Verfahrensgang
OVG der Freien Hansestadt Bremen (Urteil vom 16.03.2005; Aktenzeichen 2 A 114/03.A) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 16. März 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Gründe
Die zulässige Beschwerde der Beklagten hat mit der von ihr erhobenen Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) Erfolg. Sie macht zu Recht geltend, dass das Berufungsgericht wesentliches entscheidungserhebliches Vorbringen der Beklagten nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hat und das Berufungsurteil auf diesem Mangel beruhen kann.
1. Die von der Beschwerde erhobene Grundsatzrüge greift allerdings nicht durch. Denn die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargetan.
Das Berufungsgericht hat den im Jahre 2001 aus Tschetschenien ausgereisten Klägern Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zugesprochen. Es ist dabei von einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien ausgegangen und hat eine inländische Fluchtalternative in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation sowohl für den Zeitpunkt der Ausreise als auch für den Zeitpunkt seiner Entscheidung verneint, weil die Kläger dort ein wirtschaftliches Existenzminimum nicht erlangen könnten; einer derartigen wirtschaftlichen Notlage seien sie an ihrem Herkunftsort in Tschetschenien in dem gewachsenen sozialen Beziehungsgeflecht so weder bei ihrer Ausreise ausgesetzt gewesen noch wären sie ihr jetzt dort ausgesetzt.
Vor dem Hintergrund, dass mehrere andere Oberverwaltungsgerichte (Oberverwaltungsgericht Schleswig, Urteil vom 24. April 2003 – 1 LB 212/01 –, Oberverwaltungsgericht Weimar, Urteil vom 16. Dezember 2004 – 3 KO 1003/04 – ≪juris≫, Verwaltungsgerichtshof München, Urteil vom 31. Januar 2005 – 11 B 02.31597 – ≪juris≫, nunmehr auch Oberverwaltungsgericht Saarlouis, Urteil vom 23. Juni 2005 – 2 R 11.03 – ≪juris≫ und Oberverwaltungsgericht Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 – 11 A 2307/03.A – ≪juris≫) eine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen in anderen Teilen der Russischen Föderation bejaht hätten, hält die Beklagte die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig,
“ob es für die Bejahung einer in wirtschaftlicher Hinsicht zumutbaren inländischen Fluchtalternative darauf ankommt, ob Binnenflüchtlinge rechtlich grundsätzlich abgesicherte Niederlassungsmöglichkeiten haben, oder ob die Fluchtalternative erst dann bejaht werden kann, wenn die Registrierung und Niederlassung tatsächlich überall (lückenlos) gewährleistet erscheint”.
Damit wirft die Beschwerde indes keine der Klärung in einem Revisionsverfahren zugängliche Rechtsfrage auf. Die Frage zielt nämlich nicht auf die rechtlichen Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative, sondern betrifft – auch nach den weiteren Ausführungen der Beschwerde hierzu – in erster Linie die Bedingungen einer wirtschaftlichen Existenzgrundlage für tschetschenische Binnenflüchtlinge in der Russischen Föderation. Das aber lässt sich nur aufgrund der dem Tatrichter vorbehaltenen Feststellung und Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse in der Russischen Föderation beantworten und ist damit in Wahrheit letztlich eine Tatsachenfrage, die sich einer verbindlichen Klärung im Revisionsverfahren entzieht.
2. Dagegen greift die von der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch. Die Beklagte bemängelt zu Recht, dass das Berufungsgericht sich in den Entscheidungsgründen nicht mit der von ihr im Berufungsverfahren vorgetragenen (Schriftsatz vom 21. November 2003, GA Bl. 119) anderslautenden Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Schleswig zur inländischen Fluchtalternative für Tschetschenen in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation auseinander gesetzt hat. In dem bereits erwähnten einschlägigen Urteil des Oberverwaltungsgerichts Schleswig vom 24. April 2003 – 1 LB 212/01 – wird eine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen sowohl im Jahre 1999 als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung im April 2003 generell bejaht, weil eine Gefährdung des wirtschaftlichen Existenzminimums in den übrigen verfolgungsfreien Gebieten der Russischen Föderation nicht zu befürchten sei und eine solche Gefährdung außerdem wegen der noch schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen am Herkunftsort (Tschetschenien) unbeachtlich – weil nicht verfolgungsbedingt – wäre. Es ist auszuschließen, dass das Berufungsgericht die damit ausdrücklich in Bezug genommenen tatrichterlichen Einschätzungen und Feststellungen etwa wegen des Zeitablaufs und inzwischen vorliegender neuer Erkenntnisse von vornherein als überholt ansehen durfte und angesehen hat, zumal es für die Feststellung einer Vorverfolgung der Kläger maßgeblich auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt ihrer Ausreise im Jahre 2001 ankam. Die Tatsache, dass das Berufungsgericht auf dieses Vorbringen der Beklagten in den Urteilsgründen nicht eingegangen ist und sich auch sonst nicht mit der abweichenden tatsächlichen und rechtlichen Würdigung des anderen Oberverwaltungsgerichts befasst hat, lässt angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles nur den Schluss zu, dass es dieses Vorbringen nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hat. Das verletzt den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs; zugleich liegt darin ein formeller Begründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
Zwar ist die nach der Rechtsprechung des Senats gebotene Auseinandersetzung mit der abweichenden Würdigung verallgemeinerungsfähiger Tatsachen im Asylrechtsstreit durch andere Oberverwaltungsgerichte grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung, so dass eine fehlende Auseinandersetzung mit abweichender obergerichtlicher Rechtsprechung als solche in aller Regel nicht als Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden kann (stRspr; vgl. Beschlüsse vom 2. November 1995 – BVerwG 9 B 710.94 – Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 13 und vom 6. Dezember 1995 – BVerwG 9 B 525.95 – ≪juris≫). Etwas anderes muss jedoch dann gelten, wenn sich ein Beteiligter – wie hier – einzelne tatrichterliche Feststellungen eines Oberverwaltungsgerichts als Parteivortrag zu Eigen macht und es sich dabei um ein zentrales und entscheidungserhebliches Vorbringen handelt. Geht das Berufungsgericht hierauf in den Urteilsgründen nicht ein und lässt sich auch sonst aus dem gesamten Begründungszusammenhang nicht erkennen, dass und in welcher Weise es diesen Vortrag zur Kenntnis genommen und erwogen hat, liegt in der unterlassenen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts ausnahmsweise auch ein rügefähiger Verfahrensmangel (vgl. in diesem Sinne schon Beschluss vom 21. Mai 2003 – BVerwG 1 B 298.02 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270).
Wie die Beschwerde zutreffend darlegt, kann die Entscheidung auf dem gerügten Gehörsverstoß auch beruhen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Auseinandersetzung mit den Ausführungen in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Schleswig zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Auf die von der Beklagten erhobene weitere Verfahrensrüge kommt es danach nicht mehr an.
3. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht sich auch mit den inzwischen ergangenen weiteren oberverwaltungsgerichtlichen Urteilen befassen müssen, die eine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen in anderen Gebieten der Russischen Föderation für den Regelfall angenommen haben. Dabei wird es auch darauf achten müssen, bei der Beurteilung der Gefährdung des wirtschaftlichen Existenzminimums am Ort der inländischen Fluchtalternative den richtigen Prognosemaßstab anzulegen. Eine derartige Gefahr muss nämlich im Zeitpunkt der Ausreise nach der ständigen Rechtsprechung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; dagegen ist nicht – wie das Berufungsgericht meint (vgl. etwa die Formulierung UA S. 29) – zu prüfen, ob das erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gewährleistet war. Schließlich wird das Berufungsgericht auch Gelegenheit haben, auf die mit der weiteren Verfahrensrüge erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kläger in Tschetschenien wegen ihrer dortigen “sozialen Kontakte” besser seien als in der übrigen Russischen Föderation, einzugehen. Der Senat weist auch darauf hin, dass das Berufungsgericht bei seinen Ausführungen zum Existenzminimum in der Russischen Föderation (UA S. 24 bis 29) zwar im Obersatz ein solches verneint, im Folgenden aber keine eindeutige Subsumtion anhand der getroffenen Feststellungen mehr vorgenommen hat.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Dr. Mallmann, Beck
Fundstellen