Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfolgung von Straftaten, die in der DDR begangen wurden
Verfahrensgang
AG Stralsund (Entscheidung vom 02.07.2000; Aktenzeichen 42 Ds 358/99) |
Tenor
Die Vorlage ist unzulässig.
Tatbestand
A.
Die Vorlage des Amtsgerichts betrifft die Frage, ob Art. 315a Abs. 2 EGStGB mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist.
I.
1. Diese Vorschrift hat in der ab 31. Dezember 1997 geltenden Fassung folgenden Wortlaut:
Art. 315a
(1) Soweit die Verjährung der Verfolgung oder der Vollstreckung nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik bis zum Wirksamwerden des Beitritts nicht eingetreten war, bleibt es dabei. Dies gilt auch, soweit für die Tat vor dem Wirksamwerden des Beitritts auch das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland gegolten hat. Die Verfolgungsverjährung gilt als am Tag des Wirksamwerdens des Beitritts unterbrochen; § 78c Abs. 3 des Strafgesetzbuches bleibt unberührt.
(2) Die Verfolgung von Taten, die in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet begangen worden sind und die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind, verjährt frühestens mit Ablauf des 2. Oktober 2000, die Verfolgung der in diesem Gebiet vor Ablauf des 2. Oktober 1990 begangenen und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bedrohten Taten frühestens mit Ablauf des 31. Dezember 1995.
(3) Verbrechen, die den Tatbestand des Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches) erfüllen, für welche sich die Strafe jedoch nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik bestimmt, verjähren nicht.
2. Art. 315a EGStGB wurde durch das Gesetz zur Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen (2. Verjährungsgesetz) vom 27. September 1993 (BGBl I S. 1657) dahin geändert, dass der Verjährungszeitpunkt für DDR-Alttaten mit drei- bzw. fünfjähriger Verjährungsfrist auf den 2. Oktober 1996 bzw. 2. Oktober 2000 geschoben wurde. Dem lag die Annahme zugrunde, dass insbesondere im Blick auf den Neuaufbau der Justiz in den neuen Ländern zahlreiche Straftaten nicht mehr vor Eintritt der Strafverfolgungsverjährung geahndet werden könnten (vgl. die Begründung des Gesetzesantrags des Landes Mecklenburg-Vorpommern BRDrucks 147/92 S. 3 f.). Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz wurde darin nicht gesehen; vielmehr sollte die vereinigungsbedingte Ungleichheit in der Verfolgungseffizienz zwischen den alten und den neuen Ländern ausgeglichen werden (BRDrucks 147/92 S. 6). Art. 315a Abs. 2 EGStGB wurde sodann durch das Gesetz zur weiteren Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen und zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (3. Verjährungsgesetz) vom 22. Dezember 1997 (BGBl I S. 3223) in die nunmehr geltende Fassung abgeändert. Dies beruht auf einem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. vom 11. November 1997 (BTDrucks 13/8962). Dieser Entwurf ging davon aus, dass die Justiz in den neuen Ländern trotz größter Anstrengungen an ihre Grenzen gestoßen sei (BTDrucks 13/8962 S. 3). Deshalb sei es angebracht, die Strafverfolgungsverjährung bei mittelschweren Straftaten nochmals bis zum 2. Oktober 2000 hinauszuschieben. Dies wurde im Rechtsausschuss (vgl. BTDrucks 13/9252 S. 4 ff.) und im Parlament (Plenarprot. 13/208 S. 18997 ff.) kontrovers diskutiert, das Gesetz aber wurde mit Mehrheit verabschiedet. Ein Antrag der Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt, die weitere Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen abzulehnen (BRDrucks 936/1/97), wurde nicht angenommen.
II.
Dem Ausgangsverfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Die als Küchenhilfe beschäftigte Angeschuldigte fiel ab dem Jahre 1986 dadurch auf, dass sie ihren Arbeitspflichten nicht nachkam. Sie hatte schon seit jener Zeit zahlreiche Verbindlichkeiten. Am 21. August 1986 wurde die Angeschuldigte vom Rat der Stadt Stralsund als „kriminell gefährdete Bürgerin” erfasst. Aufgrund des Ergebnisses einer fachärztlichen Untersuchung wurde ihr u.a. die Auflage erteilt, sich einer psychiatrischen Untersuchung zu unterziehen. Da sie dem nicht nachkam, erging am 2. November 1987 eine Ordnungsstrafverfügung, mit der ihr eine Strafe von 250 Mark der DDR auferlegt wurde. Durch Beschluss des Rates der Stadt Stralsund vom 4. Januar 1988 zur Sicherung der Erziehung und Entwicklung ihrer beiden Kinder wurde deren Heimunterbringung angeordnet. Zwar sei die Versorgung der Kinder abgesichert. Jedoch seien Entwicklungsrückstände festzustellen. Die Angeschuldigte wurde angewiesen, nach Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe durch Arbeitsaufnahme für die materielle Grundlage der Kindeserziehung zu sorgen. Ferner wurde sie angewiesen, Heimkosten zu zahlen. Dem kam sie nicht nach.
Am 22. August 1988 wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Straftat gegen die öffentliche Ordnung durch „asoziale Lebensweise” und der Verletzung von Unterhaltspflichten eingeleitet. Einer polizeilichen Ladung zur Vernehmung folgte die Angeschuldigte nicht. Das Ermittlungsverfahren wurde am 1. September 1988 nach § 143 StPO/DDR (Vorläufige Einstellung durch das Untersuchungsorgan) vorläufig eingestellt. Bis zum 21. Januar 1999 wurde es nicht weiter betrieben. Im Auftrag der Staatsanwaltschaft führte die Polizei dann Ermittlungen durch, die sich auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Angeschuldigten seit 1990 bezogen. Nur dazu wurde sie polizeilich vernommen. Auf dieser Grundlage wurde das Strafverfahren gegen sie wegen Unterhaltspflichtverletzung ab Frühjahr 1990 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, weil ihre Leistungsfähigkeit nicht festgestellt werden könne. Im Übrigen wurde von der Staatsanwaltschaft Anklage zum Strafrichter wegen Unterhaltspflichtverletzung im Zeitraum vom 1. März 1988 bis zum Frühjahr 1990 erhoben. Die Tat habe die Angeschuldigte dadurch begangen, dass sie für ihre beiden Kinder nicht den Unterhalt zahlte, der mit Verfügung des Rates der Stadt Stralsund vom 1. März 1988 mit monatlich 70 Mark der DDR für jedes der beiden Kinder festgesetzt worden war. Sie habe zwar bis zur Übersiedlung nach Schleswig-Holstein im Frühjahr 1990 im VE-Einzelhandelsbetrieb Stralsund – Gaststätten – eine Anstellung mit einem Durchschnittslohn von monatlich 615,35 Mark der DDR gehabt, jedoch wegen Fernbleibens von der Arbeit kein Einkommen erzielt, so dass die Heimkosten aus öffentlichen Mitteln getragen werden mussten.
III.
Der Strafrichter hat das Verfahren ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 Abs. 1 GG eingeholt, ob Art. 315a Abs. 2 EGStGB i.d.F. des 3. Verjährungsgesetzes mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sei.
Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, es bestehe der hinreichende Verdacht einer Unterhaltspflichtverletzung. Für die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens sei allein entscheidend, ob Art. 315a Abs. 2 EGStGB verfassungskonform sei. Ohne diese Bestimmung wäre Strafverfolgungsverjährung eingetreten. Sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung der Strafverfolgungsverjährung in den alten und neuen Ländern lägen nicht mehr vor, so dass Art. 315a Abs. 2 EGStGB gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße.
Entscheidungsgründe
B.
Die Vorlage ist unzulässig.
I.
Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur zulässig, wenn es für die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift ankommt (vgl. BVerfGE 78, 201 ≪203 f.≫). Das vorlegende Gericht muss dazu darlegen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt (§ 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Es muss sich dabei eingehend mit der Rechtslage auseinander setzen (stRspr; BVerfGE 83, 111 ≪116≫; 88, 187 ≪194≫; 92, 277 ≪312≫; 97, 49 ≪60≫) und auch die Tatsachen mitteilen, auf die sich sein Standpunkt zur Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage stützt (BVerfGE 66, 265 ≪268 f.≫; 80, 68 ≪71≫). Dazu ist die Sachaufklärung in einem Umfang geboten, der die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit erst ermöglicht (BVerfGE 25, 269 ≪276≫; 58, 153 ≪157≫; 64, 251 ≪254≫). Dies gilt auch im Freibeweisverfahren, das der Anklageerhebung und dem Eröffnungsbeschluss im Strafverfahren zugrunde liegt; denn dort gilt die Aufklärungspflicht (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪309≫).
An der erforderlichen Sachaufklärung fehlt es hier, zumal zu dem nach Teileinstellung des Verfahrens verbliebenen Verfahrensgegenstand keine Beschuldigtenvernehmung durchgeführt worden war. Im Übrigen mangelt es dem Vorlagebeschluss an der Erörterung einer Reihe von Rechtsfragen, die der Eröffnung des Hauptverfahrens entgegenstehen können.
II.
1. Es bestehen Bedenken dagegen, dass der hinreichende Verdacht einer Pflichtverletzung der Angeschuldigten im Sinne von § 141 Abs. 1 StGB/DDR bzw. § 170 Abs. 1 StGB n.F. ausreichend mit Tatsachen belegt und rechtlich geprüft wurde. Entsprechend dem durch den Straftatbestand beabsichtigten Rechtsgüterschutz reicht die bloße Nichterfüllung des Unterhaltsanspruchs zur Tatbestandsverwirklichung nicht aus (BVerfGE 50, 142 ≪154≫). Zwischen der Unterhaltsverweigerung und der tatsächlichen oder nur durch Dritte abgewendeten Gefährdung des Lebensbedarfs des Unterhaltsberechtigten muss ein Kausalzusammenhang bestehen. Dafür kommt es in Fällen der Heimunterbringung unterhaltsberechtigter Kinder durch eine Behörde auf den Grund und die Zielsetzung der Unterbringung an (BVerfGE 50, 142 ≪155 f.≫). Nur die Zielsetzung, gerade mit der Heimunterbringung den wirtschaftlichen Lebensunterhalt zu garantieren, ist für die Frage der Unterhaltspflichtverletzung von Bedeutung. Sie muss für die Entscheidung über die Heimunterbringung nach Maßgabe des dafür geltenden Rechts tragend gewesen sein. Welche Zielsetzung dem Beschluss des Rates der Stadt Stralsund vom 4. Januar 1988 zugrunde lag, ist im Vorlagebeschluss nicht erörtert worden. Jedenfalls versteht sich die Zielsetzung, den materiellen Lebensbedarf der Kinder der Angeschuldigten zu sichern, nicht von selbst. Die Sicherstellung des materiellen Lebensunterhalts wird in dem Beschluss zur Sicherung der Erziehung und Entwicklung der Kinder zwar erwähnt. Dort wurde aber andererseits auch festgehalten: „Der Haushalt war sauber und die Versorgung der Kinder war abgesichert.” Als Grund der Heimunterbringung hervorgehoben wurden dagegen Entwicklungsrückstände der Kinder, was auf eine Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht oder eine Verletzung von Erziehungspflichten (§§ 171 StGB n.F., 142 StGB/DDR) hindeuten kann, die der Anklageschrift und dem Vorlagebeschluss aber nicht zugrunde liegt.
2. Tatbestandsvoraussetzung der Unterhaltspflichtverletzung ist ferner die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten (vgl. zu § 1603 Abs. 1 BGB BVerfGE 68, 256 ≪266 ff.≫). Danach muss der Täter zur Tatzeit imstande sein, wenigstens teilweise zu leisten, ohne seinen eigenen Lebensbedarf zu gefährden oder gegebenenfalls vorrangige Ansprüche Dritter unerfüllt zu lassen. Wird die Leistungsfähigkeit auf erzielbare Einkünfte gestützt, so müssen Feststellungen zu den tatsächlichen und möglichen Einkünften, zu den sonstigen Verpflichtungen des Unterhaltsschuldners und zu seinem Selbstbehalt sowie dem danach verbleibenden Betrag, den er leisten kann, getroffen werden. Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss müssen solche Urteilsfeststellungen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwarten lassen. Im Vorlagebeschluss wird dies nicht erörtert, obwohl Anlass dazu bestand. Der Beschluss stützt sich im Einklang mit der Anklageschrift ausschließlich auf ein theoretisch erzielbares Einkommen in Höhe von 615,30 Mark der DDR, wobei unberücksichtigt bleibt, dass dieser Betrag um 150 Mark Kindergeld zu mindern gewesen wäre. Nicht erwogen wird auch, ob die Angeschuldigte infolge ihres Alkoholmissbrauchs überhaupt physisch in der Lage war, die erforderliche Arbeitsleistung zu erbringen. In dem von der Anklage umfassten Tatzeitraum hatte die Angeschuldigte zudem erhebliche Verbindlichkeiten.
3. Zur Darlegung der Entscheidungserheblichkeit gehört ferner eine Auseinandersetzung mit der inneren Tatseite einschließlich der Schuldfrage, wenn dies erörterungsbedürftig ist (vgl. BVerfGE 35, 303 ≪306≫; 51, 401 ≪403 f.≫; 77, 364 ≪368≫). Anlass zur Prüfung dieser Frage bestand hier wegen der Anzeichen für eine Alkoholabhängigkeit der Angeschuldigten. Zur Frage der Schuldfähigkeit äußern sich aber weder die Anklageschrift noch der Vorlagebeschluss.
4. Im Blick auf den zehnjährigen Verfahrensstillstand, den die Angeschuldigte nicht zu vertreten hat, kommt schließlich ein Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen in Betracht. Der Aufenthalt der Angeschuldigten konnte infolge ihrer Sozialhilfebezüge seit dem Jahre 1990 ermittelt werden. Dies ist im Vorlagebeschluss nicht erörtert worden, und eine nachgereichte Bemerkung des Strafrichters trägt die Ablehnung eines solchen Verfahrenshindernisses nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das Strafverfahren am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen (vgl. BVerfGE 92, 277 ≪326≫). In besonderen Ausnahmefällen kann die Fortführung des Strafverfahrens unangemessen sein, was hier infolge der überlangen Verfahrensverzögerung der Fall sein kann. Die deshalb erforderliche Angemessenheitsprüfung wurde nicht vorgenommen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Hassemer, Broß
Fundstellen
Haufe-Index 565292 |
NStZ 2001, 261 |
NJ 2000, 640 |