Verfahrensgang
VG Potsdam (Urteil vom 08.09.2000; Aktenzeichen 3 K 2530/96.A) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 8. September 2000 – 3 K 2530/96. A – verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 16a Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Potsdam zurückverwiesen.
Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Abweisung einer Klage auf Gewährung politischen Asyls als offensichtlich unbegründet.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist kubanischer Staatsangehöriger.
Er reiste am 26. August 1995 mit einem von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Havanna ausgestellten für drei Monate gültigen Touristenvisum auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Maschine machte einen Zwischenhalt in Brüssel, bei dem andere Passagiere das Flugzeug verließen, der Beschwerdeführer jedoch im Flugzeug verblieb. Am 17. November 1995 beantragte der Beschwerdeführer die Gewährung politischen Asyls und stützte sich unter anderem auf eine politische Verfolgung seiner Familie in Kuba vor seiner Ausreise.
2. Durch Bescheid vom 17. Juni 1996 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte jedoch fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Kubas vorliegen. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, eine asylrelevante Verfolgung habe bis zur Ausreise nicht bestanden. Dem Antragsteller drohten nunmehr aber Verfolgungsmaßnahmen wegen der nichterfolgten Rückkehr nach Ablauf des Visums und der Asylantragstellung im Ausland. Ein Asylanspruch scheitere jedoch an der Regelung in § 28 AsylVfG betreffend Nachfluchtgründe.
3. Gegen die Versagung der Asylanerkennung erhob der Beschwerdeführer am 24. Juni 1996 Klage zum Verwaltungsgericht Potsdam. Diese begründete er unter anderem damit, seine Familie sei in Kuba seit einem Ausreiseantrag im Jahre 1966 als konterrevolutionär bekannt gewesen und habe deswegen Probleme gehabt. Er selbst sei im Oktober 1994 für neun Tage verhaftet und anschließend aus politischen Gründen von seiner Arbeitsstelle entlassen worden. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 8. September 2000 erklärte er, er wisse nicht, warum es zu der Zwischenlandung in Brüssel gekommen sei. Die Unterbrechung habe zwanzig Minuten gedauert. Fünf Spanierinnen hätten das Flugzeug verlassen, obwohl sie Flugscheine bis Berlin-Schönefeld gehabt hätten. Er verstehe nicht, bei wem er dort Asyl hätte beantragen sollen, da es sich um ein kubanisches Flugzeug mit kubanischer Besatzung gehandelt habe.
4. Durch Urteil vom 8. September 2000 wies das Verwaltungsgericht Potsdam die Klage des Beschwerdeführers als offensichtlich unbegründet ab. Zur Begründung führte es aus, der Kläger habe offensichtlich keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter. Der Anspruch sei schon gemäß Art. 16a Abs. 2 Satz 2 GG und § 26a Abs. 1 und 2 AsylVfG ausgeschlossen, weil der Kläger auf dem Luftweg von Kuba nach Belgien und von dort aus in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei. Er hätte daher schon in Belgien vor der behaupteten politischen Verfolgung hinreichende Sicherheit erlangen können. Es erscheine unglaubhaft, dass es nicht möglich gewesen sein sollte, bei der Zwischenlandung in Brüssel Anstrengungen zu unternehmen, sich an belgisches Bodenpersonal und dortige Behördenvertreter mit dem Ziel zu wenden, um Asyl nachzusuchen.
II.
1. Gegen dieses am 18. September 2000 zugestellte Urteil richtet sich die am 18. Oktober 2000 erhobene Verfassungsbeschwerde. Mit ihr rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts auf Asyl aus Art. 16a Abs. 1 GG und seines Rechts auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG.
Der Beschwerdeführer macht geltend, das Gericht verkenne mit seiner Annahme, Art. 16a Abs. 2 GG schließe hier einen Asylanspruch nach Art. 16a Abs. 1 GG aus, dass die Regelung des Art. 16a Abs. 2 GG hinter völkerrechtlichen Vereinbarungen im Sinne von Art. 16a Abs. 5 GG zurücktrete. Völkerrechtliche Vereinbarungen im Sinne von Art. 16a Abs. 5 GG seien sowohl Art. 28 bis 38 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 19. Juni 1990 als auch das dieses Übereinkommen ablösende Dubliner Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gestellten Asylantrags vom 15. Juni 1990. Die Tatsache, dass das Dubliner Übereinkommen erst zum 1. September 1997 in Kraft getreten sei, könne nicht zu einer anderen rechtlichen Beurteilung führen. Die Regelungen der Art. 30 ff. des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, die vorher in Kraft gewesen und durch das Dubliner Übereinkommen abgelöst worden seien, entsprächen inhaltlich dem nun gültigen Dubliner Übereinkommen. Sinn der europäischen Regelung sei es gewesen, alle noch laufenden Asylverfahren in die Zuständigkeitsregelungen einzuschließen, um eine doppelte Asylantragstellung und Antragsprüfung zu verhindern. Bei dem hier vorliegenden Verpflichtungsantrag sei zudem bezüglich der Voraussetzungen des Asylanspruchs auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, den 8. September 2000, abzustellen.
In der Annahme des Verwaltungsgerichts Potsdam, der Beschwerdeführer sei aus einem sicheren Drittstaat eingereist und habe dort die Möglichkeit gehabt, sein Asylgesuch anzubringen, liege auch deshalb ein Eingriff in Art. 16a Abs. 1 GG, weil das Gericht die Anforderungen an die Darlegungslast des Beschwerdeführers hinsichtlich der tatsächlichen Möglichkeit, sein Asylgesuch in Belgien anzubringen, überspannt habe. Das Urteil verkenne, dass der Beschwerdeführer tatsächlich keine Möglichkeit gehabt habe, sein Asylgesuch bei den belgischen Behörden anzubringen.
Zudem sei die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Potsdam, die Klage als offensichtlich unbegründet abzuweisen, im vorliegenden Fall unverhältnismäßig und mit den Grundsätzen des Art. 16a GG, § 30 Abs. 1 bis 3 AsylVfG unvereinbar. Das angegriffene Urteil führe lediglich aus, eine Abweisung als offensichtlich unbegründet komme in Betracht, wenn im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an der Richtigkeit der Feststellungen des Bundesamtes vernünftigerweise keine Zweifel bestünden und sich bei diesem Sachverhalt die Verneinung des Anspruchs geradezu aufdränge. Warum dies im vorliegenden Fall einschlägig sein solle, dazu lasse das Urteil eine Begründung vermissen. Damit sei dem Beschwerdeführer auch unter Verstoß gegen die Regelungen des Asylverfahrensgesetzes und entgegen der geltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeit eines Rechtsmittels abgeschnitten.
2. Die Landesregierung Brandenburg, der Leiter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hatten Gelegenheit zur Äußerung. Sie haben von einer Stellungnahme abgesehen.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 16a Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG. Die für diese Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (s. im Folgenden unter 1.). Danach ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet, so dass die Entscheidungskompetenz der Kammer besteht (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt die Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet – mit der Folge des Ausschlusses weiterer gerichtlicher Nachprüfung (vgl. § 78 Abs. 1 AsylVfG) – voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Abweisung der Klage dem Verwaltungsgericht geradezu aufdrängt. Aus den Entscheidungsgründen muss sich klar ergeben, weshalb das Gericht zu einem Urteil nach § 78 Abs. 1 AsylVfG kommt, warum somit die Klage nicht nur als schlicht unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden ist (vgl. BVerfGE 65, 76 ≪95 f.≫; 71, 276 ≪293 f.≫).
2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts nicht gerecht. Das Gericht verkennt den Geltungsbereich des Grundrechts auf politisches Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG, wenn es meint, ein Anspruch auf Gewährung von Asyl sei hier schon gemäß Art. 16a Abs. 2 Satz 2 GG und § 26a Abs. 1 und Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen, weil der Kläger auf dem Luftweg von Kuba nach Belgien – also in einen sicheren Drittstaat – und von dort aus in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei. Es fehlt an Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu der Frage, inwieweit die Anwendung der Drittstaatenregelung hier nach Art. 16a Abs. 5 GG und § 26a Abs. 1 Satz 3 Ziffer 2 AsylVfG ausgeschlossen war, weil der Beschwerdeführer mit einem von der Deutschen Botschaft in Havanna ausgestellten Sichtvermerk eingereist ist und die Bundesrepublik Deutschland damit auf Grund völkerrechtlicher Verpflichtungen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig war (vgl. BVerfGE 94, 49 ≪86≫).
Dabei kann offen bleiben, ob die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland bereits nach Art. 5 Abs. 2 des Übereinkommens vom 15. Juni 1990 über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags (Dubliner Übereinkommen – DÜ, veröffentlicht mit Gesetz vom 27. Juni 1994, BGBl II S. 791) begründet war. Dieses Übereinkommen trat erst am 1. September 1997 (vgl. BGBl 1997 II S. 1452) und damit nach der Einreise des Beschwerdeführers in Kraft. Die Frage, ob es auch in Verfahren anzuwenden ist, bei denen der Asylbewerber schon vor dem 1. September 1997 eingereist war, bestimmt sich nach einfachem Recht, wobei die Entscheidung in erster Linie den Fachgerichten obliegt (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juni 2000 – 2 BvR 2279/98 –, NVwZ-Beilage Nr. I 9/2000, S. 97). Sollte hier das Dubliner Übereinkommen keine Anwendung finden, würde sich die völkerrechtliche Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Prüfung des Asylbegehrens des Beschwerdeführers möglicherweise aus Art. 30 Abs. 1 Ziffer a) des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 (BGBl 1993 II S. 1013) ergeben, das für die Erstunterzeichnerstaaten (zu denen Deutschland und Belgien gehören) sowie für die Beitrittsstaaten Spanien und Portugal zum 26. März 1995 in Kraft gesetzt worden ist (vgl. die Bekanntmachung vom 19. Dezember 1995, BGBl 1996 II S. 242). Sowohl das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen wie auch das Dubliner Übereinkommen sind völkerrechtliche Vereinbarungen im Sinne von Art. 16a Abs. 5 GG, hinter die die Regelung in Art. 16a Abs. 2 GG zurücktritt (vgl. BVerfGE 94, 49 ≪86≫). Beide Regelungen sehen für das Asylverfahren des Einreisenden eine Zuständigkeit desjenigen Staates vor, der dem betreffenden Asylbewerber ein Visum erteilt hat.
3. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist demnach aufzuheben, ohne dass es einer Entscheidung über die weiteren Rügen des Beschwerdeführers bedarf. Die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Damit erübrigt sich eine Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Sommer, Di Fabio, Lübbe-Wolff
Fundstellen
Haufe-Index 1004502 |
NVwZ 2003, 97 |
NJ 2004, 21 |
BayVBl. 2004, 143 |