306/78 –, NJW 1979, S. 2319 ≪2320≫; Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 12. September 2000 – 5St RR 259/00 –, juris; Beschluss des Kammergerichts vom 19. Dezember 2001 – (3) 1 Ss 149/01 (92/01) –, NStZ-RR 2002, S. 218; Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 29. September 1981 – 2 Ss 108/81 –, NStZ 1982, S. 433; Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 4. Juni 1999 – Ss 217/99 B –, NStZ-RR 1999, S. 337 ≪338≫) und im Wege des Freibeweises nur dann korrigieren, wenn – was hier nicht der Fall war – mit der Rüge schlüssig vorgetragen ist, dass das Berufungsgericht seine Ermittlungspflicht verletzt habe (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 11. April 1979 – 2 StR 306/78 –, NJW 1979, S. 2319 ≪2320≫; Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 4. Juni 1999 – Ss 217/99 B –, NStZ-RR 1999, S. 337 ≪338≫).
Tatsachen, die ein entschuldigtes Ausbleiben im Sinne von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO belegen und die dem Berufungsgericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht bekannt waren, muss der Betroffene im Wiedereinsetzungsverfahren geltend machen (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 11. April 1979 – 2 StR 306/78 –, NJW 1979, S. 2319 ≪2320≫; Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 12. April 1988 – 2 Ws 191/88 –, NStZ 1988, S. 377 ≪378≫). Könnte das Revisionsgericht selbst andere oder weitere Feststellungen treffen, wäre die Möglichkeit der Wiedereinsetzung weitestgehend bedeutungslos, da dem Angeklagten hierdurch nicht mehr Rechte eingeräumt würden, als er ohnehin durch das Rechtsmittel der Revision bereits hätte. Zudem könnten – systemwidrig – in die Entscheidung des Revisionsgerichts Tatsachen einfließen, die ihren Ursprung erst in der Zeit nach der zur Verwerfung der Berufung führenden Hauptverhandlung hatten (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 11. April 1979 – 2 StR 306/78 –, NJW 1979, S. 2319 ≪2320≫).
Es ist nicht auszuschließen, dass ein auf das – neue – ärztliche Attest vom 27. Juni 2006 gestützter Antrag auf Wiedereinsetzung in der Sache erfolgreich gewesen wäre, hätte der Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung prozessual ordnungsgemäß verfolgt. Dazu war wegen § 342 Abs. 3 StPO erforderlich, den Wiedereinsetzungsantrag mit der Einlegung der Revision zu verbinden (durch ausdrückliche Bezugnahme, einheitlichen Schriftsatz oder gleichzeitige Einreichung zweier Schriftsätze, vgl. Lohse, in: Krekeler/Löffelmann, StPO, Anwaltkommentar, 2007, § 342 Rn. 3) oder bei Einlegung der Revision auf einen zuvor gestellten Wiedereinsetzungsantrag Bezug zu nehmen, um so das Festhalten an dem Wiedereinsetzungsantrag zu dokumentieren (vgl. Kuckein, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 5. Aufl. 2003, § 342 Rn. 8). Dies hat der Beschwerdeführer versäumt.
II.
Im Übrigen ist die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten nicht dargelegt.
1. Prüfungsmaßstab für den gerügten Grundrechtsverstoß ist Art. 103 Abs. 1 GG. Dass dieser nicht ausdrücklich als verletzt gerügt ist, hindert das Verfassungsgericht nicht, seine Prüfung hierauf zu erstrecken (vgl. BVerfGE 71, 202 ≪204≫ m.w.N.). Als spezielleres Grundrecht geht er in seinem Anwendungsbereich dem allgemeinen Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG vor (vgl. BVerfGE 60, 305 ≪308, 310≫).
a) Art. 103 Abs. 1 GG ist einschlägig; da die Verwirklichung des Anspruchs des Angeklagten auf rechtliches Gehör von Auslegung und Anwendung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO abhängt (vgl. BVerfGE 41, 332 ≪334≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. September 1993 – 2 BvR 1366/93 –, juris). Zwar garantiert Art. 103 Abs. 1 GG nur die Äußerungsmöglichkeit und ist nicht beeinträchtigt, wenn der Beteiligte ihm eingeräumte prozessuale Möglichkeiten nicht ausschöpft (vgl. BVerfGE 74, 220 ≪225≫), weil er etwa – wie im Fall des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO – ohne genügende Entschuldigung der Berufungshauptverhandlung fernbleibt (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 1. August 1962 – 4 StR 122/62 –, NJW 1962, S. 2020 ≪2021≫). § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO, der das Nichterscheinen des Angeklagten mit dem Verlust des Rechtsmittels sanktioniert, ist allerdings nur vor dem Hintergrund der Rechtsvermutung zu rechtfertigen, dass der Angeklagte durch sein Ausbleiben zeige, dass er das Rechtsmittel nicht mehr weiterverfolgen wolle und damit auf rechtliches Gehör und eine sachliche Nachprüfung des gegen ihn ergangenen Urteils verzichte (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 1. August 1962 – 4 StR 122/62 –, NJW 1962, S. 2020 ≪2021≫; Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 12. September 2000 – 5St RR 259/00 –, juris; vgl. auch ≪Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten nach § 231a StPO≫ BVerfGE 41, 246 ≪249 f.≫; 89, 120 ≪129 ff.≫). Der hierbei möglicherweise eintretende endgültige Verlust der Äußerungsmöglichkeit gebietet eine enge Auslegung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 1. August 1962 – 4 StR 122/62 –, NJW 1962, S. 2020 ≪2021≫).
b) Aus dieser von Verfassungs wegen gebotenen engen Auslegung von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO folgt eine Pflicht des Gerichts, Anhaltspunkten für ein entschuldigtes Ausbleiben des Angeklagten durch Ermittlungen im Freibeweis nachzugehen (vgl. Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 20. Oktober 1997 – 3 St RR 54/97 –, NJW 1998, S. 172; Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 30. Oktober 1998 – 3 St RR 114/98 –, NStZ-RR 1999, S. 143; Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 12. September 2000 – 5St RR 259/00 –, juris; Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 20. Februar 1987 – 1 Ss 468/86 –, NJW 1988, S. 2965), das Verbot, die Berufung bei bloßen Zweifeln an der Richtigkeit des tatsächlichen Vorbringens des Angeklagten und an der Beweiskraft der vorgelegten Urkunden zu verwerfen (vgl. Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 20. Oktober 1997 – 3 St RR 54/97 –, NJW 1998, S. 172; Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 30. Oktober 1998 – 3 St RR 114/98 –, NStZ-RR 1999, S. 143; Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 20. Februar 1987 – 1 Ss 468/86 –, NJW 1988, S. 2965), und das generelle Gebot, bei der Verschuldensfrage eine weite Auslegung zu Gunsten des Angeklagten vorzunehmen (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 1. August 1962 – 4 StR 122/62 –, NJW 1962, S. 2020 ≪2021≫; Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 12. Februar 2001 – 2 St RR 17/2001 –, NJW 2001, S. 1438 ≪1439≫ m.w.N.; Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 20. Februar 1987 – 1 Ss 468/86 –, NJW 1988, S. 2965).
2. Dass das Landgericht diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht genügt hätte, ist weder dargetan noch ersichtlich.
Das Gericht war von Verfassungs wegen nicht gehalten, bereits aufgrund der vorgelegten Bescheinigung eine genügende Entschuldigung des Ausbleibens zu bejahen. Die Zweifel des Gerichts an der Aussagekraft der Bescheinigung sind plausibel und nachvollziehbar. Die Bescheinigung war nicht von einem Arzt, sondern der Patientenverwaltung des Krankenhauses ausgestellt und enthielt keinerlei Angaben zu Diagnose und einer etwaigen Verhandlungs- bzw. Reiseunfähigkeit. Soweit die Bescheinigung Anhaltspunkte für ein entschuldigtes Ausbleiben des Beschwerdeführers geboten haben mag, ist das Gericht diesen im Wege des Freibeweises erschöpfend nachgegangen. Wenn es auf der Grundlage der sofort eingeholten Beweise zur Überzeugung gelangte, dass eine die Teilnahme an der Verhandlung ausschließende Erkrankung des Beschwerdeführers nicht vorlag, ist auch dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Vorsitzende Richter hatte keinen Anlass, die Diagnose des Arztes Dr. H… in Zweifel zu ziehen oder weitere Nachforschungen anzustellen. Die Diagnose war eindeutig und erlaubte den Schluss, dass sie auf Patientenkenntnis beruhte. Der zunächst kontaktierte behandelnde Arzt Dr. E… hatte den Vorsitzenden Richter ausdrücklich an den die Auskunft gebenden Arzt Dr. H… verwiesen, und dieser hatte seine Diagnose nicht unter erkennbaren Vorbehalt gestellt. Anhaltspunkte dafür, dass das Gericht die Anforderungen an ein fehlendes Verschulden des Beschwerdeführers überspannt hätte, bestehen nicht. Es ist weder ersichtlich noch dargetan, dass der Beschwerdeführer darauf vertrauen durfte, die vorgelegte Bescheinigung reiche aus, ihn genügend zu entschuldigen. Dies ist regelmäßig nur bei einem ärztlichen, die Verhandlungs- oder Reiseunfähigkeit bescheinigenden Attest der Fall (vgl. Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 6. Mai 1985 – 2 Ws 184/85 und 2 Ss 161/85 – 104/85 II –, NJW 1985, S. 2207 ≪2208≫).
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Di Fabio, Landau
Fundstellen