Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Beschluss vom 08.06.2006; Aktenzeichen 13 A 4955/00) |
Tenor
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes Nordrhein-Westfalen vom 8. Juni 2006 wird aufgehoben, soweit dort über den Hilfsantrag des Klägers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheides der Beklagten vom 22. Oktober 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Köln vom 16. April 1997 entschieden worden ist. Insoweit wird der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 107 371 € festgesetzt.
Tatbestand
I
Der Kläger nimmt seit 1986 in Bonn Aufgaben der Notfallrettung und des Krankentransports wahr. Bis zum 31. Dezember 1994 geschah dies aufgrund einer Genehmigung nach § 49 des Personenbeförderungsgesetzes a.F. Dazu setzte er entsprechend der erteilten Genehmigung drei Rettungswagen und vier Krankentransportwagen ein.
Am 3. November 1994 beantragte der Kläger die Erteilung einer Genehmigung nach dem Rettungsgesetz NRW – RettG NRW –. Durch Bescheid vom 12. September 1995 erteilte die Beklagte die Genehmigung zur Notfallrettung und zum Krankentransport zunächst befristet bis zum 29. Februar 1996 und später verlängert bis zum 30. August 1996. Mit Bescheid vom 22. Oktober 1996 lehnte die Beklagte die weitere Verlängerung der erteilten Genehmigung ab. Dazu führte sie aus, die Leistungsfähigkeit des Betriebes sei nicht gewährleistet; zudem bestünden erhebliche Zweifel hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Klägers. Den dagegen gerichteten Widerspruch wies die Bezirksregierung Köln durch Bescheid vom 16. April 1997 zurück.
Die Verpflichtungsklage des Klägers, die zwei zwischenzeitlich gestellte Verlängerungsanträge vom 12. Juni 1996 und vom 17. Juli 2000 einbezog, hat das Verwaltungsgericht Köln durch Urteil vom 16. August 2000 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, dem Kläger fehle die erforderliche Zuverlässigkeit. Die im Verlauf des Verwaltungs- und Klageverfahrens festgestellten Rechtsverstöße des Klägers rechtfertigten unter Berücksichtigung ihrer Art und Schwere – jedenfalls in ihrer Gesamtheit – die von der Beklagten getroffene Einschätzung der fehlenden Zuverlässigkeit. Der Kläger habe der Beklagten Personal- und Fahrzeugwechsel teilweise verspätet und teilweise gar nicht angezeigt. Auch die Verlegung des Bonner Betriebssitzes sei der Beklagten verspätet angezeigt worden.
Zuvor hatte das Verwaltungsgericht im vorläufigen Rechtsschutzverfahren durch Beschluss vom 27. Juni 1997 eine einstweilige Anordnung dahin erlassen, dass die Beklagte die Wahrnehmung der Aufgaben der Notfallrettung und des Krankentransports durch den Kläger als Unternehmer in dem sich aus der Genehmigung vom 12. September 1995 ergebenden Umfang bis zur Entscheidung über die Klage, längstens bis zum 30. August 2000 zu dulden habe. Den Antrag der Beklagten auf Zulassung der Beschwerde gegen diese Entscheidung hatte das Berufungsgericht durch Beschluss vom 28. August 1997 abgelehnt. Auch nach Ergehen des klageabweisenden Urteils hat die Beklagte Notfallrettung und Krankentransport durch den Kläger weiter geduldet.
Im Berufungsverfahren hat der Kläger in erster Linie seinen Verpflichtungsantrag weiterverfolgt. Hilfsweise hat er die Feststellung begehrt, dass die Ablehnung der beantragten Genehmigung durch die Beklagte rechtswidrig gewesen sei.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung des Klägers durch Beschluss vom 8. Juni 2006 zurückgewiesen. Dazu hat es ausgeführt, der Hauptantrag sei wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, weil nach Ablauf der vierjährigen Frist, für die die Genehmigung nach § 22 Abs. 5 RettG NRW höchstens habe beantragt und erteilt werden können, deren nachträgliche Erteilung dem Kläger keinen Vorteil mehr bringen könne. Der hilfsweise gestellte Feststellungsantrag sei unbegründet. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die beantragte Genehmigung gehabt, weil er im maßgeblichen Genehmigungszeitraum unzuverlässig gewesen sei. Dies folge bereits daraus, dass er der Beklagten im Juni 1995 und abermals im Mai 1996 zum Nachweis der fachlichen Eignung des von ihm eingesetzten Mitarbeiters Thomas K… jeweils eine Kopie eines Ausbildungsnachweises vorgelegt habe, der nicht von den vermeintlichen Ausbildern, Dr. M… und Dr. P…, unterschrieben worden sei. Als Beleg hat sich das Berufungsgericht vorrangig auf die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens 31 Js 158/97 der Staatsanwaltschaft Bonn sowie die dort gemachten Zeugenaussagen berufen. Der Verwertung der in diesem Verfahren erhobenen Umstände stehe nicht entgegen, dass das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei, denn die Einstellung sei lediglich erfolgt, weil die Ausbildungsnachweise infolge der konkreten Art ihrer Herstellung keine Urkunde im Sinne des § 267 StGB gewesen seien. Der Versagungsgrund der Unzuverlässigkeit liege darüber hinaus auch deshalb vor, weil der Kläger, ohne die Beklagte in der gebotenen Weise einzubinden, mehrmals die Standorte der Krankentransportwagen und Rettungswagen in Bonn verlegt und bewusst diffuse Angaben über die jeweiligen Standorte und die dort jeweils vorgehaltenen Krankenkraftwagen gemacht habe. Auch insoweit hat sich das Berufungsgericht vorrangig auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bonn im Verfahren 31 Js 158/97 gestützt.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts rügt der Kläger, die angefochtene Entscheidung beruhe auf Verfahrensfehlern. Die Akte 31 Js 158/97 der Staatsanwaltschaft Bonn sei zu keinem Zeitpunkt zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden. Damit sei der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt worden. Darüber hinaus habe das Berufungsgericht seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt, weil es der Frage, ob die von ihm zugrunde gelegten Tatsachen zutreffend seien, nicht ausreichend nachgegangen sei.
Die Beklagte hält die Beschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde des Klägers ist begründet. Der angefochtene Beschluss beruht auf einem Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Das Berufungsgericht hat bei der Entscheidung über den Hilfsantrag den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO verletzt. Der Beschluss ist daher insoweit aufzuheben und der Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 VwGO an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung zum Hilfsantrag – die Entscheidung zum Hauptantrag greift die Beschwerde nicht an – tragend auf Erkenntnisse gestützt, die es aus dem Ermittlungsverfahren 31 Js 158/97 der Staatsanwaltschaft Bonn gewonnen hat. Das gilt sowohl für den Vorwurf, im Falle des Mitarbeiters Thomas K… seien falsche Ausbildungsnachweise vorgelegt worden, als auch für den Vorwurf, der Kläger habe den Standort seiner Fahrzeuge in Bonn mehrfach ohne ordnungsgemäße Information der Beklagten verlegt. Auf diese Vorwürfe stützt sich die Annahme der Unzuverlässigkeit des Klägers im Genehmigungszeitraum.
Der Kläger rügt zu Recht, dass er keine hinreichende Gelegenheit gehabt habe, zu den aus dem Verfahren 31 Js 158/97 der Staatsanwaltschaft Bonn gewonnenen Beweisergebnissen Stellung zu nehmen. Die Ermittlungsakte selbst ist nicht Gegenstand des Rechtsstreits gewesen. Das Berufungsgericht hat seine Erkenntnisse aus einem fotokopierten, aus zwei Heftungen bestehenden Aktenauszug gewonnen, den die Beklagte angefertigt und mit Schreiben vom 29. März 2006 dem Berufungsgericht übersandt hatte. Allerdings hat der Berichterstatter nach Eingang verfügt, Kopie des Übersendungsschreibens dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zuzuleiten mit dem Zusatz: “Nach telefonischer Auskunft der Staatsanwaltschaft Bonn ist die Akte 31 Js 158/97 inzwischen vernichtet worden.” Regelmäßig ist es nach Zugang einer solchen Mitteilung Sache der benachrichtigten Partei, sich durch Akteneinsicht Kenntnis vom Inhalt der vom Gegner vorgelegten Unterlagen zu verschaffen. Verzichtet sie darauf, so kann sie anschließend einer Verwertung dieses Inhalts nicht eine Gehörsverletzung entgegenhalten. Dieser Grundsatz vermag jedoch vorliegend aus mehreren Gründen die Verwertung der Ermittlungsakte ohne eine Akteneinsicht des Klägers nicht zu rechtfertigen.
Zunächst fehlt schon jeder Beleg dafür, dass dem Klägervertreter die Mitteilung über den Akteneingang überhaupt zugegangen ist. Der weitere Ablauf legt Zweifel daran zumindest nahe. Nach Ergehen des angefochtenen Beschlusses hat der neue Prozessbevollmächtigte des Klägers zunächst lediglich Antrag auf Einsicht in die Gerichtsakte erster und zweiter Instanz gestellt. Erst auf telefonische Anfrage der Berichterstatterin hat er ausweislich eines von ihr darüber gefertigten Vermerks erklärt, er begehre Akteneinsicht bezüglich der Gerichtsakte und der zuletzt auszugsweise beigezogenen Ermittlungsakte, mithin der “Beiakte Heft 16”. Die Notwendigkeit dieser Nachfrage deutet darauf hin, dass der Klägerseite zuvor der Eingang der Ermittlungsakte nicht zur Kenntnis gelangt war.
Diese Frage bedarf hier jedoch keiner abschließenden Klärung. Selbst wenn unterstellt wird, dass die Nachricht vom Akteneingang dem Klägervertreter zugegangen ist, durfte das Gericht die beigezogene Ermittlungsakte nicht ohne einen entsprechenden eindeutigen Hinweis an den Kläger zur tragenden Grundlage seiner Entscheidung machen. Das ergibt sich aus folgenden Umständen: Zum einen hatte der Klägervertreter die zuvor beigezogenen äußerst umfangreichen Beiakten 1 bis 13 sämtlich zur Einsichtnahme in seine Kanzlei übersenden lassen. In Kenntnis dessen hat das Berufungsgericht die Beiakte 14 ohne erneuten Antrag mit Verfügung vom 19. September 2005 zur Einsichtnahme in die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten übersandt. Dem Gericht war mithin bewusst, dass der Klägervertreter Akteneinsicht in alle entscheidungsrelevanten Beiakten wünschte. Wenn er gleichwohl hinsichtlich des Ermittlungsvorgangs 31 Js 158/97 der Staatsanwaltschaft Bonn auf einen Akteneinsichtsantrag verzichtete, so lag auf der Hand, dass er diesen Vorgang für nicht entscheidungsrelevant hielt. Dafür gab es ohne weiteres nachvollziehbare Gründe. Das Ermittlungsverfahren war in vollem Umfang nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Für den von ehemaligen Mitarbeitern des Klägers aufgebrachten Verdacht des Abrechnungsbetrugs hatten sich keinerlei Anhaltspunkte gefunden. Der Tatbestand der Urkundenfälschung war nicht erfüllt, weil die umstrittenen Ausbildungsbescheinigungen keine Originalurkunden waren. Daher erfolgte auch keine anschließende Klärung, wer diese Bescheinigungen hergestellt hatte, in welchem Umfang dies geschehen war und ob der Kläger in diese Vorgänge verwickelt war. Dem Gericht lag auch nicht die Komplettakte vor. Es handelte sich um einen von der Beklagten gefertigten Aktenauszug in Kopie. Zudem hatten sich die den Kläger belastenden Aussagen ehemaliger Mitarbeiter auch in dem von diesem Ermittlungsverfahren abgetrennten Verfahren wegen fahrlässiger Tötung bzw. unterlassener Hilfeleistung nicht als tragfähig erwiesen; von diesen Vorwürfen ist der Kläger freigesprochen worden.
Auch der bisherige Verfahrensablauf bot keine Hinweise darauf, dass gerade die Vorgänge, die Gegenstand des Ermittlungsverfahrens 31 Js 158/97 der Staatsanwaltschaft Bonn gewesen waren, nunmehr prozessentscheidend sein könnten. Der angefochtene Beschluss hält ausdrücklich fest, dass die zuständigen Behörden und das Verwaltungsgericht bisher auf die angeführten Gesichtspunkte nicht oder nicht im vorstehend erörterten Umfang zurückgegriffen hätten. Dazu hält er zwar zutreffend fest, dass die Gründe hierfür keiner Klärung bedürften. Er verkennt aber die Hinweispflicht des Gerichts, wenn die Entscheidung nunmehr auf Gründe gestützt werden soll, die im bisherigen Verfahren keine oder jedenfalls keine gravierende Rolle gespielt haben. Die Notwendigkeit eines solchen Hinweises drängte sich hier besonders auf, nachdem der Klägervertreter auf die Anhörung zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO auf seinen Schriftsatz vom 10. Februar 2006 verwiesen und hinzugesetzt hatte: “Sollte der Senat entgegen den dortigen Ausführungen neben dem Hauptantrag auch den Fortsetzungsfeststellungsantrag für unbegründet halten, so wird um eingehenden richterlichen Hinweis gebeten.” Der Verweis auf den Schriftsatz vom 10. Februar 2006 zeigte unmissverständlich, dass der Kläger im Hinblick auf die Bedeutung des erst danach bei Gericht eingegangen Auszugs aus der Ermittlungsakte völlig arglos war.
Hiernach durfte das Berufungsgericht seine Entscheidung nicht auf die aus der Ermittlungsakte 31 Js 158/97 der Staatsanwaltschaft Bonn gewonnenen Erkenntnisse stützen, ohne den Kläger zuvor auf deren Relevanz hinzuweisen. Unter diesen Umständen bedarf keiner näheren Erörterung, ob angesichts der Komplexität des Sachverhalts die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht ohnehin angemessener gewesen wäre. So drängt sich etwa die Frage auf, ob den damaligen Mitarbeitern des Klägers berufliche Qualifikationen wie die des Rettungssanitäters, die sie mit Hilfe der umstrittenen Ausbildungsnachweise erlangt haben, später wieder aberkannt worden sind.
Die Zurückverweisung der Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO gibt dem Berufungsgericht die Möglichkeit, dem Klägervertreter auch den ersten Teil des Auszugs aus der Ermittlungsakte 31 Js 158/97 (Beiakte XXIII zu BVerwG 3 B 98.06) zur Kenntnisnahme zuzuleiten. Auf seinen mit der Beschwerde gestellten Einsichtsantrag hat das Berufungsgericht ihm nämlich nur den zweiten Teil (Heft 16 = Beiakte XX zu BVerwG 3 B 98.06) übersandt ohne den vom Oberverwaltungsgericht nicht nummerierten ersten Teil, in dem sich die für die angefochtene Entscheidung maßgebenden Unterlagen befinden.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 2, § 52 Abs. 1 GKG.
Unterschriften
Kley, van Schewick, Dr. Dette
Fundstellen