Entscheidungsstichwort (Thema)
Bebauungsplan. Immissionsschutz. Gewerbegebiet. erheblich belästigende Gewerbebetriebe. Anlage zum Brechen von Abbruchmaterial, Bauschuttrecycling. Drittschutz gegen immissionsschutzrechtliche Genehmigung. Gebietsschutz gegen schleichende Umwandlung. Rücksichtnahmegebot. „Typisierungslehre” für Nutzungsarten nach der BauNVO
Leitsatz (amtlich)
Der Eigentümer eines Grundstücks im durch Bebauungsplan festgesetzten Gewerbegebiet hat kraft Bundesrechts einen Abwehranspruch gegen die Genehmigung eines im Sinne des § 8 Abs. 1 BauNVO – seiner Art nach – erheblich belästigenden und daher nur in einem Industriegebiet nach § 9 BauNVO allgemein zulässigen Gewerbebetriebs (hier: Bauschuttrecyclinganlage). Darauf, ob die von dem Gewerbebetrieb ausgehenden Belästigungen unzumutbar im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO oder erheblich im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG sind, kommt es – anders als bei Abwehransprüchen von Betroffenen außerhalb des Gebiets – für den Schutz des Gebiets gegen „schleichende Umwandlung” nicht an.
Normenkette
BauGB § 30 Abs. 1; BauNVO § 8 Abs. 1, 2 Nr. 1, § 9 Abs. 1, § 15 Abs. 1 S. 2, Abs. 3; BImSchG § 4 Abs. 1 Sätze 1, 3, § 5 Abs. 1 Nr. 1; 4. BImSchV Nr. 2.2 Sp. 2
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Entscheidung vom 17.06.1999; Aktenzeichen 10 S 44/99) |
Tenor
Die Beschwerden des Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 17. Juni 1999 werden zurückgewiesen.
Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 80 000 DM festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um eine der Beigeladenen erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer sog. Bauschuttrecyclinganlage. Das Baugrundstück der Beigeladenen ist als Gewerbegebiet ausgewiesen. Die noch im Beschwerdeverfahren beteiligten Kläger zu 1, 2, 5 und 6 sind Eigentümer oder Bewohner von Grundstücken, die ebenfalls in diesem Plangebiet liegen. Ihre Anfechtungsklagen hatten in beiden Vorinstanzen Erfolg. Die Anfechtungsklagen der Kläger zu 3 und 4, deren Grundstück in einem dem Gewerbegebiet benachbarten allgemeinen Wohngebiet liegen, hat das Berufungsgericht abgewiesen.
Das Berufungsgericht (VGH Mannheim, Urteil vom 17. Juni 1999 – 10 S 44/99 –) hat die Auffassung vertreten, der Betrieb der Beigeladenen stelle eine erheblich belästigende, mithin industriegebietstypische Anlage dar, die gebietsunverträglich sei und auch im Wege der Befreiung nicht zugelassen werden könne, weil eine Befreiung die Grundzüge der Planung berühre.
Der Beklagte und die Beigeladene erstreben die Zulassung der Revision.
Entscheidungsgründe
II.
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde ist unbegründet.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerdeführer beimessen.
Zur Klärung der sinngemäß aufgeworfenen Frage, ob bei einem Zusammentreffen von Immissionsschutzrecht und Baurecht das Immissionschutzrecht mit seinen verordnungsrechtlichen Konkretisierungen als lex specialis dem durch die Bauleitplanung vermittelten vorbeugenden Umweltschutz im Hinblick auf den Schutz vor Immissionen vorrangig sei, bedarf es keines Revisionsverfahrens; denn bereits aus dem Bundesimmissionsschutzgesetz ergibt sich, daß ein solcher Vorrang nicht besteht. Nach § 6 Abs. 1 Ziff. 2 BImSchG kann eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung nur erteilt werden, wenn dem Betrieb der Anlage andere öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen; hierzu gehören auch baurechtliche Vorschriften. Die immissionsschutzrechtliche Beurteilung der Anlage kann daher nicht allein anhand der immissionsschutzrechtlichen Regelungen vorgenommen werden, sondern schließt eine bauplanungsrechtliche Prüfung mit ein.
Im übrigen hat sich das Bundesverwaltungsgericht in der von der Beschwerde in anderem Zusammenhang zitierten Entscheidung vom 24. September 1992 – BVerwG 7 C 7.92 – (Buchholz 406.12 § 15 BauNVO Nr. 22 – DVBl 1993, 111) zu dem Verhältnis von Immissionsschutzrecht und Bauplanungsrecht bereits geäußert. Hiernach stehen Immissionsschutzrecht und Bebauungsrecht in einer Wechselwirkung zueinander: Einerseits konkretisiert das BImSchG die gebotene Rücksichtnahme auf die Nachbarschaft allgemein und folglich auch mit Wirkung für das Bebauungsrecht; andererseits bemißt sich die Schutzwürdigkeit eines Gebiets nach dem, was dort planungsrechtlich zulässig ist.
Auch die weiteren, das Störpotential der umstrittenen Anlage problematisierenden Fragen rechtfertigen nicht die Zulassung der Revision; denn die Fragen bezeichnen die Anlage als eine solche, von der keine erheblichen Belästigungen ausgehen. Das Berufungsgericht hat aber gerade das Gegenteil festgestellt und bei Anwendung des § 30 Abs. 1 BauGB in Verbindung mit § 8 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 BauNVO die Anlage mit eingehender Begründung als eine solche bezeichnet, die nicht im Gewerbegebiet allgemein zulässig sei, weil sie „erheblich belästigend, also industriegebietstypisch” sei. Zwar ist das Berufungsgericht der Rechtsauffassung, daß den Klägern zu 3 und 4 kein Drittschutz aus dem Rücksichtnahmegebot nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO und aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG zustehe. Diese Beurteilung gründet sich aber nicht darauf, daß die Bauschutt-recyclinganlage der Beigeladenen – bei der für die Anwendung des § 8 Abs. 1 und Abs. 2 BauNVO gemäß § 15 Abs. 3 BauNVO gebotenen „begrenzt typisierenden” Betrachungsweise – keine erheblich belästigende, industriegebietstypische Anlage sei, sondern allein darauf, daß die Kläger zu 3 und 4 wegen der konkreten Lage ihres Grundstücks außerhalb des Gewerbegebietes keinen unzumutbaren oder erheblichen Belästigungen, Störungen oder Nachteilen im Sinne der – im Schutzniveau identischen – Vorschriften des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO und des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG ausgesetzt und deshalb – subjektiv – nicht in ihren Rechten verletzt seien. Hinsichtlich der Kläger zu 1, 2, 5 und 6 hat das Berufungsgericht hingegen einen Abwehranspruch nicht aus dem Rücksichtnahmegebot nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO und § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG angenommen. Ihren Nachbarschutz leitet das Berufungsgericht aus dem bundesrechtlichen Anspruch auf Bewahrung der festgesetzten Gebietsart ab. Dieser Anspruch stehe ihnen zu, weil ihre Grundstücke – anders als die der Kläger zu 3 und 4 – im festgesetzten Gewerbegebiet lägen und in diesem die Anlage der Beigeladenen ihrer Art nach als industriegebietstypische Anlage unzulässig sei.
Nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. insbesondere das Urteil vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151) hat die Festsetzung von Baugebieten durch einen Bebauungsplan grundsätzlich nachbarschützende Funktion zugunsten der Planbetroffenen. Das bedeutet, daß sich ein Nachbar im Plangebiet auch dann gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung wenden kann, wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Im Rahmen des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll nämlich jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets verhindern können. Warum dieser Grundsatz im Anwendungsbereich des Bundesimmissionsschutzgesetzes nicht gelten sollte, ist nicht nachvollziehbar; zu den immissionsschutzrechtlich relevanten „anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften” nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG gehören auch die planungsrechtlichen Festsetzungen der Gebietsart.
Soweit sich die Beschwerde sinngemäß dagegen wendet, daß das Berufungsgericht die Bauschuttrecyclinganlage der Beigeladenen als einen erheblich belästigenden Gewerbebetrieb eingeordnet hat, sind rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftige Fragen nicht erkennbar. Daß die in der 4. BImSchV aufgeführten Anlagen nicht schon allein wegen ihrer Aufnahme in diese Verordnung im Gewerbegebiet unzulässig sind, ergibt sich ohne weiteres aus § 15 Abs. 3 BauNVO. Geklärt ist aber auch bereits, daß bei diesen Anlagen in aller Regel ein konkretes, die Gebietsprägung beeinträchtigendes Störpotentitial unterstellt werden muß (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 – BVerwG 7 C 7.92 – DVBl 1993, 111). Ob ein atypischer Ausnahmefall dann vorliegen würde, wenn von der Anlage „keine schädlichen Umwelteinwirkungen, sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft ausgehen”, braucht nicht geklärt zu werden, weil diese Frage hier nicht entscheidungserheblich ist; das Normenkontrollgericht nimmt nur an, daß die Emissionen der Anlage die Kläger nicht in ihren Rechten aus § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO und aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG verletzen.
Schließlich lassen auch die auf § 31 Abs. 2 BauGB bezogenen Fragen keinen grundsätzlichen Klärungsbedarf erkennen. Das Berufungsgericht hat hier die Möglichkeit einer Befreiung von der Festsetzung der Gebietsart „Gewerbegebiet” verneint, weil durch sie die Grundzüge der Planung im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB berührt würden. Ob die Grundzüge einer Planung berührt werden, läßt sich nicht einheitlich für alle denkbaren Gewerbegebiete sagen, sondern hängt von den konkreten Umständen des jeweiligen Gebietes, insbesondere auch von seiner Umgebung, ab. Insoweit mag die Aussage des Berufungsgerichts (BU, S. 10), die Zulassung eines industriegebietstypischen Betriebes in einem festgesetzten Gewerbegebiet berühre zwangsläufig Grundzüge der Planung und scheide damit von vornherein aus, bedenklich sein. Auf ihr beruht die Entscheidung jedoch nicht. Tragend sind die Ausführungen, nach denen eine Zulassung der Bauschuttrecyclinganlage der Beigeladenen mit der planerischen Konzeption für das hier streitbefangene Gewerbegebiet unvereinbar wäre. Nach der Vorstellung des Plangebers solle es nämlich bei denjenigen Nutzungen verbleiben, die gewerbegebietstypisch seien und auch im Sinne bauplanerischer Vorsorge langfristig zu keinen erheblichen Beeinträchtigungen des Wohnens im benachbarten allgemeinen Wohngebiet führen könnten. Daß in einem solchen Fall die Grundzüge der Planung berührt werden und deshalb eine Befreiung unzulässig ist, ist nicht weiter klärungsbedürftig (vgl. dazu BVerwG, Beschluß vom 5. März 1999 – BVerwG 4 B 5.99 – ZfBR 1999, 283). Auf das von der Beschwerde angesprochene Merkmal der „Atypik” kommt es nicht an.
2. Der beschließende Senat läßt offen, ob die Beschwerde des Beigeladenen überhaupt zulässig ist, da sie keine eigene Beschwerdebegründung enthält, sondern sich durch Bezugnahme die Ausführungen des Beklagten zu eigen macht. In aller Regel genügt die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde, die keine eigene Sichtung und rechtliche Durchdringung des Streitstoffs hinsichtlich von Zulassungsgründen durch den Rechtsanwalt, der sie unterzeichnet hat, erkennen läßt, nicht den gesetzlichen Anforderungen (BVerwG, Beschluß vom 19. August 1993 – BVerwG 6 B 42.93 – Buchholz 310 § 67 VwGO Nr. 81). Ob das auch dann gilt, wenn auf die Ausführungen eines vertretungsbefugten Behördenvertreters Bezug genommen wird, mag dahinstehen. Jedenfalls kann die Beschwerde der Beigeladenen aus den vorstehenden Gründen keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO, § 100 ZPO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 14 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG (20 000 DM je Kläger).
Unterschriften
Gaentzsch, Lemmel, Heeren
Fundstellen
Haufe-Index 558278 |
NJW 2000, 3799 |
NWB 2000, 2062 |
BauR 2000, 1019 |
DWW 2000, 161 |
NVwZ 2000, 679 |
IBR 2000, 453 |
DÖV 2000, 640 |
GewArch 2000, 300 |
NuR 2000, 578 |
VBlBW 2000, 361 |
VR 2001, 141 |
ZfBR 2000, 421 |
BRS 2000, 812 |
DVBl. 2000, 939 |
GV/RP 2001, 151 |
UPR 2000, 234 |
FuBW 2000, 940 |
FuNds 2001, 311 |