Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 29.05.2008; Aktenzeichen 11 LC 138/06) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 29. Mai 2008 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 € festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionszulassung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 – BVerwG 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 ≪n.F.≫ VwGO Nr. 26 S. 14 m.w.N.). Danach kommt eine Zulassung der Revision nicht in Betracht.
a) Die Klägerin wirft die Frage auf: “Handelt es sich bei vorbeugenden Versammlungsverboten über eine Fläche von ca. 80 Quadratkilometer über mehrere Tage, die jeden Atommülltransport in das Zwischenlager nach Gorleben begleiten, um eine ‘Einzelfallentscheidung’, die als Allgemeinverfügung nach § 15 Abs. 1 VersG erlassen werden kann?”. Mit dieser Frage ist eine grundsätzliche Bedeutung nicht dargetan. Sie bezieht sich auf einen konkreten Einzelfall und entzieht sich daher einer über jenen Fall hinausgehenden Beantwortung im Rahmen eines Revisionsverfahrens. Dies gilt gleichermaßen für die an diese Frage anknüpfenden Fragen nach den Voraussetzungen eines “Einzelfalls” und den Grenzen der Auslegung des § 15 Abs. 1 VersG. Diese Fragen sind im Kern ebenfalls einzelfallbezogen und können deshalb nicht anders beurteilt werden.
b) Die Klägerin hält es für eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung, “welche tatsächlichen Darlegungen (…) die Versammlungsbehörde zum ‘polizeilichen Notstand’ erbringen (muss), um damit mehrtägige, räumlich umfangreiche Totalverbote von Versammlungen zu begründen”. Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) – VersG – i.d.F. der Bekanntmachung vom 15. November 1978 (BGBl I S. 1789), zum hier maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. August 1999 (BGBl I S. 1818), gegen eine Versammlung auch unter den Voraussetzungen eines polizeilichen Notstandes eingeschritten werden kann. Die Rechtsfigur des polizeilichen Notstandes setzt voraus, dass die Gefahr auf andere Weise nicht abgewehrt und die Störung auf andere Weise nicht beseitigt werden können und die Verwaltungsbehörde nicht über ausreichende eigene, eventuell durch Amts- und Vollzugshilfe ergänzte, Mittel und Kräfte verfügt, um die Rechtsgüter wirksam zu schützen. Soweit Rechtsgüter durch Dritte, die nicht im Rahmen der angemeldeten Versammlung handeln, gefährdet werden, hat die Behörde zunächst gegen diese vorzugehen (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 26. März 2001 – 1 BvQ 15/01 – NJW 2001, 1411 ≪1412≫ und vom 26. Juni 2007 – 1 BvR 1418/07 – NVwZ-RR 2007, 641 ≪642≫ m.w.N.). Voraussetzung des Einschreitens ist eine hohe Wahrscheinlichkeit in der Gefahrenprognose sowie die vorherige Ausschöpfung aller anwendbaren Mittel, die eine Grundrechtsverwirklichung der friedlichen Demonstranten ermöglicht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233, 341/81 – BVerfGE 69, 315 ≪360 ff.≫, vgl. auch Kammerbeschluss vom 18. August 2000 – 1 BvQ 23/00 – NJW 2000, 3053 und BVerwG, Urteil vom 23. März 1999 – BVerwG 1 C 12.97 – Buchholz 402.44 VersG Nr. 12 S. 7 f. = NVwZ 1999, 991 ≪992≫). Der Wahrscheinlichkeitsgrad, der auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 VersG zum Einschreiten gegen die Nichtstörer im Rahmen des polizeilichen Notstandes erforderlich ist, liegt nicht unter dem Wahrscheinlichkeitsgrad, der – lägen die Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes nicht vor – für den Eingriff gegen den Störer erforderlich wäre (vgl. Beschluss vom 21. August 1985 – BVerwG 1 B 11.85 – Buchholz 402.44 VersG Nr. 6 S. 12). Die Versammlungsbehörde muss sich an den genannten Voraussetzungen ausrichten, wenn sie gegen eine Versammlung unter dem Gesichtspunkt des polizeilichen Notstandes einzuschreiten gedenkt. Es ist keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung, ob im Einzelfall die polizeiliche Gefahrenprognose geeignet ist, das Vorliegen der aufgezeigten Voraussetzungen für ein Einschreiten unter dem Gesichtspunkt des polizeilichen Notstandes zu begründen.
Die an die soeben erörterte Frage anknüpfenden Fragen sind ebenfalls auf den Einzelfall gerichtet und deshalb nicht anders zu beurteilen.
c) Die Klägerin möchte die Frage beantwortet wissen: “Gilt für die Rechtsfigur ‘polizeilicher Notstand’ im Versammlungsrecht ein verfassungsrechtlicher oder einfachgesetzlicher ‘Notstand’?”. Diese Frage führt schon deshalb nicht zur Zulassung der Revision, weil die Klägerin nicht darlegt, warum auf der Grundlage der insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts ihre Beantwortung für den Rechtsstreit erheblich ist. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang darlegt, dass im streitigen Fall die Voraussetzungen für ein Einschreiten unter dem Gesichtspunkt des polizeilichen Notstandes nicht gegeben gewesen seien, vermag dies die grundsätzliche Bedeutung nicht zu begründen.
d) Die Revision ist auch nicht zur Beantwortung der Frage zuzulassen, “in welchem Umfang (…) die Instanzgerichte die Richtigkeit der von der Behörde bei der Gefahrenprognose ‘polizeilicher Notstand’ behaupteten Tatsachen überprüfen und ggf. hierzu Beweis erheben (müssen)”. Diese Frage bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung durch das Gericht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erfordert, dass die Verwaltungsgerichte den Aussage- und Beweiswert der verschiedenen Bestandteile des Prozessstoffes nach der inneren Überzeugungskraft der Gesamtheit der in Betracht kommenden Erwägungen bestimmen. Dabei sind sie lediglich an Logik (Denkgesetze) und Naturgesetze gebunden und müssen gedankliche Brüche und Widersprüche vermeiden (vgl. Urteil vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 30.05 – Buchholz 310 § 108 Abs. 1 Nr. 50 Rn. 16 m.w.N.). Der Untersuchungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO verlangt, dass das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht. Diese Grundsätze gelten auch für die gerichtliche Beurteilung, ob die Voraussetzungen des Einschreitens gegen eine Versammlung wegen eines polizeilichen Notstandes vorliegen. Welche Anforderungen im Einzelfall an die richterliche Überzeugungsbildung zu stellen sind, ist keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung und deshalb einer Klärung in einem Revisionsverfahren nicht zugänglich.
e) Die Klägerin wirft die Frage auf: “Dürfen die Instanzgerichte bei Ermessensfehlern der Behörde – etwa durch falsche oder unvollständige Tatsachenermittlung oder Wertungsfehler – im nachträglichen Feststellungsverfahren ihr Ermessen an die Stelle des behördlichen Ermessens setzen oder ist bei derartigen Ermessensfehlern die Behördenentscheidung unheilbar rechts- bzw. verfassungswidrig?”. Es ist nicht zweifelhaft und bedarf deshalb nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren, dass im Fall eines Ermessensfehlers i.S.v. § 114 Satz 1 VwGO das Gericht in der Regel gehalten ist, die behördliche Entscheidung aufzuheben. Das Gericht hat die ihm von § 114 Satz 1 VwGO gezogenen Grenzen zu beachten. Es ist deshalb gehindert, eine Ermessensentscheidung der Behörde zu “ersetzen”. Anders liegt es ausnahmsweise nur dann, wenn angesichts der besonderen Umstände des zu entscheidenden konkreten Falles überhaupt nur eine einzige Entscheidung ermessensfehlerhaft sein kann, der Ermessensspielraum der Verwaltung also auf “Null” reduziert ist. Diese Grundsätze finden auch bei der gerichtlichen Überprüfung von Maßnahmen i.S.v. § 15 Abs. 1 VersG Anwendung.
2. Die Revision ist auch nicht wegen Divergenz zuzulassen.
Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz ist nur dann i.S.d. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung eines der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichte aufgestellten ebensolchen, die Entscheidung tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung der Rechtssätze, die das betreffende Gericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt nicht den Zulässigkeitsanforderungen (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 a.a.O. S. 14). Daran gemessen ist die Beschwerde nicht ausreichend begründet.
a) Die Klägerin meint, das Oberverwaltungsgericht sei von den Voraussetzungen abgewichen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 14. Mai 1985 (a.a.O. S. 360 ff.) für das Einschreiten gegen eine Versammlung wegen eines polizeilichen Notstandes aufgestellt hat. Sie zeigt hingegen keinen abstrakten Rechtssatz auf, den das Oberverwaltungsgericht aufgestellt hat und mit dem es von einem abstrakten Rechtssatz in der angezogenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abgewichen ist. Die von der Klägerin der angefochtenen Entscheidung entnommenen und in diesem Zusammenhang angeführten Erwägungen beinhalten keine Abweichung i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO. Dies gilt gleichermaßen für die Rüge, das Oberverwaltungsgericht sei von den Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Anforderungen an die Gefahrenprognose in dem Beschluss vom 14. Mai 1985 (a.a.O. S. 353 f.) abgewichen.
b) Die Klägerin ist der Auffassung, das Oberverwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Rechtssatz aufgestellt: “Wird zu ‘Blockaden’ aufgerufen, geht es um selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen. Dies unterliegt nicht dem Schutzbereich des Art. 8 GG und darf Grundlage umfangreicher Versammlungsverbote per Allgemeinverfügung auch für unbeteiligte Dritte sein.” Diese Rüge ist schon deshalb nicht ausreichend begründet, weil der angefochtenen Entscheidung ein solcher Rechtssatz nicht zu entnehmen ist. Vielmehr hat das Oberverwaltungsgericht differenziert und unter Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dargelegt, unter welchen Voraussetzungen Sitzblockaden nicht dem Schutzbereich des Art. 8 GG unterfallen (UA S. 24 f.).
c) Nicht ausreichend begründet ist auch die Rüge, das Oberverwaltungsgericht sei von einem Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts zur gerichtlichen Überprüfung der Gefahrenprognose abgewichen. Die Klägerin legt insoweit nicht dar, welchen angeblich divergierenden Rechtssatz das Oberverwaltungsgericht aufgestellt hat.
3. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Revision auch nicht wegen eines Verfahrensmangels i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Die Klägerin beanstandet insoweit, das Oberverwaltungsgericht habe den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt, habe erforderliche Beweise nicht erhoben und habe Beweislastregeln verletzt. Die Begründung dieser Rüge erweist sich vor dem Hintergrund der eingehenden Begründung des angefochtenen Urteils als unsubstantiiert und weitgehend unstrukturiert. Sie erschöpft sich in pauschalen Erwägungen, die den Erfordernissen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht ansatzweise genügen.
4. Auch alles weitere Vorbringen führt nicht auf einen Revisionszulassungsgrund.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes findet seine Grundlage in § 47 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
Unterschriften
Dr. Bardenhewer, Dr. Hahn, Vormeier
Fundstellen