Verfahrensgang
OVG der Freien Hansestadt Bremen (Urteil vom 09.03.2005; Aktenzeichen 2 A 116.03) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 9. März 2005 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache zeigt die Beschwerde nicht auf.
Das Berufungsgericht hat den im Jahre 1999 aus Tschetschenien ausgereisten Klägern Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zugesprochen. Es ist dabei von einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien ausgegangen und hat eine inländische Fluchtalternative in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation sowohl für den Zeitpunkt der Ausreise als auch für den Zeitpunkt seiner Entscheidung verneint, weil die Kläger dort ein wirtschaftliches Existenzminimum nicht erlangen könnten; einer derartigen wirtschaftlichen Notlage wären sie in Tschetschenien in dem gewachsenen sozialen Beziehungsgeflecht so weder bei ihrer Ausreise ausgesetzt gewesen noch wären sie ihr jetzt dort ausgesetzt.
Vor dem Hintergrund, dass mehrere andere Oberverwaltungsgerichte (Oberverwaltungsgericht Schleswig, Urteil vom 24. April 2003 – 1 LB 212/01 –, Oberverwaltungsgericht Weimar, Urteil vom 16. Dezember 2004 – 3 KO 1003/04 – ≪juris≫, Verwaltungsgerichtshof München, Urteil vom 31. Januar 2005 – 11 B 02.31597 – ≪juris≫, nunmehr auch Oberverwaltungsgericht Saarlouis, Urteil vom 23. Juni 2005 – 2 R 11.03 – ≪juris≫ und Oberverwaltungsgericht Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 – 11 A 2307/03.A – ≪juris≫) eine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen in anderen Teilen der Russischen Föderation bejaht hätten, hält die Beklagte die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig,
“ob es für die Bejahung einer in wirtschaftlicher Hinsicht zumutbaren inländischen Fluchtalternative darauf ankommt, ob Binnenflüchtlinge rechtlich grundsätzlich abgesicherte Niederlassungsmöglichkeiten haben, oder ob die Fluchtalternative erst dann bejaht werden kann, wenn die Registrierung und Niederlassung tatsächlich überall (lückenlos) gewährleistet erscheint”.
Damit wirft die Beschwerde indes keine der Klärung in einem Revisionsverfahren zugängliche Rechtsfrage auf. Die Frage zielt nämlich nicht auf die rechtlichen Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative, sondern betrifft – auch nach den weiteren Ausführungen der Beschwerde hierzu – in erster Linie die Bedingungen einer wirtschaftlichen Existenzgrundlage für tschetschenische Binnenflüchtlinge in der Russischen Föderation. Das aber lässt sich nur aufgrund der dem Tatrichter vorbehaltenen Feststellung und Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse in der Russischen Föderation beantworten und ist damit in Wahrheit letztlich eine Tatsachenfrage, die sich einer verbindlichen Klärung im Revisionsverfahren entzieht.
2. Die von der Beschwerde erhobenen Verfahrensrügen der “nicht ordnungsgemäßen und ordnungsgemäß dargelegten Überzeugungsbildung” im Sinne von § 108 Abs. 1 VwGO, der mangelnden Sachaufklärung im Sinne von § 86 Abs. 1 VwGO und der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) genügen nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
a) Die Beschwerde macht zunächst geltend, die Annahme des Berufungsgerichts, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kläger in Tschetschenien besser wären als in der übrigen Russischen Föderation, entbehre jeder nachvollziehbaren Begründung und sei letztlich reine Spekulation. Vor dem Hintergrund der auch vom Berufungsgericht festgestellten desolaten wirtschaftlichen Lage in Tschetschenien und angesichts der Angaben der aus Ossetien stammenden Klägerin zu 2 – Mutter der Kläger zu 1 und 3 –, sie habe in Tschetschenien keinen Kontakt mehr zu ihrem geschiedenen tschetschenischen Ehemann und dessen Eltern gehabt, sowie mit Blick auf die an anderer Stelle des Urteils getroffene Feststellung, dass die Klägerin zu 2 ausweislich der vorgelegten ärztlichen Atteste medizinischer Behandlung bedürfe, sei die Prognose des Berufungsgerichts nicht nachvollziehbar, dass es den drei in erwerbsfähigem Alter stehenden Klägern auch weiterhin unter Zuhilfenahme ihrer sozialen Kontakte, insbesondere durch gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung, gelungen wäre, sich in dem vertrauten Umfeld ihrer Heimat mit dem Existenznotwendigen zu versorgen (UA S. 40). Sie genüge in keiner Weise den nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu stellenden Anforderungen an die richterliche Entscheidungsfindung. Es fehle an der rational belegten Beweiswürdigung, dass es den Klägern trotz der vergleichsweise schlechteren Wirtschaftslage in Tschetschenien gegenwärtig und in absehbarer Zukunft wirtschaftlich besser gehen würde als in anderen Teilen der Russischen Föderation.
Mit dieser Rüge eines Verstoßes gegen § 108 Abs. 1 VwGO wird ein Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht aufgezeigt. Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung, wie sie die Beklagte hier geltend macht, sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts regelmäßig revisionsrechtlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzurechnen. Ob etwas anderes gilt, wenn das Gericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, gegen Denkgesetze verstößt oder die Beweiswürdigung aus sonstigen Gründen willkürlich ist, kann auch hier dahinstehen (vgl. Beschluss vom 2. November 1995 – BVerwG 9 B 710.94 – Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 13). Denn eine derart grobe und eindeutige Verletzung des Gebots der freien Beweiswürdigung zeigt die Beschwerde nicht auf. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin zu 2 und ihre ebenfalls in erwerbsfähigem Alter stehenden Kinder, die Kläger zu 1 und 3, könnten sich auch derzeit in Tschetschenien wie bis zu ihrer Ausreise unter Zuhilfenahme ihrer sozialen Kontakte in dem vertrauten Umfeld mit dem Existenznotwendigen versorgen (UA S. 40, 31), mag zwar angreifbar und wenig überzeugend sein, dass sie aber von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgeht, gegen Denkgesetze verstößt oder aus sonstigen Gründen willkürlich ist, zeigt die Beschwerde nicht auf. Die vom Berufungsgericht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene Überzeugung überschreitet – auch wenn ein anderes Ergebnis möglicherweise näher gelegen hätte – noch nicht die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung. Ebenso wenig ist mit dem Beschwerdevorbringen eine Verletzung der Pflicht zur Angabe der für die Entscheidung leitend gewesenen Gründe im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO dargetan.
b) Soweit die Beschwerde darüber hinaus eine Verletzung der ordnungsgemäßen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO), der Pflicht zur Sachaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) und des rechtlichen Gehörs (§ 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) darin sieht, dass das Berufungsgericht sich erkennbar nicht mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zur inländischen Fluchtalternative für Tschetschenen in der Russischen Föderation, insbesondere der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Schleswig (Urteil vom 24. April 2003 – 1 LB 212/01 – und Beschluss vom 1. März 2005 – 1 LB 25/04 –), auseinander gesetzt habe, führt dies hier ebenfalls nicht auf einen Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
Die nach der Rechtsprechung des Senats gebotene Auseinandersetzung mit der abweichenden Würdigung verallgemeinerungsfähiger Tatsachen im Asylrechtsstreit durch andere Oberverwaltungsgerichte ist grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung, so dass eine fehlende Auseinandersetzung mit abweichender obergerichtlicher Rechtsprechung als solche in aller Regel nicht als Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden kann (stRspr; vgl. Beschlüsse vom 2. November 1995 – BVerwG 9 B 710.94 – a.a.O. und vom 6. Dezember 1995 – BVerwG 9 B 525.95 – ≪juris≫). Etwas anderes gilt zwar dann, wenn sich ein Beteiligter einzelne tatrichterliche Feststellungen eines Oberverwaltungsgerichts als Parteivortrag zu Eigen macht und es sich dabei um ein zentrales und entscheidungserhebliches Vorbringen handelt. Geht das Berufungsgericht hierauf in den Urteilsgründen nicht ein und lässt sich auch sonst aus dem gesamten Begründungszusammenhang nicht erkennen, dass und in welcher Weise es diesen Vortrag zur Kenntnis genommen und erwogen hat, liegt in der unterlassenen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts ausnahmsweise auch ein rügefähiger Verfahrensmangel (vgl. den Beschluss des Senats vom heutigen Tag in dem Verfahren BVerwG 1 B 85.05; in diesem Sinne auch schon Beschluss vom 21. Mai 2003 – BVerwG 1 B 298.02 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270). Dass ein solcher Fall hier vorliegt, zeigt die Beschwerde aber nicht schlüssig auf.
Die offenkundig aus dem Verfahren BVerwG 1 B 85.05 übernommene Behauptung, die Beklagte habe sich durch einen Schriftsatz vom 21. November 2003 unter Vorlage des erwähnten Urteils und durch Überreichung des erwähnten Beschlusses in der Berufungsverhandlung am 16. März 2005 auf die einschlägige Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Schleswig ausdrücklich bezogen, trifft ausweislich der Gerichtsakten nicht zu. Auch sonst lässt sich den Akten nicht entnehmen, dass sich die Beklagte im vorliegenden, bereits durch Urteil vom 9. März 2005 entschiedenen Verfahren auf diese obergerichtliche Rechtsprechung berufen hat. Allein der Umstand, dass sie das fragliche Urteil in einem anderen Verfahren bei demselben Berufungsgericht eingereicht hat, genügt aber nicht, um auch im vorliegenden Beschwerdeverfahren eine Verletzung des rechtlichen Gehörs rügen zu können. Für den Vorwurf der mangelnden Sachaufklärung fehlt es bereits an der Darlegung, welche weiteren Aufklärungsmaßnahmen sich dem Berufungsgericht von Amts wegen hätten aufdrängen müssen, obwohl die Beklagte selbst nicht auf eine weitere Beweiserhebung hingewirkt hat.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Dr. Mallmann, Beck
Fundstellen